Ingenieur ueberprueft mithilfe von Assistenzsystemen Vorgaenge in Netzleitwarte

Bei dem Projekt DynaGridCenter entwickelte Siemens zusammen mit Partnern aus der Forschung und Wissenschaft die nächste Generation von Netzleitwarten. Assistenzsysteme machen erstmals dynamische Vorgänge, die die Energiewende in das Stromnetzt bringt, sichtbar und geben gezielte Handlungsempfehlungen, um das Netz zu optimieren und Blackouts zu verhindern. (Bildquelle: Siemens)

Die seit Frühjahr 2018 amtierende Bundesregierung will den Anteil der Erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung weiter ausbauen. Bis 2030 soll ihr Deckungsbeitrag auf etwa 65 % ansteigen und damit gegenüber der heutigen Situation nahezu verdoppelt werden. Dieses Ziel bedeutet, dass in gut einem Jahrzehnt 400 TWh Strom aus sauberen Quellen erzeugt werden müssen. In einem Impulspapier unter dem Titel »Stromnetze für 65 Prozent Erneuerbare bis 2030. Zwölf Maßnahmen für den synchronen Ausbau von Netzen und Erneuerbaren Energien« beschreibt Agora Energiewende die notwendigen Schritte zu einem Gelingen der Energiewende, das immer noch möglich ist.

Voraussetzungen dafür ist eine Neuinstallation von jährlich mindestens 5 GW Photovoltaikleistung und 4 GW Onshore-Windkraft. Für die Offshore-Windkraft muss das Ausbauziel für 2030 von 15 auf 20 GW angehoben werden. Bei entsprechender Netzmodernisierung kann das deutsche Stromnetz die geforderten 65 % Erneuerbare Energien aufnehmen. Dafür ist eine Kombination aus technischen Neuerungen, Regionalsteuerung beim Zubau der Erzeugeranlagen und intelligente Verteilung der der Stromflüsse erforderlich, die eine wesentlich höhere Auslastung der bestehenden Netze erlaubt.

Bis zum angegebenen Zeitpunkt muss das bestehende Stromnetz vom heutigen »Handbetrieb« auf einen zunehmend automatisierten Netzbetrieb umgestellt werden, weil der schrittweise Übergang Richtung Netzsteuerung in Echtzeit ebenfalls eine bessere Auslastung der Netze ermöglicht, ohne bei der Netzsicherheit Einschnitte in Kauf nehmen zu müssen. »Die zunehmende Digitalisierung ebnet hierfür den Weg«, erklärt Dr. Patrick Graichen, Direktor Agora Energiewende. Die im Bundesbedarfsplangesetz (BBPlG) vorgesehen Gleichstromautobahnen in HGÜ-Technik sollten so dimensioniert werden, dass weitere Großprojekte weder bis 2030 noch danach bis zur Vollendung der Energiewende erforderlich sind. Dies bedeutet entweder die Aufstockung der Übertragungsleistung der geplanten Trassen oder die Verlegung von Leerrohren in diesen Trassen, in die später bedarfsgerecht zusätzliche Kabel eingezogen werden können.

Projekt DynaGridCenter erfolgreich abgeschlossen

Vor diesem Hintergrund ist das Projekt DynaGridCenter ein wichtiger Schritt. Das Vorhaben hatte die Entwicklung einer neuen dynamischen Netzleitwarte zum Ziel und wurde von der Siemens AG koordiniert (siehe auch netzpraxis 4/2017, S. 6). Es war auf drei Jahre angelegt und wurde im Oktober 2015 gestartet. Am 25. September 2018 konnte die Warte, die an der Technischen Universität Ilmenau aufgebaut wurde, offiziell vorgestellt werden. Das Budget betrug 7,2 Mio. Ä, wovon das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) im Rahmen der Forschungsinitiative »Zukunftsfähige Stromnetze« rd. 5 Mio. Ä übernommen hat. Die Leitwarte wurde mit einem simulierten Stromnetz an der 250 km von Ilmenau entfernten Otto-von-Guericke Universität Magdeburg gekoppelt. Außer Siemens und den beiden Universitäten waren zudem die Ruhruniversität Bochum, das Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und Automatisierung (IFF) in Magdeburg sowie das Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung, Institutsteil Angewandte Systemtechnik (IOSB-AST) in Ilmenau an dem DynaGridCenter beteiligt.

Mit diesem Vorhaben entwickelte Siemens mit seinen Partnern die nächste Generation von Netzleitwarten auf Basis des eigenen Produktes Spectrum Power 7. Sie verfügt über verbesserte Steuerungs- und Regelungstechniken, die das hochdynamische Stromnetz zunächst auf Übertragungsebene überwachen und mit einer Autopilot-Funktionalität aus der Ferne selbstständig stabil halten. »Die dynamische Leitwarte ist ein unabdingbarer Bestandteil für eine erfolgreiche Energiewende. Sie beherrscht die zunehmende Netzdynamik, hält die Netzstabilität aufrecht und gibt konkrete Handlungsempfehlungen, um Ausfällen vorzubeugen«, erklärt Prof. Dr. Rainer Krebs, Leiter der Beratungseinheit für den Betrieb und Schutz von Stromnetzen in der Siemens-Division Energy Management. Die nächste Generation der Leitwarte wird damit zu einem zentralen Bestandteil des Aktionsplans Stromnetz, der im August 2018 von der Bundesregierung vorgestellt wurde.

Gezielt und schnell auf dynamische Netzzustände reagieren

Das System arbeitet dabei ähnlich wie Assistenzsysteme im Automobil und übernimmt zwei Aufgaben: den Netzbetrieb selbstständig so zu regeln, dass dieser jederzeit möglichst gleichmäßig und stabil bleibt, sowie Hindernisse und Störungen so frühzeitig zu erkennen, dass diese vermieden werden können. Bislang sind gefährliche, dynamische Vorgänge im Netz, die bis zum Blackout  führen können, nur schwer zu handhaben und verursachten für »Re-dispatches«, also Eingriffe ins Netzgeschehen, Kosten von bis zu einer Milliarde Ä pro Jahr. Einfacher und vor allem günstiger ist es, Leitungen optimal auszulasten und nur bei Überlastung einzugreifen. Dies ermöglichen die innovativen Monitoring- und Steuerungsprogramme der neuen Netzleitwarte, die instabile Situationen sichtbar machen, die bei Überlast entstehen. Zudem können sie Gegenmaßnahmen viel schneller einleiten als das menschliche Personal. Unter dem Strich erkennt der Operator die Dynamik im Netz und ihm werden Maßnahmen an die Hand gegeben, um damit umzugehen. Künftig wird dadurch Realität, was heute noch nicht machbar ist: Auf dynamische Netzzustände gezielt mit verifizierten Maßnahmen zu reagieren.

»Bisher können diese gefährlichen Vorgänge im Netz nur mittels präventiver Maßnahmen vermieden werden«, sagt R. Krebs. Dazu greifen die Netzbetreiber in die Fahrpläne von Kraftwerken ein, um drohende Engpässe zu verhindern. Derzeit sind für das deutsche Übertragungsstromnetz vier Netzleitwarten für die zentrale Koordinierung zuständig. Sie steuern nicht nur den Stromdurchfluss im Regelbetrieb, sondern müssen auch Störungen möglichst rasch erkennen und entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten. Wie groß die Herausforderung für die Transportnetzbetreiber ist, beschreibt Gunter Scheibner, Leiter Systemführung bei der 50Hertz Transmission GmbH: »Wir haben inzwischen 50 Gigawatt Windleistung im Norden und 50 Gigawatt Solarleistung im Süden Deutschlands. Dadurch haben wir Strom immer häufiger dort, wo er nicht gebraucht wird, aber auch nicht transportiert werden kann. Die Kosten für daraus resultierende Re-dispatch-Maßnahmen beliefen sich allein 2017 auf 1,4 Milliarden Ä, die vom Verbraucher aufgebracht werden mussten.« Die Summe zeigt, dass mit der zunehmenden Anzahl dezentraler Erzeugungsanlagen bei gleichzeitig reduzierter konventioneller Kraftwerksleistung die Störanfälligkeit des elektrischen Energieversorgungssystems zunimmt. Auch die Zeit, die zur Störungserkennung- und beseitigung zur Verfügung steht, wird immer kürzer. Die bisherigen Leitwarten sind diesen höheren Anforderungen nicht mehr gewachsen.

Nachfolgeprojekt »InnoSys2030« hat bereits begonnen 

»Künftig werden im Transportnetz mehr regelbare Komponenten vorhanden sein. Dazu zählen u.a. HGÜ-Verbindungen ebenso wie Phasenschiebertransformatoren, die regelbar sind und eine übergeordnete Koordination benötigen«, so Fachmann R. Krebs. So genannte Phasor Measurement Units (PMUs) übermitteln in sehr kurzen Abständen (20 ms) die Höhe und den Phasenwinkel von Strom und Spannung und ergänzen damit die bisher im Sekundenbereich übermittelten Messwerte um eine hochdynamische Komponente. Die Erkenntnisse des Laborbetriebs der dynamischen Leitwarte und des simulierten Stromnetzes werden jetzt nach und nach in den realen Netzbetrieb integriert. Hilfreich dabei ist sicher, dass alle vier Transportnetzbetreiber als assoziierte Projektpartner in das Forschungsvorhaben integriert waren und zumindest teilweise bereits mit Spectrum Power wie auch mit Siguard DSA arbeiten – beides Leitsystemkomponenten von Siemens. Bereits angelaufen ist das Anschlussprojekt »InnoSys2030«, das mit einem Forschungsbudget von 15 Mio. Ä ausgestattet. Es soll jetzt zeigen, ob die Systeme aus der dynamischen Leitwarte auch in realen Stromnetzen funktionieren.

»Mittelfristig geht es darum, die Stromnetze mithilfe von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) grundlegend zu modernisieren und so bei gleichbleibender Systemsicherheit eine viel höhere Auslastung bestehender Trassen zu ermöglichen«, konstatiert der Agora-Bericht. Zu diesem Ansatz sind die neuen dynamischen Netzleitwarten ein entscheidender Schlüssel.  

Klaus Jopp; klaus.jopp@wiwitech.de; silke.federspieler@siemens.com

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