Torsten Maus: Wir dürfen im Bereich der Verteilnetze nicht die gleichen Fehler wie im Übertragungsnetz machen, wo wir erst mit einem enormen Zeitverzug die notwendigen Stromtrassen fertigstellen werden.

Torsten Maus: Wir dürfen im Bereich der Verteilnetze nicht die gleichen Fehler wie im Übertragungsnetz machen, wo wir erst mit einem enormen Zeitverzug die notwendigen Stromtrassen fertigstellen werden. (Quelle: Foto- und Bilderwerk)

Herr Maus, Sie sind kürzlich in das Board der neuen europäischen Organisation der Verteilnetzbetreiber (EU DSO Entity) gewählt worden. Welche Ziele und Aufgaben verfolgt diese Organisation?

Maus: Die Gründung der EU DSO Entity ist ein wichtiger Schritt zur Positionierung der Verteilnetzbetreiber in Europa. Bisher kannten wir diese Art der Zusammenarbeit nur im Bereich der Transportnetze. Daher ist es wichtig, dass die Europäische Kommission diesen Prozess angestoßen hat, um den weit über 2 000 Verteilnetzbetreibern in Europa eine Stimme zu geben. Die Notwendigkeit dafür zeigt sich auch dadurch, dass sich mittlerweile bereits über 900 Netzbetreiber der Organisation angeschlossen haben. Die Aufgaben von EU DSO Entity sind, zum einen als Ansprechpartner für die Europäische Kommission zu fungieren und zum anderen einheitliche Spielregeln – die Grid Codes – für die Verteilnetze zu erarbeiten. Nur so lassen sich die Herausforderungen in einem sich ändernden Energiesystem meistern.

Was sind die größten Herausforderungen im Verteilnetz?

Maus: Wir sind seit vielen Jahren dabei, die Energiewende umzusetzen. Konkret bedeutet dies: Wir stellen das Energiesystem vom Kopf auf die Füße – nämlich weg von einer zentralen Erzeugung hin zu einer dezentralen und sehr kleinteiligen Erzeugungsstruktur. Ein Großteil dieser Anlagen speist in die Verteilnetze ein. Was dies künftig bedeutet, erfahren wir bereits jetzt im Netzgebiet von EWE Netz: Wir transportieren bereits heute in unserem Stromnetz im Nordwesten Deutschlands knapp 100 % erneuerbare Energien. Damit müssen wir als Netzbetreiber schon jetzt Lösungen für diejenigen Probleme entwickeln, über die andere noch als potenzielle Herausforderungen der Zukunft diskutieren. Trotzdem können wir mit einer durchschnittlichen Versorgungsunterbrechung je angeschlossenem Letztverbraucher von rund drei Minuten im Jahr nicht nur deutschlandweit, sondern auch in Europa eine der höchsten Versorgungsqualitäten bieten. Dies zeigt: Die Umsetzung der Energiewende mit einer hohen Stromeinspeisung aus Erneuerbare-Energien-Anlagen ist bei einer weiterhin hohen Versorgungszuverlässigkeit möglich – und zwar auch unter wirtschaftlichen Aspekten. Dieses Wissen wollen wir als eines von drei deutschen Mitgliedern im Board der EU DSO Entity auf europäischer Ebene einbringen.

Die Erarbeitung der Grid Codes lag bisher in der Verantwortung der Übertragungsnetzbetreiber. Welche Themen wollen Sie hier einbringen? Anders gefragt: Welche Themen vermissen Sie aus Sicht eines Verteilnetzbetreibers?

Maus: Es sind zwei Themen, die uns als Verteilnetzbetreiber besonders beschäftigen: Zum einen der Umbau des Erzeugungssystems von einem zentralen zu einem dezentralen System – ergänzt um eine Vielzahl zum Teil neuer Anwendungen im Verteilnetz wie Speicher, Ladesäulen oder Wärmepumpen. Dafür sind ganz andere, intelligente Mess-, Steuer- und Regelungsstrategien notwendig, um Transparenz und Steuerbarkeit im Verteilnetz zu erreichen. Nur so lassen sich die notwendigen Flexibilitäten zum Ausgleich von Erzeugung und Bedarf effektiv einsetzen. Das entscheidende Stichwort ist hier Digitalisierung und dabei sind wir beim zweiten großen Thema – nämlich Cybersicherheit. Entscheidend für Verteilnetzbetreiber wird es künftig sein, neben dem Stromnetz auch ein Kommunikations- und Informationsnetz sicher und datenschutzkonform betreiben zu können.

Die Verteilnetze und auch die Netzbetreiber sind in Deutschland und auch in Europa unterschiedlich organisiert und strukturiert. Wie lassen sich bei dieser Heterogenität einheitliche Standards etablieren?

Maus: Zum einen sind die physikalischen Grundsätze für alle Stromnetze gleich. Zum anderen sind die Netze so eng miteinander gekoppelt und vermascht, dass auch Wechselwirkungen zwischen den Netzen auftreten. Deswegen ist es zwingend notwendig, gemeinsame Spielregeln und Systematiken zu entwickeln, die dann auch europaweit gelten. Die Erarbeitung dieser Spielregeln wird Aufgabe der Expert Groups der EU DSO Entity sein. Ich bin mir sicher, dass wir ein künftiges europäisches Stromnetz nur auf Basis einheitlicher Regeln effektiv und zuverlässig betreiben können.

Neben Ihnen gehören Maik Wortmeier, Geschäftsführer der Netzgesellschaft Forst Lausitz, und Patrick Wittenberg, Geschäftsführer der Wesernetz Bremen GmbH, dem Board an. Dies spiegelt die jeweiligen Unternehmenskategorien mit unterschiedlicher Zahl an Anschlusspunkten wider. Wie erfolgt hier die Abstimmung?

Maus: Wir stimmen uns bereits auf nationaler Ebene eng ab, um die Interessen der deutschen Netzbetreiber möglichst gut vertreten zu können. Es ist aber auch klar, dass wir mit unseren drei Stimmen im Board oder mit den Stimmen der deutschen Netzbetreiber in der General Assembly nicht diejenigen sind, die unmittelbar die Entscheidungen bestimmen werden. Vielmehr geht es darum, in enger Zusammenarbeit mit den europäischen Partnern optimale Rahmenbedingungen für die Verteilnetzbetreiber zu erwirken. Für EWE Netz ist das nicht neu. Wir kooperieren schon lange mit anderen Netzbetreibern in Europa, um eine breite Basis für künftige Lösungen und Entscheidungen zu schaffen. Neu ist, dass wir mit der EU DSO Entity dafür jetzt eine offizielle Plattform in Europa haben.

Erst kürzlich wurden in Deutschland die Technischen Anwendungsregeln (TAR) aufgrund geänderter Grid Codes angepasst. Kommt die Einbeziehung der Verteilnetzbetreiber in diesen Prozess nicht zu spät?

Maus: Die Diskussionen zur Gründung der EU DSO Entity laufen schon seit Jahren. Auch ich wäre froh gewesen, wenn wir schneller zum Ziel gekommen wären – aber besser jetzt, als gar nicht. Auch haben wir noch große Aufgaben vor uns, sodass es nicht zu spät ist, dafür jetzt gemeinsam europaweit gültige Spielregeln aufzustellen. Auf nationaler Ebene ist die Abstimmung zwischen den Verteilnetzbetreibern schon sehr gut. Das beste Beispiel ist das Thema Redis­patch 2.0 und die Netzbetreiberkooperation connect+, in der wir eine bundeseinheitliche Lösung für den Datenaustausch entwickelt haben. Das zeigt: Die Abstimmung zwischen den Verteilnetzbetreibern – und auch mit den Übertragungsnetzbetreibern – in Deutschland funktioniert. Jetzt ist es umso wichtiger, dies auch auf europäischer Ebene zu intensivieren.

Sie hatten es bereits angesprochen: Cybersicherheit steht im besonderen Fokus der europäischen Verteilnetzbetreiber. Welche neuen Ansätze benötigen sie hier?

Maus: Durch die zunehmende Digitalisierung im Verteilnetz steigt auch das Risiko von Cyberangriffen. Wir benötigen daher ein hohes Maß an Cybersicherheit. Wichtig ist es im ersten Schritt, dass wir in Gesellschaft und Politik dafür das Bewusstsein schaffen. Ich bin daher sehr froh, dass die Energiewirtschaft in Deutschland künftig vorrangig die 450-MHz-Funkfrequenzen als Kommunikationsstandard nutzen kann. Damit entsteht deutschlandweit ein in sich geschlossenes Kommunikationsnetz – und dies ist nicht nur im Hinblick auf Cybersicherheit wichtig, sondern auch bezüglich der Ausfallsicherheit, denn bei einer geplanten Pufferzeit von 72 Stunden wird es auch für den Netzwiederaufbau zur Verfügung stehen. Eine ähnliche Lösung benötigen wir auch im europäischen Rahmen.

Wie weit ist der Aufbau des 450-MHz-Funknetzes im Netzgebiet von EWE Netz fortgeschritten?

Maus: Wir waren der erste große Kunde der 450connect GmbH. Daher sind wir auch schon sehr weit mit dem Aufbau des Funknetzes. Für eine flächendeckende Verfügbarkeit benötigen wir gut 100 Maststandorte. Rund die Hälfte davon haben wir bereits aktiviert, und ich gehe davon aus, dass wir im Jahr 2022 einen flächendeckenden Betrieb in unserem Netzgebiet gewährleisten können. Mittlerweile sind wir über das Konsortium regionaler Energieversorger auch direkt an der 450connect GmbH beteiligt und können uns so beim Aufbau eines bundesweiten, krisensicheren und hochverfügbaren 450-MHz-Funknetzes einbringen. Dabei handel es sich um ein enormes Investitionsvolumen, dass die Energiewirtschaft für dieses exklusive Daten- und Informationsnetzwerk stemmt. Die Gesamtinvestitionen der Energiewirtschaft für den Netzausbau liegen deutschlandweit im unteren dreistelligen Millionenbereich.

Wie wirkt sich die steigende Komplexität des Netzbetriebs vor allem auch auf kleinere Netzbetreiber aus?

Maus: Die Aufgaben für Verteilnetzbetreiber werden immer vielfältiger. Die Komplexität steigt immens an, wie das Thema Redispatch 2.0 zeigt. Dies setzt zum einen eine massive IT-technische Unterstützung voraus und zum anderen Prozesse, die rund um die Uhr laufen. All dies wird dazu führen, dass Netzbetreiber intensiver zusammenarbeiten und auch vermehrt Dienstleistungen in Anspruch nehmen müssen. Schließlich ist es schon aus Effizienzgründen nicht sinnvoll, dass jeder Netzbetreiber das gesamte Spektrum an Aufgaben in vollem Umfang beherrscht. Solche Dienstleistungen bieten wir als EWE Netz zum Beispiel für den Redispatch 2.0 an und spüren ein reges Interesse.

Welche Rolle werden Verteilnetzbetreiber in einem immer komplexer werdenden Energiesystem künftig einnehmen?

Maus: Die meisten Stromerzeugungsanlagen speisen künftig in die Verteilnetze ein. Damit entwickeln sich die Verteilnetze zu den Kraftwerken im Energiesystem. Das zu managen und für einen Ausgleich von Erzeugung und Last zu sorgen, wird künftig die wesentliche Aufgabe der Verteilnetzbetreiber sein. Dafür ist eine enge Zusammenarbeit sowohl über die unterschiedlichen Wertschöpfungsstufen als auch über die unterschiedlichen Spannungsebenen hinweg notwendig. Alle Player müssen das Gesamtsystem im Blick haben und das Ziel verfolgen, eine gute und sichere Energieversorgung zu organisieren.

In vielen Pilotprojekten wird deutlich, dass die technischen Lösungen für die künftigen Herausforderungen zur Verfügung stehen, aber die aktuelle Regulierungspraxis sinnvolle Ansätze oft nicht möglich macht. Wie bewerten Sie dies?

Maus: Hier sind zwei Aspekte wichtig. Zum einen sind dies die operativen Rahmenbedingungen. Hier ist es entscheidend, das wir in dem immer vielfältiger und komplexer werdenden Energiesystem ganzheitlich denken und arbeiten dürfen. Ein Beispiel: Ich habe eine hohe Meinung von Datenschutz. Aber es muss möglich sein, gewisse Daten so zu nutzen, dass wir im Sinne des Gemeinwohls ein Optimum erreichen können. Hier dürfen wir nicht von vorneherein Lösungsoptionen kategorisch ausschließen, sondern wir müssen vielmehr praktikable Lösungen – auch unter Datenschutzaspekten – entwickeln können. Das ist ein Beispiel für den notwendigen operativen Rahmen. Das Zweite ist der wirtschaftliche Rahmen. Für den Umbau des Energiesystems sind in den nächsten Jahren in Deutschland Investitionen im Umfang von etlichen Milliarden Euro notwendig. Dafür benötigen wir wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die diese Investitionen ermöglichen. Die aktuellen Diskussionen zum Thema Eigenkapitalverzinsung sind hier nicht hilfreich, denn bereits heute überlegen Investoren, ob sie wirklich in die Energiewende oder eher in lukrativere Branchen investieren sollen. Wir müssen jedoch jetzt mit Investitionen in die Steuerbarkeit und Intelligenz die Weichen für hochleistungsfähige Verteilnetze stellen. Was passiert, wenn man die Rahmenbedingungen für Investitionen und auch die Genehmigungsvoraussetzungen zu spät anpackt, sehen wir zurzeit im Übertragungsnetz, wo erst mit einem enormen Zeitverzug die notwendigen Stromtrassen fertiggestellt werden. Diese Fehler dürfen wir im Bereich der Verteilnetze nicht wiederholen.

Mit welchen Investitionen planen Sie bei EWE Netz in den nächsten Jahren und wie weit sind sie mit der Digitalisierung in Ihrem Netzgebiet?

Maus: Wir gehen davon aus, dass wir in den nächsten zehn Jahren rund 1 Mrd. € investieren müssen – nur als EWE Netz und das ist auch eher die untere Grenze. Was die Digitalisierung betrifft, konnten wir in verschiedenen Forschungsprojekten wie enera viel Wissen über ein intelligentes Verteilnetz erwerben. So haben wir heute in der Mittelspannungsebene bereits einen sehr hohen Digitalisierungs- und Steuerungsgrad erreicht. Damit können wir Störungen früh identifizieren, schnell lokalisieren und von unserer Leitstelle in Oldenburg aus sehr schnell steuernd eingreifen. Jetzt geht es darum, diese Transparenz und Steuerbarkeit auch auf das Niederspannungsnetz auszuweiten, zum Beispiel mit regelbaren Ortsnetzstationen und intelligenter Messtechnik, um auf dieser Basis künftig Flexibilitäten effizient nutzen zu können. Nur so lassen sich sowohl leistungsfähige als auch wirtschaftliche Energienetze schaffen.

Was sind die nächsten Schritte bei EU DSO Entity? Wann werden wir erste Ergebnisse der Verbandsarbeit sehen?

Maus: Wir hatten bereits die konstituierende Sitzung der Mitgliederversammlung und des Vorstands. Jetzt wird die Struktur organisiert, die Expert Groups werden definiert und besetzt. Ich gehe davon aus, dass wir das in den nächsten zwei bis drei Monaten geschafft haben. Anschließend kann die inhaltliche Arbeit starten und wir werden sicherlich bereits im nächsten Jahr die ersten Ergebnisse und konkrete Maßnahmen sehen.

Martin Heinrichs

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