Versorgungssicherheit: Gemeingut von Verfassungsrang

Der beschleunigte Ausstieg aus der Kohleverstromung dient dem Klimaschutz, darf aber die Versorgungssicherheit nicht gefährden. Eine verlässliche Energieversorgung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Gemeingut von Verfassungsrang mit überragender Bedeutung für das Gemeinwohl [21]. Es ist eine „Leistung, deren der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedarf“ [22]. Bürger und Unternehmen sind auf eine sichere Versorgung mit Energie angewiesen.

Die Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit ist Teil staatlicher Daseinsvorsorge. Der Einzelne kann für eine verlässliche Energieversorgung nicht selbst sorgen, ist hierauf aber in einer modernen Industriegesellschaft angewiesen. Garant dieser Versorgungssicherheit ist der Staat [23]. Auch die Europäische Union ist der Energieversorgungssicherheit verpflichtet [24]. Der EuGH sieht die Versorgung mit Energie als „wesentlich (...) für die Existenz eines Staates“ und das „Überleben seiner Bevölkerung“ an [25]. Gleichwohl liegt die primäre Gewährleistungsverantwortung bei den Mitgliedstaaten.

Angeregt insbesondere durch die europäische Rechtsentwicklung wird Energie in Europa heute durch konkurrierende Private produziert und den Verbrauchern zur Verfügung gestellt. Erfüllen Private eine öffentliche Aufgabe wie diejenige einer verlässlichen Versorgung mit Energie, trifft den Staat die Verantwortung, eine ordnungsgemäße Versorgung sicherzustellen [26]. Dieser Gewährleistungsverantwortung kann sich der Staat nicht entledigen. Er hat einen Rechtsrahmen zu schaffen, der eine verlässliche Energieversorgung sicherstellt [27]. Er muss Versorgungskrisen vorbeugen und Vorkehrungen treffen, um diese – sollten sie doch auftreten – bestmöglich zu bewältigen [28].

Der beschleunigte Ausstieg aus der Kohleverstromung führt zu neuen Anforderungen an eine sichere Energieversorgung. Mit dem zunehmenden Ausbau der erneuerbaren Energien ist die Stromerzeugung in Deutschland nicht mehr in gleicher Weise planbar wie zuvor. Je nachdem, ob der Wind weht und die Sonne scheint, schwankt die Einspeiseleistung der Anlagen, die Strom aus erneuerbaren Energien erzeugen. Zudem wird mit dem Ausstieg aus der Kernenergie bis Ende 2022 weitere gesicherte Kraftwerksleistung stillgelegt.

Der Gesetzgeber hat die gebotenen Mindeststandards für eine verlässliche Energieversorgung in verfassungskonformer Weise zu definieren. Er muss festlegen, welchen Grad an Versorgungssicherheit wir künftig benötigen und deswegen gewährleisten. Gegenwärtig wird in Deutschland eine verlässliche Energieversorgung auf einem hohen Niveau gewährleistet [29]. Diesen Standard wird Deutschland auch künftig fortschreiben wollen.

Sodann muss der Gesetzgeber seine Gewährleistungsentscheidungen fortlaufend überprüfen und anpassen. Versorgungssicherheit kann der Staat für die Zukunft nur garantieren, wenn er die weitere Entwicklung der Energieversorgungssysteme prognostiziert und auf dieser Grundlage Planungsentscheidungen trifft. Diese Entscheidungen beruhen auf Prognosen, die bei einem so grundlegenden Transformationsprozess wie der Energiewende mit großen Unsicherheiten verbunden sind. Weder der künftige Strombedarf noch der künftige Stromverbrauch lassen sich präzise vorhersagen. Die Wende bleibt ein Wagnis.

Das Recht muss auf diese Unsicherheiten reagieren. Dies gehört zum Kern des staatlichen Gewährleistungsauftrags. Treten die Prognosen nicht ein, entspricht die prognostizierte Wirklichkeit nicht der Realität, verfehlt der Plan seine Ziele, muss der Plan angepasst werden. Der Gesetzgeber kann den Plan korrigierend fortschreiben; die Verwaltung hat den Plan anpassend auszulegen und anzuwenden. Die Regelung ist nicht verfassungswidrig, dem Gesetzgeber ist aber aufgegeben, sie an die tatsächliche Entwicklung anzupassen [30]. Er hat Mechanismen zu schaffen, die diese Fortentwicklung des Plans ermöglichen [31].

Die Planungsentscheidungen sind deshalb unter einen Korrekturvorbehalt zu stellen, um nachsteuern zu können, wenn die Ziele einer nachhaltigen Energiewirtschaft – Klimawirksamkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit der Energieversorgung – gefährdet sind [32]. Geboten sind „Haltepunkte“, an denen die Entwicklung überprüft, die Realität mit den Prognosen abgeglichen wird.

Wirtschaftlichkeit: Wettbewerb und Beihilfenrecht

Energie soll zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung gestellt werden. Verbraucher und Unternehmer tragen letztlich über die Strompreise die Kosten der Energiewende. Die Wettbewerbsfähigkeit insbesondere energieintensiver Unternehmen hängt nicht zuletzt von den Energiepreisen ab. Wettbewerbsfähige Strompreise sollen in einem wettbewerblichen, fairen und offenen Verfahren, d.h. auf funktionierenden Energiemärkten, erzielt werden. Ein funktionsfähiger Wettbewerb ist Ziel und Instrument der Energiewende. Er dient der Freiheitsentfaltung der Grundrechtsträger, sieht das Technologie- und Preiswagnis grundsätzlich in der Hand der Unternehmer, soll gleichzeitig technologieneutral Innovationen fördern und dadurch die technologische Entwicklung vorantreiben. Im Wettbewerb Privater sollen kostengünstige Preise erzielt werden.

Die Strompreise in Deutschland aber bestimmt heute in weiten Teilen der Staat [33]. An die Stelle des Wettbewerbs Privater auf den Energiemärkten tritt zunehmend eine staatliche Regulierung, die den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Steigerung der Energieeffizienz, die Gewährleistung der Versorgungssicherheit und den Ausbau der Netze zu steuern sucht. Dieser Konflikt von Regulierungsrecht und Wettbewerb ist zu klären. Zu beantworten ist die Frage, wie viel Regulierung notwendig und wie viel Wettbewerb möglich ist, um die Kernziele der Energiewende, den Klimaschutz, die Versorgungssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit der Energiepreise, zu erreichen. Es ist an der Zeit, das System der Steuern, Abgaben, Entgelte und Umlagen in der Energiewirtschaft in ihren Einzelpositionen und ihrer Kumulationswirkung grundlegend zu überarbeiten. Dies wird auch über die Innovationsoffenheit des Energierechts entscheiden.

Einen fairen Wettbewerb der Marktteilnehmer sichert auf europäischer Ebene das Beihilfenrecht. Diese europarechtlichen Vorgaben sind bei den Maßnahmen zum beschleunigten Ausstieg aus der Kohleverstromung zu achten.

Eigentümerfreiheit und Vertrauensschutz

Beschließt der Gesetzgeber einen beschleunigten Ausstieg aus der Kohleverstromung, hat er die Grenzen des Verfassungsrechts zu wahren. Der Gesetzgeber hat die Individualinteressen der Eigentümer und die Belange der Allgemeinheit zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Zu den betroffenen Individualinteressen gehört die Eigentümerfreiheit der Kohlekraftwerksbetreiber.

Eine beschleunigte Stilllegung der Kraftwerke nimmt den Kraftwerksbetreibern das Nutzungsrecht an ihren Anlagen, greift dadurch in ihre Eigentümerfreiheit ein. Die Intensität dieses Eingriffs hängt insbesondere davon ab, auf welchem Weg und zu welchem Zeitpunkt die Kraftwerke stillgelegt werden. Je früher ein Kraftwerk abgeschaltet wird, desto mehr Treibhausgasemissionen werden vermieden. Umgekehrt schont der staatliche Eingriff die Kraftwerkseigentümer, je später die Kraftwerke stillgelegt werden. Auch die neben dem Klimaschutz in die Abwägung einzubeziehenden Gemeinwohlbelange – Versorgungssicherheit, Strukturwandel, Kosten – werden durch den Zeitpunkt der Stilllegung beeinflusst.

Der Kraftwerkseigentümer vertraut auf die Betriebsgenehmigung für seine Anlage, die ihm ein Nutzungsrecht verleiht [34]. Die Betriebsgenehmigung für Kohlekraftwerke allerdings bestimmt keine Grenzwerte für die Emissionen von CO2 [35]. Insofern vertrauen die Kraftwerksbetreiber auf die Regulierung durch das europäische Emissionshandelssystem. Dieses belässt dem Kohlekraftwerksbetreiber das Nutzungsrecht an seiner Anlage, wird aber stetig die Kosten für die Kohleverstromung erhöhen, soll dadurch mittelfristig die Nutzung des Kraftwerks unwirtschaftlich werden lassen und somit letztlich die Nutzung beenden. Der Kraftwerksbetreiber kennt die Logik des Systems und richtet sich darauf ein.

Der Emissionshandel schafft einen Vertrauenstatbestand für ein nach und nach schwindendes Recht, einen Anspruch auf schonenden Übergang, nicht auf Bestand. Dieses Handelssystem hat auch die Bundesrepublik ins Werk gesetzt und wird ihm auch in der Zukunft folgen. Werden Kohlekraftwerke vorzeitig stillgelegt, wird für die betroffenen Unternehmen die Kohleverstromung jenseits dieses Systems beendet. Damit wird das in den Emissionshandel gesetzte Vertrauen der Anlagenbetreiber durchbrochen. Dieses ist in der Zeit gebunden. Die nächste Handelsperiode reicht bis zum Jahr 2030. Sie ist durch die reformierte Emissionshandelsrichtlinie rechtlich bestimmt, begründet insoweit einen zeitlich determinierten Vertrauenstatbestand.

2 / 3

Ähnliche Beiträge