Energiewende: Dr. Angela Wilkinson, Generalsekretärin und CEO des World Energy Council (WEC), London

Dr. Angela Wilkinson, Generalsekretärin und CEO des World Energy Council (WEC), London (Quelle: Christian Kruppa)

„et“: Frau Wilkinson, viele Jahre wurden Versorgungsicherheit und preisgünstige Energie als selbstverständlich angenommen. Im Jahr 2022 hat sich das sehr plötzlich verändert. Ist die Situation vergleichbar mit der Ölpreiskrise in den 1970er Jahren?

Wilkinson: Nein, wir haben heute kein Kartell, das Preise diktiert und das Angebot verknappt. Auch die Energiewende hat die steigenden Preise nicht ausgelöst. 2022 erleben wir den ersten globalen Nachfrageschock: Die Konsumenten haben entschieden, nicht mehr von russischem Gas abhängig sein zu wollen. Daneben gibt es weitere Faktoren: So wurden in Frankreich Kernkraftwerke im heißen Sommer heruntergefahren. Weltweit zieht die Konjunktur nach den Folgen der Pandemie sehr unterschiedlich wieder an.

„et“: Welche Möglichkeiten gibt es derzeit, die Versorgung mit Energie zu sichern?

Wilkinson: Die Herausforderung ist, nun sehr kurzfristig das Energieangebot zu erhöhen. In Europa wird es Winter und in der südlichen Hemisphäre beginnt der Sommer mit einem hohen Bedarf an Energie für Klimatisierung. Im internationalen Wettbewerb um Gas erhält den Zuschlag, wer das meiste zahlen kann. Wer nicht vom Spotmarkt abhängig sein will, muss langfristige Verträge eingehen, die den Aufbau einer Infrastruktur ermöglichen. Bei sog. Take-or-Pay-Verträgen, wie sie mit Russland abgeschlossen wurden, ist eine Zahlung auch zu leisten, wenn das Gas nicht abgenommen wird. Künftige Langfristverträge könnten auch eine Kombination von Gaslieferungen mit Carbon-Capture-Storage or Usage (CCS oder CCU) oder Wasserstoff beinhalten.

„et“: Was kann Deutschland kurzfristig tun?

Wilkinson: Deutschland hat die besten Kernkraftwerke der Welt. Diese könnten wieder ans Netz gehen. Zudem kann das Land am Gasmarkt deutlich höhere Preise als andere zahlen. Dazu müssten einige Terminals für Flüssiggas (LNG) gebaut werden. Auch mit dem Ausbau von erneuerbaren Energien lässt sich die kritische Lage verbessern: Auf der Nachfrageseite muss es darum gehen, Energie so effizient wie möglich zu nutzen.

„et“: Aus Klimaschutzgründen hatte Deutschland den Ausstieg aus der Kohleverstromung beschlossen. Wie bewerten Sie den Einsatz von Kohlekraftwerken?

Wilkinson: Deutschland hat keine Wahl. Entscheidend ist, dass Energie verfügbar ist. Abgesehen davon, sehe ich die Nutzung von Kohle differenziert: Letztlich schützt die Verbrennung von Kohle den Wald. Länder, die keine Rohstoffe wie Kohle oder Gas haben, wie beispielsweise Sri Lanka, holzen ihre Wälder ab.

„et“: Wie sollte eine langfristige Energiestrategie aussehen?

Wilkinson: In den letzten 20 Jahren wurde zu wenig in das Energiesystem investiert. Das wird jetzt in der Krise besonders deutlich. Es gibt ausreichend Öl, Gas, Wind, Sonne, Wasser. Aber es fehlt an Technologien und einem System, das alles miteinander verbindet. Die Energiezukunft ist mehrspurig: Als Partner der Erneuerbaren brauchen wir Wasserstoff, Gas, CCS und flexible Speicher gleichermaßen.

„et“: Ist ausreichend Kapital vorhanden, um die nächsten Schritte zu finanzieren?

Wilkinson: Bisher waren Digitalisierung und Technologie für Anleger interessanter als die Energieinfrastruktur. Aber bei Unsicherheit sind physische Anlagen gefragt und jetzt fließt das Geld in den Energiesektor. Hinzu kommt eine Priorisierung von grünen Investments durch die Environment-Social-Governance-Klassifizierung (ESG). Wir haben dadurch nicht zu wenig Kapital, sondern eher zu viel. Diese Dynamik macht es kompliziert. Die Herausforderung besteht darin, ausreichend Energie zu bekommen. Wenn das nicht gelingt, muss entschieden werden, wer Energie für welchen Zweck nutzen darf. Märkte regeln solche Fragen über den Preis.

„et“: Wer sind die Verlierer der Krise?

Wilkinson: Alle werden von der Krise getroffen, aber die verwundbarsten Teile der Gesellschaft haben kaum Ausweichmöglichkeiten und müssen in Relation zu ihrem Einkommen am meisten für Energie zahlen. Viele Haushalte stehen vor der Frage, ob sie essen oder heizen können. Wir sehen nun, wie die Regierungen eingreifen. Das müssen sie auch.

„et“: Brauchen wir ein anderes Marktsystem für den Energiesektor?

Wilkinson: Wir sehen ein Marktversagen, aber die Antwort ist nicht, den Markt auszusperren. Märkte bringen Wettbewerb und Effizienz. Staatsunternehmen bremsen die Innovationskraft. Leider liegt der Fokus derzeit auf der Regulierung von staatlichen Märkten. Besser wäre es, den Markt so zu organisieren, dass Unternehmen, Regierung und Bürger die Energiewende gemeinsam vorantreiben können. Denn Energiewende funktioniert nur in kleinen Schritten. Unternehmen, Regierungen, Kommunen und die Kunden müssen an einen Tisch.

„et“: Warum sollten sich die Bürger um ihre Energieversorgung kümmern?

Wilkinson: Viele Menschen haben noch nicht verstanden, worin der Nutzen der Energiewende für sie persönlich besteht. Sie sehen vor allem die Unternehmensprofite. Aber Energiewende ist nicht allein eine Technologiegeschichte, in der die gleichen Unternehmen künftig erneuerbare Energien oder Wasserstoff anstelle von fossilen Brennstoffen liefern. Es geht um gesellschaftliche Veränderungen. Menschen möchten eine bessere Zukunft. Dazu gehört eine saubere, unabhängige Energiewirtschaft und die gemeinschaftliche Teilhabe. Wir müssen jetzt in lokale Energiegemeinschaften investieren, die die Arbeitsplätze schaffen und Fähigkeiten entwickeln. Solche Projekte brauchen zehn bis 15 Jahre bis sie wirksam werden.

„et“: Eine Investition in eine eigene Energieerzeugung liegt für viele Haushalte außerhalb ihres Budgets. Woher sollen Menschen besonders in den Krisenzeiten das Geld nehmen?

Wilkinson: Geld ist eine Illusion. Der Weg zu einer neuen Energiegesellschaft führt nicht über Technologie und Geld, sondern über Bürgerbeteiligung. In der Realität gibt es vor allem drei Knappheiten: Zeit, CO2 und Vertrauen. Zeit ist auch der limitierende Faktor für Humankapital. Vertrauen hat einen Effekt auf die Liquidität von Kapital.

„et“: Können Sie uns Beispiele für neue Formen der Energieversorgung nennen?

Wilkinson: In den USA haben die Einwohner in einer der ärmsten Kommunen Chicagos mit Vertretern von Polizei, Gesundheitswesen und weiteren öffentlichen Dienstleistern gemeinsam ein Microgrid entwickelt. Nun betreibt eine Genossenschaft erfolgreich das Energiesystem. Oder ein anderes Beispiel aus Europa: In den nordischen Ländern gibt es gemeinschaftliche Heizungen in Kraft-Wärme-Kopplung. Um es klar zu sagen: die Anwohner suchen Chancen, keine Kompensation. Die Erfahrung zeigt, dass eine Entschädigung niemals ausreicht.

„et“: In Deutschland waren vor einigen Jahren Energie-Genossenschaften populär. Inzwischen hat das Interesse nachgelassen. Halten Sie eine genossenschaftliche Organisation in allen Ländern für gleichermaßen praktikabel?

Wilkinson: Ein Modell aus den USA lässt sich nicht 1:1 auf Deutschland übertragen. Aber es kommt darauf an, eine kritische Masse aufzubauen. Wir beherrschen die Mikro- und die Makrobetrachtung. Mit den Experimenten können wir etwas über mögliche Skaleneffekte lernen, denn wenn Erfahrungen geteilt werden, entstehen Effizienzgewinne.

„et“: Welche Bedeutung haben die Kommunen in einem dezentralen Modell?

Wilkinson: Die Basis für den Bau eines Netzes sind Lizenzen und Konzessionen. Darüber entscheiden Kommunen und Regulatoren. Wichtig sind nicht zentrale oder dezentrale Strukturen, sondern ist die Beziehung zwischen den Akteuren. Das Stromnetz in den USA ist ein Patchwork, das durch unterschiedliche Kooperationen in den verschiedenen Bundesstaaten aufgebaut wurde.

„et“: Wo stehen wir auf dem Weg in ein anderes Energiesystem?

Wilkinson: Die Krise hat die Grundlagen der Nachhaltigkeit deutlich gemacht: Energie, Wasser und Nahrungsmittel waren selbstverständlich verfügbar. Nun interessieren wir uns dafür, wo die Ressourcen herkommen. Wenn wir die Energiewende transparenter machen, werden mehr Menschen ihre Rolle verstehen und ihr Verhalten ändern. Das ist etwas anderes, als über die Reduktion von Emissionen, den Zubau von Anlagen oder die Höhe der Investitionen zu diskutieren. So könnte beispielweise eine App darüber informieren, wie Kaufentscheidungen die Dekarbonisierung beeinflussen. Menschen wollen wissen, ob die Maßnahmen fair sind, schnell und weit genug gehen.

„et“: Frau Wilkinson, vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte in englischer Sprache Astrid Sonja Fischer, Freie Journalistion, Fachjournalistin, Schönwalde-Glien

Energietag 2022 diskutiert den Investitionsrahmen einer neuen Normalität

Die Energiewende braucht eine leistungsfähige Wirtschaft. Diese sei derzeit allerdings massiv geschwächt, betonte Dr. Uwe Franke, Präsident, Weltenergierat – Deutschland, auf dem Energietag 2022 am 27.09.2022 in Berlin. In den letzten Jahren hätte sich Deutschland darauf verlassen, dass Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit selbstverständlich sind. Staatssekretär Dr. Patrick Graichen verwies darauf, dass es aktuell vor allem darum gehe, die Preise zu senken, um Notlagen bei privaten Verbrauchern und ein Abwandern der produzierenden Industrie aus Deutschland zu vermeiden. Um die Situation zu überbrücken, müssten auch Maßnahmen greifen, die eigentlich der Energiewende entgegenstehen.

In verschiedenen Formaten diskutierten Unternehmensvertreter und Politik, ob sich neue Investitionen in den Ausbau der Gasinfrastruktur noch lohnen oder sogar eine Dekarbonisierung bis 2050 bremsen könnten. Um schnell Ersatz für fehlende russische Gasmengen zu finden, müssten neue Lieferabkommen mit anderen Ländern geschlossen werden. Diese erwarteten allerdings Vertragslaufzeiten von 20 Jahren, berichteten Industrievertreter.

Jennifer Lee Morgan, Staatsekretärin im Auswärtigen Amt, sprach sich gegen neue langfristige Lieferverträge und Pipelines aus, um einen Lock-in-Effekt bei fossilen Energien zu vermeiden. Gas sei eine Brücke mit einem schnellem Ende. Dr. Ludwig Möhring, Bundesverband Erdgas, Erdöl und Geoenergie, betonte eine mögliche Anschlussnutzung des Pipelinesystems für Wasserstoff.

Kontrovers wurde auch die EU-Taxonomie für Investitionen in eine nachhaltige Energieversorgung erörtert. Kritisiert wurde insbesondere die Klassifizierung von Kernenergie und Gas als nachhaltige Energiequellen. Zudem greife die Einteilung zu kurz: CO2-Emissionen sollten über die gesamte Lieferkette betrachtet werden.

Ein Blick auf die weltweit größten CO2-Emittenten China, Indien und die USA zeige eine andere Herangehensweise als in Europa: In den drei Staaten werden vor allem Wettbewerb und Wachstum ohne technologische Einschränkungen gefördert, betonte Franke.

Astrid Sonja Fischer

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