Ein Interview zur Rolle und Funktion aktueller Protestbewegungen mit Dr. Martin Florack zeigt: Aufmerksamkeitsstark heißt nicht durchsetzungsstark

Dr. Martin Florack, NRW School of Governance & Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen (Quelle: Privat)

„et“: Was unterscheidet die NRW School of Governance vom akademischen Betrieb einer klassischen Universität?

Florack: Wir wollen den universitären Masterstudiengang Politikmanagement ergänzen und dabei über die akademische Ausbildung hinausgehen. Wir ergänzen das Studium durch Praxisorientierung und arbeiten mit Dritten zusammen. Wir wollen mit unseren Analysen und Empfehlungen in öffentliche Institutionen hineinwirken.

Wir adressieren unsere Forschung an Verwaltung, Parteien und an die Exekutive. Im Laufe der Jahre haben sich unser Programm und unsere Leistungen entwickelt und sind deutlich gewachsen. Inzwischen gibt es auch einen Weiterbildungsstudiengang für Menschen, die sich für Politik interessieren und dies berufsbegleitend für ein Jahr vertiefen wollen. Es gibt 16 Studierende pro Jahr sowie viele Forschungsvorhaben. Neben einem personellen Kernbestand gibt es viele Mitarbeiter mit Kooperationsstatus sowie eine wechselnde Gastprofessur.

Neuartige Form des politischen Wandels

„et“: Ihre Arbeit bewegt sich an der Schnittstelle von Wissenschaft und aktueller Politik, auch von Politik außerhalb der Parlamente. Wie beurteilen Sie die Wirksamkeit von Macht und Legitimität bei Initiativen?

Florack: Wir haben eine neuartige Form des politischen Wandels. Wir stellen fest, dass sich immer weniger Menschen vorstellen können, in festen Organisationsstrukturen langfristig aktiv zu ein. Aber sie sind bereit, sich kurzfristig, projektbezogen oder aktionsorientiert zu engagieren. Insofern passen die Formate der Protestkultur auch gut zum aktuellen Nachfrageprofil. Mit dieser Art von Profil gewinnt man schnell große Aufmerksamkeit. Vor allem jüngere Menschen haben die neuen Regeln verstanden. Um Aufmerksamkeit und positive Wertschätzung zu erzielen, braucht es andere Aktionsformate als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Insofern drücken sie die richtigen Knöpfe.

„et“: Wenn ich Sie richtig verstehe, rückt die Protestkultur von den Rändern verstärkt in die Mitte der Gesellschaft. Lässt sich dieser Wandel messen?

Florack: Die Messung der Wirkung fällt schwer. Präziser beschreiben lässt sich jedoch die Rezeption der Wirkung. Wir stellen überrascht fest, dass die Wirkung der aktuellen Protestkultur groß ist. Ob sich das automatisch übersetzt in Macht oder Einfluss ist fraglich und macht die Defizite der kampagnenorientierten Protestkultur deutlich. Sie wird nicht automatisch politikfähig. Das heißt, diese neuen und jungen Formen der politischen Organisation können zumindest derzeit nicht direkt politisch konstruktiv wirken.

„et“: Können Sie das konkretisieren?

Florack: Nehmen wir das Beispiel des Hambacher Forstes. Hier wird die dialektische Struktur der Protestkultur besonders deutlich: Einerseits beteiligten sich die Kohlegegner aktiv am Kohlekompromiss und arbeiteten in der Kommission Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung bis zur Verabschiedung der Empfehlungen mit. Andererseits wurden die Proteste am Braunkohlentagebau Hambach massiv fortgesetzt. Dialog und Protest gehen nicht immer zusammen.

Die Aktionen verweisen darauf, dass sich die Anti-Kohle-Bewegung nach dem Kohlekompromiss neu organisieren und neu solidarisieren muss, wenn sie ihre gewonnene Aufmerksamkeitsstärke stabilisieren will. Eine Option war die Weiterführung der Protestaktionen im Hambacher Forst mit dem Ergebnis, dass die Rodung nun nicht mehr fortgesetzt wird. Mit dem Erreichen dieses Ziels entfiel ein aufmerksamkeitsstarkes Symbol und die Proteste verlagerten sich auf die aus Sicht des örtlichen Bergbauunternehmens erforderlichen Umsiedlungen.

„et“: Dann waren die Auseinandersetzungen um den Hambacher Forst eine Art Überlebenskampf der Protestkultur?

Florack: Die Mitglieder der Kohlekommission hätten jedenfalls erkennen müssen, dass eine vollständige Zustimmung der Kohle-Gegner zum Kohlekompromiss den Verlust ihrer Unterstützer zur Folge gehabt hätte. Dieses Dilemma führt bei denen, die klassische Formate in der Politik gewohnt sind, zu Irritation und Provokation. Der Unwille besteht zu Recht: Man kann nicht eine Vereinbarung unterschreiben, aber eigentlich etwas anderes – hier den noch schnelleren Ausstieg aus der Kohle – wollen. Ein Teil der Protest- und speziell der Anti-Kohle-Bewegung will Dinge, die nicht vereinbar sind.

„et“: Und welcher Weg führt aus diesem Dilemma?

Florack: Die genannten Gruppen sehen eine Möglichkeit, dieses Dilemma zu überwinden darin, Verantwortung wieder an die Politik zu delegieren. Die Botschaft der Protestbewegungen lautet, wir erheben nur die Forderung und ihr müsst handeln. Das macht auch die Adressierung so schwierig. Aber Politik braucht Ansprechpartner, darauf ist Politik angewiesen. Es ist wahnsinnig schwer, Gruppen wie Fridays for Future in konkrete Entscheidungsprozesse einzubinden. Bei den Gelbwesten in Frankreich gab es Sprecher, die jedoch von den eigenen Leuten delegitimiert wurden. Der Vorwurf an die eigenen Leute lautet dann: Ihr sprecht nicht für uns als gesamte Gruppe oder Bewegung. 

„et“: Es wird aber immens großer Druck aufgebaut.

Florack: Ja, es wird eine hohe Aufmerksamkeit generiert. Aber Aufmerksamkeit und Bedeutung sind zwei völlig unterschiedliche Schuhe. Wer ist schon gegen Klimaschutz. Umstritten sind aber die Wege zu mehr Klimaschutz. Die Politik müsste für die Umsetzung geeigneter Strategien und Maßnahmen sorgen. Aber dort herrscht Unsicherheit. Bei den Parteien sogar eine gewisse Unlust. Man streitet deshalb ersatzweise über die kleinteiligen Instrumente: Emissionshandel oder CO2-Steuer, Regulierungen für den Wärmemarkt oder die Höhe der Elektro-Mobil-Prämie. In der Öffentlichkeit findet das große Thema Resonanz, aber die Übersetzung in praktische Maßnahmen wird zerredet. 

Wir stellen überrascht fest, dass die Wirkung der aktuellen Protestkultur groß ist. Ob sich das automatisch übersetzt in Macht oder Einfluss ist fraglich und macht die Defizite der kampagnenorientierten Protestkultur deutlich. Sie wird nicht automatisch politikfähig. Das heißt, diese neuen und jungen Formen der politischen Organisation können zumindest derzeit nicht direkt politisch konstruktiv wirken.“

Dr. Martin Florack, NRW School of Governance & Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen

„et“: Aufmerksamkeitsstarker Protest in der Öffentlichkeit statt komplexe Entscheidungsprozesse in den Parlamenten?

Florack: Aufmerksamkeit basiert in der Regel auf der Grundlage von wirkungsvoll artikulierten oder inszenierten Gruppen- und Individualinteressen. Ein Teil der Interessensartikulation bedient sich jedoch weder der klassischen politischen Mehrheitsbeschaffung noch der aktuellen Protestbewegungen. Ich spreche von einem dritten Weg, dem Klageweg. Organisationen wie die Deutsche Umwelthilfe sind so mächtig geworden, weil sie nicht auf den politischen Betrieb einwirken, sondern weil sie den Klageweg beschreiten. Ein Gericht kann nicht ausweichen oder sich zurückziehen. Es wird ein Urteil gefällt. Eine zunehmende Zahl von Interessensgruppen setzt auf diese Wege der Durchsetzung.

Das ist eine überaus interessante Entwicklung. Es wird nicht mehr diskutiert, sondern geklagt. Das ist nicht ganz neu, sondern hat Vorläufer in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Es wiederholt sich also ein Muster. Das Besondere an den klagebereiten Interessensgruppen ist: Hier wird nicht nur Aufmerksamkeit generiert, sondern auch Bedeutsamkeit. Dazu verhält sich die Politik derzeit abwartend und indifferent.

Aber die Politik muss reagieren, das Aufmerksamkeitspotenzial sowie die Auswirkungen zum Beispiel auf die Verkehrs- und Umweltpolitik sind hoch. Dahinter verbergen sich auch machtpolitische Überlegungen. Die Politik wird solange getrieben, solange sie nicht versucht, die auf dem Klageweg angesprochenen Probleme auf andere Art zu lösen und Alternativen anbietet.

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