Dr. Christoph Müller, Vorsitzender der Geschäftsführung, Netze BW GmbH.

Dr. Christoph Müller, Vorsitzender der Geschäftsführung, Netze BW GmbH. (Quelle: Netze BW)

Die Anspielung ist offensichtlich – Willy Brandt nahm mit »Mehr Demokratie wagen« den Zeitgeist der ausgehenden 1960er Jahre auf und prägte damit gleichzeitig die künftige Entwicklung. Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich oft (so ein Mark Twain zugeordnetes Bonmot) und mit »Mehr Fortschritt wagen« wird offensichtlich dieser Reim gesucht. Heute prägen die konkret beobachtbaren Folgen des Klimawandels den Zeitgeist und erfordern vor allem im Energieumfeld, dass wir handeln – auch wenn noch vieles ungewiss ist und die Folgen unserer Entscheidungen noch nicht bis ins Letzte absehbar sind. Es braucht Fortschritt – auch im wortwörtlichen Sinn – und dabei braucht es auch Mut.

Bei all dem, was man sich im Koalitionsvertrag im Energie- und Mobilitätsbereich vornimmt, spielt das Netz eine wesentliche Rolle. Nicht nur, weil die Energiewende im Verteilnetz stattfindet und nach dem Zielbild des Koalitionsvertrags noch stärker stattfinden soll (der Verbrauch von Grünstrom regional vor Ort soll gestärkt werden). Sondern auch weil »das Netz« auch das Wagnis in »Mehr Fortschritt wagen« reduzieren und die Energiewende auf eine solide Basis stellen kann. Egal wie die Probleme in der künftigen Energiewelt aussehen werden, Lösungen gibt es nur, wenn zwischen dem Ort des Problems und dem Ort der Lösung tatsächlich eine ausreichende Netzinfrastrukturverbindung – Strom, Wasserstoff oder Erdgas – besteht.

Vor diesem Hintergrund ist die im Koalitionsvertrag vorgenommene Zuordnung des Themas »Systemstabilität« zu den Netzen – in direktem Zusammenhang mit der Digitalisierung und Steuerbarkeit der Verteilnetze und der Beschleunigung des Rollouts moderner Messsysteme – die einzig sinnvolle. Versorgungssicherheit entsteht im Netz, in einer dezentralen Energiewelt auch immer mehr im Verteilnetz. Und es geht nicht da­rum, wie im Autoverkehrsabschnitt gefordert, »Hemmnisse […] bei der Netzinfrastruktur […] ab[zu]bauen« – am Ende geht es bei aller Digitalisierung auch einfach um Netzausbau.

Hier habe ich mich besonders darüber gefreut, wie offensiv und klar der Koalitionsvertrag die Probleme in Genehmigungsverfahren und den unausweichlichen Konflikt zwischen für globalen Klimaschutz notwendigen Investitionen und dem Naturschutz vor Ort adressiert wird. Dieser Konflikt ist da, hält auf und muss gelöst werden und – um in der Zeit zu bleiben: Only Nixon could go to China – vielleicht ist gerade ein grün geführtes Wirtschafts- und Klimaministerium der richtige Ort, diesen Konflikt neu auszutarieren.

Dieser ganze Netzaus- und -umbau muss finanziert werden. Dass dies »im europäischen Vergleich auch künftig attraktive Investitionsbedingungen« braucht, ist für die Netzbetreiber eine erfreulich klare Feststellung, klingt aber bei einer zeitgleich zu den Koalitionsvertragsverhandlungen erfolgten Festlegung des Eigenkapitalzinssatzes auf das im europäischen Vergleich niedrigste Niveau auch ziemlich hohl. Auffallend ist, dass der Koalitionsvertrag bei der Frage der nach dem EuGH-Urteil notwendigen Neukonstituierung des deutschen Regulierungssystems rund um die Bundesnetzagentur schweigt. So bleibt die Sorge, dass dieser Eigenkapitalzinssatz bei den Netzbetreibern nicht viel »wagen« ermöglicht. Es bleibt zu hoffen, dass man nicht erst auf den kühlen Blick eines Wirtschaftspragmatikers wie seiner Zeit Helmut Schmidt warten muss, um das zu richten.

Dr. Christoph Müller, Vorsitzender der Geschäftsführung, Netze BW GmbH

Ähnliche Beiträge