Jochen Kreusel: So wie elektrische Energie das Rückgrat des künftigen Energiesystems ist, sind die Übertragungs- und Verteilungsnetze das Rückgrat der elektrischen Energieversorgung

Jochen Kreusel: So wie elektrische Energie das Rückgrat des künftigen Energiesystems ist, sind die Übertragungs- und Verteilungsnetze das Rückgrat der elektrischen Energieversorgung

Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten haben sich das Ziel gesetzt, klimaneutral zu werden. Für das Energiesystem bedeutet dies die vollständige Vermeidung von CO2-Emissionen, was im deutschen energiepolitischen Kontext direkt auf die vollständige Versorgung aus erneuerbaren Energien führt. Deren beiden, aufgrund ihrer breiten Verfügbarkeit wichtigsten Vertreter, Sonnen- und Windenergie, lassen sich gut in elektrische Energie umwandeln, weshalb diese Energieform auf der Einspeiseseite des Energiesystems zur dominierenden Quelle wird: zum Rückgrat des Energiesystems. Im Interesse der Vermeidung von Umwandlungsverlusten folgt daraus, dass die direkte ­Elektrifizierung von heute noch nicht elektrischen Energieanwendungen das Mittel der Wahl ist – technische und wirtschaftliche Machbarkeit vorausgesetzt. Nur in Anwendungsgebieten, bei denen diese Möglichkeit nicht besteht, sollten andere Energieträger eingesetzt werden, die aber auch klimaneutral sein müssen.

Der Bedarf an elektrischer Energie wird sich in Deutschland mehr als verdoppeln

Das Energiesystem der Zukunft wird also elektrischer, und es wird auf erneuerbaren Energien aufgebaut sein. In unseren Studien gehen wir davon aus, dass sich der Bedarf an elektrischer Energie in Deutschland mehr als verdoppeln wird. Trotz massivem Ausbau von Wind- und Sonnenenergie wird es aber nicht möglich sein, den gesamten Energiebedarf aus einheimischer Produktion zu decken. In unseren Szenarien spielt Wasserstoff – unter der Vo­raussetzung eines wettbewerbsfähigen Preises – eine wichtige Rolle, unter anderem für die saisonale Flexibilität in der Elektrizitätsversorgung. Er wird aber nahezu vollständig importiert werden müssen. Gleichzeitig erfordert die hohe installierte Leistung von Sonnen- und Windenergieanlagen den Ausbau des europäischen Übertragungsnetzes, der deutlich über die heute bekannten Entwicklungspläne hinausgeht. Deshalb wird das Energiesystem der Zukunft internationaler: Elektrisch wird es in ein technisch und wirtschaftlich stärker integriertes europäisches System eingebunden sein, und es wird Teil eines globalen Markts für grüne, stoffliche Energieträger sein.

Netze als zentrale Plattform der Energiewende

So wie elektrische Energie das Rückgrat des künftigen Energiesystems ist, sind die Übertragungs- und Verteilungs­netze das Rückgrat der elektrischen Energieversorgung. Sie müssen rechtzeitig in der Lage sein, die hohen installierten Leistungen variabler Einspeiser aufzunehmen, die im Übrigen im Gegensatz zur Vergangenheit hochgradig dezentral an die Verteilungsebenen angeschlossen sind. Integration wird deshalb in der elektrischen Energieversorgung nicht nur horizontal über Landesgrenzen hinweg benötigt, sondern auch vertikal über die verschiedenen Ebenen des Systems. Zusammen mit rund 20 Partnern untersucht Hitachi ABB Power­Grids deshalb im Kopernikus-Projekt Ensure, welche Bausteine für die Netze der Zukunft wichtig sind, und wie die Rahmenbedingungen weiterentwickelt werden müssen, damit diese Bausteine und diese neuen Funktionen rechtzeitig zur Verfügung stehen – und zwar nicht in den Regalen der Technologielieferanten, sondern in den Netzen. Technisch steht die Schaffung von mehr Flexibilität in den Netzen und die Beherrschung der Dezentralität im Fokus, Leistungselektronik und Digitalisierung spielen eine zentrale Rolle. Aber ebenso wichtig wie technische Lösungen ist die Erkenntnis, dass die Netze als die zentrale Plattform der Energiewende proaktiv weiterentwickelt werden müssen und nicht wie in der Vergangenheit immer erst dann, wenn wieder ein neues Problem erkannt wurde – das wäre viel zu langsam. Die aktive funktionale Weiterentwicklung der Netze muss zum Bestandteil der Netzregulierung werden – im Übrigen wohl wissend, dass sich neue Ansätze auch mitunter nicht durchsetzen werden.

Prof. Dr. Jochen Kreusel, Global Head of Market Innovation, Hitachi ABB Power Grids

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