ABB, Claudio Facchin

Claudio Facchin: Um der zuneh­menden Volatilität im Energiesystem und in den Netzen gerecht werden zu können, ist ein gesamtheitlicher Ansatz und ein umfassender Blick auf das jeweilige Netzgebiet notwendig. (Quelle: ABB)

Herr Facchin, die Energiebranche durchläuft zurzeit einen enormen Transformationsprozess. Was sind aus Ihrer Sicht die größten Herausforderungen für die Netzbetreiber?

Facchin: Wir erleben zurzeit in der Energiewirtschaft beispiellose Veränderungen – und zwar global. Auch wenn einzelne Länder durchaus unterschiedlich weit auf diesem Weg fortgeschritten sind, die Trends und die Ziele sind weltweit immer die gleichen: mehr erneuerbare Energien sowie mehr dezentrale Energieversorgungsstrukturen – beides ergänzt um eine umfassende Digitalisierung des gesamten Energiesystems. Dabei ist die Geschwindigkeit des Prozesses enorm, was für Stadtwerke und Netzbetreiber eine große Herausforderung ist. Schließlich haben wir es in der Energiebranche mit kritischen Infrastrukturen zu tun, bei denen Sicherheit, Redundanz und Stabilität eine hohe Priorität haben. Diese Herausforderungen sind natürlich auch unsere Herausforderungen als Dienstleister für die Netzbetreiber. Unsere Aufgabe beschränkt sich dabei nicht nur darauf, in immer kürzeren Abständen innovative technologische Lösungen zu entwickeln. Mehr und mehr sind wir als umfassender Innovationspartner gefragt, der die Netzbetreiber auf diesem Transformationsprozess ganzheitlich begleitet. Nur so, also in einem partnerschaftlichen Verhältnis mit unseren Kunden, aber auch mit anderen Marktpartnern vor allem aus dem IT-Bereich, können wir die Herausforderungen auf dem Weg in eine neue Energiewelt meistern.

Wie wirkt sich dies auf das Produktportfolio und auf die strategische Ausrichtung von ABB Power Grids aus?

Facchin: Vor einigen Jahren haben wir im Rahmen unserer strategischen und technologischen Neuausrichtung intensiv mit Netzbetreibern und mit den Playern aus dem Bereich der erneuerbaren Energien über die künftigen Herausforderungen diskutiert. Für mich war dabei entscheidend, unsere eigene Roadmap bezüglich der technologischen Entwicklungen mit den Bedürfnissen des Marktes abzugleichen. Eindeutiges Ergebnis war: Wir brauchen künftig eine Stromnetzinfrastruktur, die stabiler, smarter und ökologischer ist als die heutige. Stabiler bedeutet, dass wir nicht nur in erneuerbare Energien investieren, sondern auch in die Netzinfrastruktur – und zwar auf Übertragungs- und auf Verteilnetzebene. Nur so können wir die Netze an die neuen Anforderungen einer dezen­tralen Energieversorgung anpassen. Diese Notwendigkeit sehen wir zum Beispiel in Deutschland mit der Anbindung der neuen Offshore-Windparks. Nur wenn pa­rallel zur steigenden Stromerzeugung in der Nord- und Ostsee auch in die Übertragungsnetze investiert wird, kann der erzeugte Strom auch in die Verbrauchsschwerpunkte im Süden Deutschlands transportiert werden. Smarter bedeutet die umfassende Digitalisierung und Automatisierung des Netzbetriebs. Nur so werden wir im Netzbetrieb auf die sich immer schneller ändernden Anforderungen reagieren und somit eine sichere Energieversorgung gewährleisten können. Ökologischer heißt für uns, nicht nur den Ausbau der erneuerbaren Energien netztechnisch durch neue Technologien zu ermöglichen, sondern neue Netzbetriebsmittel unter ökologischen Aspekten zu entwickeln. Ein Beispiel ist unsere AirPlus-Technologie, mit der wir das klimaschädliche SF6 in Schaltanlagen ersetzen und damit den Carbon-Footprint im Netzbetrieb reduzieren wollen.

Stabilere Netze heißt in Europa auch mehr Interkonnektoren für einen grenzüberschreitenden Stromaustausch. ABB ist zurzeit an zwei wichtigen Projekten beteiligt – Nordlink und Kriegers Flak Combined Grid Solution (CGS). Welche Bedeutung haben diese Projekte?

Facchin: Dies sind zwei sehr interessante Projekte, die zeigen, wie zum einen durch technologische Innovationen und zum anderen durch eine länderübergreifende Zusammenarbeit statt durch ein rein nationalstaatliches Vorgehen eine optimale Integration erneuerbarer Energien ermöglicht wird. Nordlink, also die Verbindung des deutschen und norwegischen Stromnetzes, ist ein Projekt mit Vorbildcharakter, da die Vorteile dieser Investition sehr klar erkennbar sind. Norwegen verfügt über umfassende Wasserkraft- und damit Speicherpotenziale. Mit Nordlink und seiner Übertragungskapazität von 1400 MW wird es möglich, diese Speicherpotenziale nicht nur in Skandinavien, sondern auch in weiteren europäischen Ländern zu nutzen. Ziel ist es, die Volatilität der erneuerbaren Energien weiträumig und in großem Maßstab auszugleichen. Mit dem Interkonnektor Kriegers Flak CGS können wir die zwei nicht synchron arbeitenden Übertragungsnetze in der dänischen Region Sjælland und in Deutschland verbinden. HVDC Light, also die spannungsgeführte HGÜ-Technologie von ABB, bietet hier eine technisch elegante Lösung: In einer Back-to-back-Konverterstation nahe Rostock wird der Drehstrom des nordischen Systems in Gleichstrom umgewandelt und danach direkt wieder in Drehstrom konvertiert – nun aber angepasst an das kontinentaleuropäische Synchrongebiet. Dies sind zwei Beispiele, wie wir mit innovativer Technologie für das Übertragungsnetz die Integration der erneuerbaren Energien vorantreiben wollen.

Sie haben die AirPlus-Technologie bereits angesprochen. Wie nehmen Netzbetreiber diese Technologie an?

Facchin: Wir haben AirPlus im Jahr 2015 eingeführt. Damals waren die Unternehmen noch sehr zurückhaltend, und die Notwendigkeit für Investitionen in solch nachhaltige Technologien wurde noch nicht gesehen. Dies ändert sich zusehends und die Nachfrage steigt. Dies zeigt uns, dass Investitionen in Low-Carbon-Footprint-Technologien auch für Netzbetreiber immer wichtiger werden.

Ist dies ein weltweiter Trend?

Facchin: Wir sehen den Trend ganz klar in Deutschland und Europa, aber zunehmend auch weltweit.

Wie unterscheiden sich die Kosten der beiden Technologien AirPlus und SF6?

Facchin: Wir haben es bei AirPlus immer noch mit einer innovativen Technologie zu tun, die ganz am Anfang der Markteinführung steht. Daher sind die reinen Investitionskosten noch höher. Allerdings muss man bei solchen Investitionsentscheidungen künftig viel mehr die gesamten ­Life-Cycle-Kosten und damit auch die Carbon-Footprint-Kosten betrachten. Dann kann sich auch jetzt schon bei der AirPlus-Technologie ein ganz anderes Bild ergeben.

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