Abwägungsfragen

Es gibt mithin Zielkonflikte bei der Treibhausgasminderung. Geschwindigkeit und Belastungen müssen sorgfältig gegen die jeweiligen klimapolitischen Vorteile von Maßnahmen abgewogen werden, beispielsweise: Was ist bis wann für wen machbar? Welche Voraussetzungen muss der Staat schaffen, um kritische geo- und industriepolitische oder soziale Verwerfungen zu vermeiden? Wie kann die Akzeptanz der Energiepolitik nachhaltig gesichert werden?

Interessant ist nun die Frage, wann diese und weitere Abwägungsfragen in den klimapolitischen Diskurs integriert werden.  Zwei Paradigmen stehen sich hier gegen über: Formulierung ehrgeiziger Punkt-Ziele „top-down“ durch die Regierung ohne unmittelbare, ergebnisoffene gesellschaftliche Rückkopplung, oder die Entwicklung eines Klimakonsenses über Ziel-Korridore und Maßnahmen im gesellschaftlichen Dialog.

Im ersten Fall werden die Maßnahmen von den Zielen weitgehend entkoppelt. Denn auf eine direkte Implementierung des Punkt-ziels über eine nationale Rationierung von Kohle, Öl und Gas wird – aus guten Gründen –  verzichtet. Stattdessen werden die gesellschaftlichen Konflikte im Zeitverlauf anhand jeder Einzel-Maßnahme ausgetragen, wobei die Differenz zu dem vorab ausgerufenen Planziel als Legitimationskulisse des Staates herangezogen wird.

Der aktuelle Umgang mit der Frage der Stilllegung von weiteren Braunkohlekraftwerken ist ein Musterbeispiel für diesen Politikstil, aber auch für die Nachteile, die mit diesem Ansatz verbunden sind. Besonders augenfällig sind die mangelnde Stetigkeit und Berechenbarkeit des politischen Handelns, die sich daraus ergebenden Zweifel an verlässlichen Investitionsbedingungen am Standort Deutschland sowie der ständige gesellschaftliche Konflikt. Auch für die Glaubwürdigkeit des politischen Systems erscheint dieses Vorgehen eher abträglich.

Was der bisherigen Energie- und Klimapolitik somit fehlt, ist die vorausschauende Integration von Abwägungen bezüglich Zielkonflikten und Unsicherheiten bezüglich zukünftiger globaler Rahmenbedingungen. Derartige Überlegungen spielen bei der Zielfestsetzung kaum eine Rolle, und werden der Vorstellung von der Bedeutung einer (zumindest rhetorischen) „Vorreiterrolle“ untergeordnet. Diese allerdings ist, wie sich in den vergangenen Jahren gezeigt hat, vor allem in den Ankündigungen ehrgeizig, weniger in den Ergebnissen; und über ihre tatsächliche Wirkung auf globale „Nachahmer Staaten“ mag trefflich gestritten werden. Ohne Korrekturen im Umgang mit den Klimazielen für 2030 droht die Fortsetzung solcher Entwicklungen auch im kommenden Jahrzehnt.

Dialog statt Dirigismus

Um spätere Zielkonflikte wirksam zu antizipieren und zu integrieren, wäre ein breiter gesellschaftlicher Dialog über die möglichen Veränderungspfade – und damit auch über die Minderungsziele im Zeitablauf – erforderlich.

Auch könnte es hilfreich sein, die Wirtschaft verstärkt aktiv in den Prozess einzubinden. Ein Beispiel: Die enormen Verbesserungen beim ökologischen Fußabdruck der chemischen Industrie in den 1970er und 1980er Jahren wurden in einem solchen gemeinsamen Prozess zwischen Politik und Industrie erarbeitet. Im Dialog wurde auf Wirksamkeit, Zielgenauigkeit und Praktikabilität der staatlichen Maßnahmen abgestellt und sinnvolle Anpassungszeiträume abgeleitet. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Flüsse sind viel sauberer geworden, und die chemische Industrie floriert in Deutschland nach wie vor.

Auch bei der Treibhausgasminderung könnte ein systematischer Dialog zwischen Politik und Wirtschaft zu tragfähigen und vernünftigen Lösungen führen. Das gilt insbesondere für die Entwicklung der vom EHS erfassten Sektoren. Ob (und um wie viel) Deutschland hier stärker mindern will als im europäischen Marktgleichgewicht, ist aktuell das zentrale politische Thema. Die Voraussetzungen und Folgen eines solchen deutschen Anspruchs könnten im Dialog umfassend und sachgerecht bewertet werden, beispielsweise auch bezüglich der strom- und gasnetzseitigen Anforderungen.

Effizienz und Akzeptanz

Für eine erfolgreiche Treibhausgasminderung in der Welt wie in Deutschland ist Effizienz wichtig, aber Akzeptanz entscheidend. Akzeptanz entsteht durch Dialog, nicht durch apodiktische Vorgaben. Deutschland hat gute Erfahrungen mit einem partnerschaftlichen Umgang von Staat und Wirtschaft gesammelt, gerade im Bereich des Umweltschutzes. Die nächste Bundesregierung könnte einen solchen Dialog in den Mittelpunkt ihrer nationalen Klimaschutzpolitik rücken. Der im Sondierungspapier angekündigte Umgang mit der 2020er Zielverfehlung ist hierfür vielleicht ein Anfang.

Wenn eine derartige Kooperation in Deutschland gelänge, so gäbe dies ein wichtiges Beispiel für den globalen Klimaschutz. Denn effektive Treibhausgasverringerung ist überall auf der Welt mit Verteilungskonflikten verbunden, die manchenorts vermutlich sogar noch ausgeprägter ausfallen als hierzulande. Der erfolgreiche Umgang mit diesen Konflikten ist also der eigentliche Lackmus-Test für eine nachhaltige „Vorreiterrolle“.

Marc Oliver Bettzüge

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