Hier findet die Netzsimulation statt - in der Leitwarte des Fernheizkraftwerks der Technischen Werke Ludwigshafen

Leitwarte des Fernheizkraftwerks der Technischen Werke Ludwigshafen (Bildquelle: TWL AG)

Fernwärmeversorgungsunternehmen (FVU) stehen im Zuge der Energiewende vor zahlreichen technischen Herausforderungen, die Innovationen bei der Steuerung und Regelung des Netzbetriebs erforderlich machen. Um eine schrittweise Dekarbonisierung der Wärmeversorgung realisieren zu können, müssen verstärkt erneuerbare Quellen in die Netze eingebunden sowie lokal verfügbare Abwärmepotenziale nutzbar gemacht werden. Gleichzeitig führen immer strengere energetische Gebäudestandards, die fortschreitende Sanierung des baulichen Bestands und eine zunehmende Anzahl verteilter autonomer Erzeuger (Prosumer) zu einer kontinuierlich sinkenden Fernwärmenachfrage, was entsprechende Anpassungen der zentralen Erzeugungskapazitäten sowie der Temperaturniveaus in den Netzen notwendig macht.

Für die Betreiber von Fernheizkraftwerken (FHKW) mit Kraft-Wärme- Kopplung (KWK) stellen zudem die im Mittel gefallenen und volatilen Börsenstrompreise ein generelles Problem dar. Da ein Gutteil der Erlöse mit dem Verkauf von Strom erzielt wird, ist es betriebswirtschaftlich sinnvoll, die Stromerzeugung zeitlich vom Wärmebedarf zu entkoppeln. Eine höhere Flexibilität bietet den FVU grundsätzlich auch die Chance, auf temporäre Überkapazitäten im Stromnetz zu reagieren und durch den Einsatz von Powerto-Heat zeitnah negative Regelleistung zur Verfügung zu stellen.

Ausgangssituation

Im Regelbetrieb eines FHKW wird in das Leitungsnetz normalerweise mit konstanten Temperaturen oder Drücken zentral eingespeist. Die Erzeugungsleistung und der Betriebsmitteleinsatz müssen während des Tagesverlaufs jedoch stets einem schwankenden Wärmebedarf angepasst werden. Dies geschieht bislang vornehmlich auf der Grundlage langjähriger Erfahrungswerte oder erprobter Routinen.

Die fortschreitende Dezentralisierung der Netze mit räumlich verteilten Einspeisepunkten – auch aus inkonstanten oder temporären Quellen – sowie eine zunehmende Sektorkopplung auf mehreren Ebenen führen jedoch zu immer komplexeren und dynamischeren Lastverläufen. Bereits heute können die Einsatzplaner von FHKW die Wärmenachfrage und den Netzzustand oft nur ungenau abschätzen. Je größer die Unsicherheiten jedoch sind, desto höhere Sicherheitsmargen müssen bei der Einspeiseleistung eingeplant und vorgehalten werden, was die Effizienz maßgeblich belastet.

Daher bedarf es neuer Konzepte für eine intelligente Betriebssteuerung. Die in der Praxis bereits etablierte Software zur Betriebsunterstützung von FHKW beschäftigt sich entweder mit einer Optimierung des zentralen Betriebsmitteleinsatzes, wobei das gesamte Fernwärmenetz jedoch nur undifferenziert als strukturlose Senke behandelt wird, oder es werden räumlich hochaufgelöste thermohydraulische Strömungsmodelle zur Auslegung der Netzinfrastruktur eingesetzt, um die Versorgung aller Kunden mit den notwendigen Drücken und Temperaturen zu gewährleisten. Die Netzmodelle betrachten die Erzeugerseite wiederum als strukturlose Wärmequelle und behandeln in der Regel nur bestimmte, stationäre Betriebszustände. Sie sind daher auch nicht dazu in der Lage, dem Einfluss schwankender Betriebsbedingungen und wechselwirkender Laufzeiteffekte nachzugehen.

Übergeordnetes Ziel von DYNEEF war es, diese beiden bislang weitestgehend isoliert und unabhängig voneinander eingesetzten Instrumente zur Regelung des Fernwärmenetzbetriebs in einem integrierten Lösungsansatz zusammenzuführen. Im Kern ging es dabei um die Entwicklung einer sowohl räumlich als auch zeitlich hochaufgelösten, dynamischen Simulation von Fernwärmenetzen, die sich in die Einsatzoptimierung eines FHKW einbinden lässt.

Umsetzung

Die erfolgreiche Umsetzung enthielt erhebliche wissenschaftliche und technische Herausforderungen. Die Optimierungsprobleme zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass Prognosen über mehrere Tage für stochastisch fluktuierende Verbräuche und Preise einzubeziehen sind. Hierfür müssen über Speichereffekte zahlreiche Zeitschritte verknüpft werden. Mit den bislang vornehmlich eingesetzten quasistationären Simulatoren lassen sich solche Laufzeiteffekte nicht abbilden. Klassische Verfahren für dynamische Berechnungen wie Upwind-Techniken benötigen jedoch sehr kleine Zeitschritte. Mit jedem Zeitschritt nimmt aber auch die Zahl der Freiheitsgrade drastisch zu, so dass die Ausführung bei steigender Komplexität immer aufwändiger und instabiler wird. Dies äußert sich in enorm langen Rechenzeiten, die einen sinnvollen Einsatz im Kontext spontan variierender Bedingungen bei der Kraftwerkseinsatzoptimierung nicht zulassen.

Die zielführende Lösung wurde schließlich in mehreren Teilschritten erarbeitet. Mit innovativen mathematischen Methoden wurde die Komplexität des Berechnungsmodells zunächst drastisch reduziert, ohne dabei relevante Einbußen bei der Prognosequalität hinnehmen zu müssen. Im darauffolgenden Schritt konnten die Optimierungsprobleme angegangen werden. Für die Berechnung komplexer Systeme wurde am Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM im Zuge des Vorhabens der Simulator „AD-Net-Fernwärme“ entwickelt. Die Software zeichnet sich durch zwei maßgebliche Innovationen aus. Eine besteht im automatischen Differenzieren. Wird beispielsweise der Verlauf von Einspeisedruck und -temperatur über einige Tage vorgegeben, liefert die nichtlineare Simulation nicht nur den Druck- und Temperaturverlauf an allen Ausspeisepunkten. Ferner lassen sich zur Laufzeit auch noch spontane Abweichungen berücksichtigen. Die Software berechnet, wie sich der Lastverlauf bei nachträglichen Änderungen der Einspeisedaten verhält. Das derart linearisierte Systemmodell kann nun iterativ von Standard-Optimierungstools, z. B. Gurobi oder Ipopt, für die situative Einsatzoptimierung der Betriebsmittel genutzt werden.

Die zweite wesentliche Innovation ist ein spezielles, vollständig neu entwickeltes Charakteristikenverfahren. Erst damit ist es schließlich möglich, längere Zeitschritte stabil bewältigen zu können. Es sorgt für eine entscheidende Verbesserung der Rechenperformanz, indem das thermohydraulische Netzverhalten quasi analytisch ermittelt wird. Auf diese Weise lassen sich dynamische Berechnungen mit einem Prognosehorizont mehrerer Tage überhaupt erst realisierbar machen. Die Software ist so einerseits dazu in der Lage, Laufzeiteffekte abzubilden. Andererseits können auch komplexe Fernwärmesysteme im großstädtischen Maßstab in hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung berechnet werden. Dies beinhaltet beispielsweise auch die Berücksichtigung verteilter Einspeisepunkte oder sporadischer Flussrichtungsumkehr bei Vermaschungen der Netztopologie.

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