Prof. Armin Schnettler: In den aktuellen deutschen Netzentwicklungsplänen Strom und Gas werden Anlagen in der Größe bis 10 GW diskutiert. Für eine funktionierende Wasserstoffwirtschaft erwarten wir aber eher einen deutlich zweistelligen Gigawatt-Bereich.

Prof. Armin Schnettler: In den aktuellen deutschen Netzentwicklungsplänen Strom und Gas werden Anlagen in der Größe bis 10 GW diskutiert. Für eine funktionierende Wasserstoffwirtschaft erwarten wir aber eher einen deutlich zweistelligen Gigawatt-Bereich. (Bildquelle: Anja Rottke/VDE)

Herr Prof. Schnettler, beim VDE Tec Summit 2020 haben Sie in Ihrer Keynote gefordert, die Energieversorgung weltweit von fossilen auf erneuerbare Energien umzustellen. Wie kann das gelingen angesichts eines weltweit steigenden Strombedarfs?

Schnettler: Klar ist: Zur Dekarbonisierung gibt es keine Alternative. Dabei spreche ich nicht nur von der Energiewirtschaft, die rund 40 % der weltweiten CO2-Emissionen verursacht, sondern auch von anderen Sektoren, wie Industrie und Mobilität. Um auch den CO2-Fußabdruck beispielsweise der Chemie- oder Stahlindustrie, des Schwerlastverkehrs oder der Schifffahrt in Richtung Null zu bringen, hilft uns die Sektorenkopplung. Damit nutzen wir erneuerbare Energien auch dort, wo die Elektrifizierung an ihre Grenzen kommt. Eine gute Möglichkeit ist es hier, den Ausbau erneuerbarer Energien in wind- und sonnenreichen Ländern wie Chile und Marokko voranzutreiben.

Einer Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung soll der Wasserstoffwirtschaft zukommen, eine Technologie, die Sie immer wieder propagieren. Was sind hier die aktuellen Herausforderungen?

Schnettler: Richtig, die Wasserstoffwirtschaft sehe ich als Schlüssel zur Sektorenkopplung. Denn Wasserstoff kann Gasturbinen direkt antreiben oder in Brennstoffzellen eingesetzt werden. Außerdem kann es weiterverarbeitet in Form von Methanol, Ammoniak oder als synthetischer Treibstoff in der Mobilität, als Dünger oder Ausgangsstoff für die Chemieindustrie zum Einsatz kommen. Zur Dekarbonisierung ist natürlich grüner Wasserstoff notwendig, der typischerweise durch Elektrolyse von Wasser gewonnen wird – gespeist mit Strom aus erneuerbaren Energien. Der größte Teil der aktuell rund 80 Mio. t des weltweit verbrauchten Wasserstoffs stammt aus fossilen Quellen mit erheblicher Klimawirkung. Wir erwarten bis zum Jahr 2030 ein Wachstum der Wasserstoffwirtschaft um rund 20 Mio. t. Dieses Wachstum sollte im Hinblick auf den Klimawandel zu einem Großteil aus grünem Wasserstoff bestehen. Dabei sind die Vorausset­zungen für einen wirtschaftlichen Betrieb die Preise für Strom aus erneuerbaren Energien, die Auslastung der Anlagen und deren Investitions- und Betriebskosten – und natürlich die Regulierung in den jeweiligen Ländern, also welche politischen Rahmenbedingungen finden die Abnehmer des Wasserstoffs oder der weiteren Produkte vor. Daher ist jetzt die Skalierung der Wasserstofferzeugung auf ein industrielles Niveau in den Bereich von 100 MW oder sogar in den Gigawatt-Bereich entscheidend. Siemens hat schon seit vielen Jahren industrielle Anlagen der Megawatt-Klasse im Feld. Für die weitere Skalierung sind Pilotanlagen in der 10-MW-Klasse und größer sehr wichtig, um schnell Betriebserfahrung zu sammeln und Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit sowie Lebensdauer zu testen und zu optimieren.

Entwicklungsprojekte wie Hybridge und Element Eins planen im unteren dreistelligen Megawatt-Bereich, perspektivisch sind Projekte im Gigawatt-Bereich notwendig. Wann stehen solche großtechnischen Lösungen zur Verfügung?

Schnettler: Wir sind auf einem guten Weg zu großindustriellen Anlagen. Bei Siemens Energy skalieren wir die Leistungsklasse unseres Portfolios alle vier bis fünf Jahre etwa um den Faktor Zehn. Im Moment sind Anlagen der 10-MW-Klasse im Feld und wir entwickeln aktuell Anlagen für über 100 MW. Eine wichtige Motivation für größere Anlagen sind die dadurch sinkenden Gestehungskosten für grünen Wasserstoff.

Außer großtechnischen Lösungen werden auch dezentrale Power-to-X-Konzepte erprobt, beispielsweise in einer Wohn­anlage in Augsburg. Wie beurteilen Sie diese Konzepte?

Schnettler: Augsburg ist ein gutes Beispiel für Energiespeicherung, Re-Elek­trifizierung und Sektorenkopplung von Strom und Wärme. Die Re-Elektrifizierung ist ein langfristiges Ziel der Wasserstoffwirtschaft. Aktuell stehen aber eher Anwendungen zur Dekarbonisierung der Sektoren Industrie und Mobilität an. Letztlich geht es um die Zahlungsbereitschaft für die jeweilige Anwendung.

Vor allem Unternehmen der Gaswirtschaft setzen nicht nur auf grünen, sondern auch auf blauen Wasserstoff, also auf die Herstellung von Wasserstoff über Dampfreformierung von Erdgas mit anschließender CO2-Abscheidung/Speicherung. Wie beurteilen Sie dieses Konzept? Ist damit langfristig eine CO2-freie Energieversorgung möglich?

Schnettler: Grüner Wasserstoff wird langfristig immer bedeutender werden, vor allem bei wachsender Verfügbarkeit von erneuerbaren Energien. Blauer Wasserstoff ist als Brückentechnologie für diesen Weg geeignet. Parallel zu seiner Nutzung kann die nötige Infrastruktur aufgebaut werden. Siemens Energy bedient mit den Produkten und Lösungen alle Märkte und Anwendungen, um eine Dekarbonisierung zu unterstützen. Bei der Sparte New Energy Business konzentrieren wir uns aber auf grünen Wasserstoff.

Die nationale Wasserstoffstrategie der Bundesregierung ist jetzt verabschiedet. Welche Impulse erwarten Sie?

Schnettler: Nach dem Beschluss geht es jetzt um eine schnelle Realisierung, denn die nationale Wasserstoffstrategie dokumentiert den politischen Willen der Bundesregierung. Die Strategie muss jedoch in den kommenden Jahren durch konkrete Gesetzesmaßnahmen mit Inhalten gefüllt werden. Zusätzlich halte ich eine entschlossene Umsetzung der Renewable Energy Directive (RED II) für extrem wichtig. Wir müssen dafür sorgen, nachhaltige Märkte zu schaffen, zum Beispiel durch die Anerkennung synthetischer Kraftstoffe.

Es wird davon ausgegangen, dass sich in den nächsten zehn Jahren ein globaler Wasserstoffmarkt entwickeln wird. Auf welche Technologien in der gesamten Wertschöpfungskette der Wasserstoffwirtschaft setzt Siemens hier?

Schnettler: Siemens Energy beherrscht die komplette Wertschöpfungskette für eine grüne Strom- und Wasserstoffversorgung. Das bedeutet: Wir sind aktiv bei der Beratung und Auslegung, bieten über Siemens Gamesa Windenergieanlagen an und haben Technologien für Stromübertragung und Netzintegration sowie Elektrolysesysteme im Portfolio. Zudem beherrschen wir die Re-Elektrifizierung des Wasserstoffs in Gasturbinen. In internationalen Projekten treten wir als EPC-Lieferant (Engineering, Production, Construction) auf und übernehmen die Finanzierung sowie digitale Services. Dabei kooperieren wir mit Partnern aus der Energiewirtschaft, aus der Stahl- und Chemieindustrie, mit Stadtwerken und mit vielen mehr.

Entscheidend für den Durchbruch und den Erfolg von Wasserstoffanwendungen ist die Akzeptanz – einerseits für das Thema Sicherheit, aber auch für das gesamte Ökosystem. Seit 1. Juli 2020 sind Sie Präsident des VDE. Was kann der VDE tun, um die Akzeptanz für Wasserstoff zu erhöhen und die zügige Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft voranzutreiben?

Schnettler: Das Thema Sicherheit ist extrem wichtig. Gefahren bei der Wasserstoffherstellung und dem Transport werden aber häufig überschätzt: Seit Jahrzehnten wird Wasserstoff in großen Mengen ohne Probleme beispielsweise mit Schiffen und Lkw transportiert. Drei Aspekte sind besonders relevant. Erstens: Der VDE hat die Expertise, sich führend um Standards und Normen zu kümmern. Vor allem internationale Standards und deren Einhaltung sind dabei wichtig. Wir werden unsere Erfahrungen und unsere Technologieführerschaft als Chance verstehen und diese schnell in die internationalen Normen einfließen lassen. Für eine Exportnation wie Deutschland ist das außerordentlich wichtig.

Zweitens: Fehlende Akzeptanz ist oft mit fehlender Transparenz und mit Unsicherheit verbunden. Hier bietet der VDE mit seinen Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen sowie den Fachgesellschaften die richtige Plattform für Innovationen und fachlichen Austausch.

Drittens: Als technisch-wissenschaftlicher Verband sind wir der kompetente, aber neutrale Partner und Berater der Öffentlichkeit und der Politik. Es gilt, diese Alleinstellungsmerkmale des VDE künftig stärker in den Fokus zu rücken.

Welche weiteren Impulse wollen Sie als VDE-Präsident im Bereich der Energietechnik setzen?

Schnettler: Die Energietechnik ist ein inhaltlich sehr breit aufgestelltes Fachgebiet, das von der Interdisziplinarität lebt. Die Simulationstechnik spielt seit Jahrzehnten eine bedeutsame Rolle, die frühzeitige Digitalisierung in Form der Automatisierung und Leittechnik, die Behandlung der elektromagnetischen Verträglichkeit und grundlegende Material- und Isolierstoffforschung bis zur Etablierung der Hochleistungselektronik sind nur wenige Beispiele. In meiner Amtszeit als VDE-Präsident möchte ich den VDE noch stärker auf die Zukunftsthemen Nachhaltigkeit, Dekarbonisierung und »Energy of the Future« konzentrieren. Die Kompetenzen aus der großen fachlichen Breite unserer Fachgesellschaften werden wir hier intensiv einbringen. Aber der VDE steht nicht nur für die Energietechnik. Insofern möchte ich hier keine fachliche Einschränkung sehen. Wir streben an – und ich habe keinerlei Zweifel daran, dass uns das auch gelingen wird –, der neutrale und kompetente technisch-wissenschaftliche Partner für die Industrie, die Politik und vor allem für die Gesellschaft zu werden.

Martin Heinrichs

www.vde.com, www.siemens-energy.com

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