
26. Weltenergiekongress des World Energy Council in Rotterdam: Die Zukunft der Energieversorgung sieht deutlich anders aus als in der Vergangenheit. (Quelle: Adobe Stock)
Seit der letzten Konferenz der Organisation im September 2019 in Abu Dhabi haben sich die Rahmenbedingungen für die wirtschaft-liche Entwicklung und das globale Energie-system fundamental verändert. Als zentrale Ereignisse aus diesen knapp fünf Jahren sind die Covid-19-Pandemie, der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, das Massaker der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober 2023, die Situation in Gaza, die Spannungen zwischen Iran und Israel sowie Territorial-konflikte im Südchinesischen Meer zu nen-nen. Ferner sind das Vordringen von KI sowie die Folgen schwerwiegender Wetterereignisse von Bedeutung, die mit tiefgreifenden Aus-wirkungen auf die Weltwirtschaft und das globale Energiesystem verknüpft sind.
Vor diesem Hintergrund hat der World Energy Council die zuletzt 2019 vorgelegten globalen Energieszenarien unter Nutzung seines globalen Netzwerkes neu gefasst. Enerdata hat die Quantifizierung der zwei gewählten exploratorischen Szenarien, Rocks und Rivers, unter Nutzung seines Simula-tions-Modells POLES übernommen. Die Schlüsselbotschaften, die sich daraus für den Zeithorizont bis 2050 ergeben, werden dargestellt und mit den Ergebnissen ver-gleichbarer Studien verglichen.
Ergebnisse des 26. World Energy Congress
In den Sitzungen, den side-events im Aus-stellungsbereich und in den Pausen fand ein intensiver Gedankenaustausch statt im Rahmen dieses einzigartigen globalen Netz-werks mit über 3.000 Mitgliedsorganisationen aus mehr als 70 Ländern. Dabei hatte der Kongress fünf Schwerpunktthemen:
- Humanising energy: Eine dezentralere Energiewelt führt auch zu Herausforderungen beim Thema soziale Akzeptanz, da die Menschen stärkere Veränderungen in ihrer direkten Umgebung wahrnehmen – sowohl durch neue Infrastruktur als auch durch etwaige Änderungen im Nutzerverhalten. Der Erfolg von Transformationen ist damit stark von der Zustimmung vor Ort abhängig.
- Navigating new energy maps: Die Krisen in den letzten Jahren haben zu einer Refokussierung der Energiewelt geführt: insbesondere Versorgungssicherheit wurde nun zu einem bedeutenderen Treiber. Bei den diversen Energiewenden wurde über Korrekturen in Bezug auf Ziele und Geschwindigkeit als Reaktion auf die Krisen nachgedacht.
- Refuelling the future: Die intensivere Nutzung erneuerbarer Energien reduziert zwar die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen – erhöht aber gleichzeitig die Abhängigkeit von kritischen Mineralien. Damit stellen sich für die Produkte wie PV-Module, Windanlagen, Speicher und Elektrolyseure nicht nur die Herausforderungen, das neue Energiesystem stabil und kostengünstig zu versorgen sowie benötigte Innovationen zu ermöglichen, sondern auch neue geopolitische Herausforderungen.
- Pathfinding with the World Energy Trilemma: Der Trilemma-Report ist eine Flaggschiffstudie des Weltenergierats: über 120 Länder werden bewertet in Bezug auf ihre nationale Energiepolitik und das Erreichen des Zieldreiecks aus Versorgungssicherheit, Energiepreisen und Umweltverträglichkeit.
- Closing the gaps: Die stattfindenden Energiewenden sind insgesamt nicht schnell genug, um die globale Erwärmung auf 1,5°C zu begrenzen. Dabei treten eine Vielzahl von Herausforderungen auf, wie z.B. mangelnder politischer Wille, Investitionsengpässe, Verzögerungen beim Infrastrukturausbau und soziale Ungleichgewichte.
Im Rahmen der Diskussionen haben sich die folgenden 12 Punkte als bestimmende Themen herauskristallisiert. Die Diskussionen waren dabei durch einen sehr sachlichen und lösungsorientierten Tonfall geprägt. Das Interesse, andere Standpunkte nachzuvollziehen und voneinander zu lernen, war ausgesprochen hoch:
Eine multipolare Welt wird wahrscheinlicher. Die bereits genannten geopolitischen Spannungen werden auch in Zukunft an der Energiewelt nicht spurlos vorbeigehen. Das führt zu einer stärkeren Betonung von Versorgungssicherheit und auch von Bezahlbarkeit. Neue Blockbildungen sind nicht auszuschließen, ein selbstbewusst werdender globaler Süden empfindet das westliche Modell nicht mehr automatisch als attraktives Ziel. Damit können sich neue Handelsrouten ergeben sowohl für Primärenergieträger als auch für Ausrüstung und Maschinen aus dem Bereich der Energieinfrastruktur.
Die spezifischen Gegebenheiten in den einzelnen Weltregionen führen zu unterschiedlichen Wegen zur Klimaneutralität. Es besteht breites Einvernehmen, dass die Treibhausgasemissionen weltweit verringert werden sollen. Allerdings unterscheiden sich die gewählten Wege. Das gilt zum einen für die Vermeidungsziele, aber noch sehr viel stärker für die in Betracht kommenden Technologien, die regulatorische Umsetzung und die Verteilung der Kosten: Klimaschutzziele müssen eben stets an die Gegebenheiten vor Ort angepasst werden – die einfache Übernahme einer Blaupause aus einer anderen Region ist nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Insbesondere bei den technischen Lösungen sollte man immer von einem breiten Mix („Blumenstrauß“) an Ansätzen ausgehen, um das Risiko von Technologieversagen zu verringern.
Umsetzung ist oberste Priorität. Eine Diskussion, ob Ziele erreichbar sind, oder zu wenig ambitioniert und daher verschärft werden sollten, wurde im Allgemeinen als nicht zielführend betrachtet. Es wurde betont, dass wesentliche Technologien bereits vorhanden sind und es daher auf die Umsetzung und Implementierung ankommt. Im Ausstellungsbereich des World Energy Congress wurden konsequenterweise auch viele Beispiele für realisierte Projekte gezeigt, mit offshore-Wind, CCS und Kernkraft. Optimierungspotential, das während der Umsetzung erkennbar wird, kann dann gleich genutzt werden, um das weitere Vorgehen besser zu gestalten. Umgekehrt gilt allerdings auch: eine sehr starke Skalierung einer noch nicht ausgereiften Technologie kann zu einem unerwünschten lock-in-Effekt führen.
Zielpfade müssen robust sein. Die Krisen in den letzten Jahren haben sehr deutlich vor Augen geführt, dass eine Planung über mehrere Jahrzehnte kaum machbar ist bzw. immer wieder angepasst werden muss, um neue Entwicklungen zu beachten und damit auf stets vorkommende Zielabweichungen zu reagieren. Durch Szenarioanalysen und die Bewertung von Sensitivitäten erhält man zumindest eine bessere Idee, was no-regret-Investitionen sein können und bei welchen Themen mit einer Anpassung zu rechnen ist.
Technologieoffenheit ist der Schlüssel zur Zielerreichung. Breiter Konsens bestand darüber, dass die Nutzung aller Technologien geboten ist. Weil der Klimawandel ein drängendes Problem ist, wird eine Verengung auf ausgewählte Technologien als nicht erfolgversprechend bewertet. Die Transformation zu einem Energiesystem auf einer breiteren Technologiebasis wird zu einem robusteren Portfolio führen, das weniger anfällig ist, falls eine Technologie die Erwartungen nicht erfüllen kann. Gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Sorgen in Bezug auf Versorgungssicherheit wurde dieser Punkt immer wieder adressiert.
Innovationen spielen als Enabler stets eine Schlüsselrolle. Auf dem Weg zu einem neuen Energiesystem ist kontinuierlich mit neuen Herausforderungen zu rechnen, so dass Entwicklung und Einsatz von Innovationen unabdingbar sind. Die zentrale Aufgabe des Staates wird in einer verstärkten Förderung der Grundlagenforschung gesehen. Als die Zukunft besonders prägende Themen wurden auf dem World Energy Congress Künstliche Intelligenz (KI) und Wasserstoff genannt. KI kann dabei sowohl in etablierten Wertschöpfungsketten für eine bessere Optimierung sorgen (z.B. Vorhersagen von Preis, Wetter, Netzzuständen; predictive maintenance) als auch zu einer stärkeren Integration von Verbrauchern in das Energiesystem führen (z.B. Nutzung kurzfristiger Flexibilität; demand response; Speicheroptimierung). Wasserstoff wird als bedeutsam für die tiefe Dekarbonisierung gesehen. Dabei steht, so die Einschätzung, vor allem die Nutzung als Rohstoff bei industriellen Prozessen (z.B. Stahl, Düngemittel, Chemie, Zement) im Vordergrund. Die energetische Verwendung als Treibstoff im Frachtverkehr oder zur saisonalen Speicherung wurde erst als nächster Schritt eingeschätzt. Der beträchtliche Strombedarf bei elektrolytischer Herstellung führt zur Etablierung eines globalen Wasserstoffhandels. Vor allem dichtbesiedelte und stark industrialisierte Regionen, z.B. Japan und Südkorea, werden auf Basis bereits bestehender Einfuhrstrategien importieren.
Eine robuste Energieinfrastruktur und deren Digitalisierung ist unabdingbare Voraussetzung. Die Krisen der letzten Jahre führten zu einer stärkeren Betonung der Versorgungssicherheit – konsequenterweise ist die Energieinfrastruktur damit wieder im Fokus: Netzausbau, Speicher und Back-up-Kraftwerke werden im Zusammenhang mit dem Ausbau intermittierender erneuerbarer Erzeugung immer dringender benötigt. Zudem rückt der Ausbau saisonaler Speicherung verstärkt in den Fokus – naturgemäß in den Regionen mit starken jahreszeitlichen Schwankungen. Diese Aufgabe wird gegenwärtig vor allem von Gas übernommen; der Klimaschutz erfordert hier z.B. eine Nutzung von CCS oder Speicherung mittels synthetischer Brennstoffe auf Wasserstoffbasis. Eine stärkere Integration der Verbraucher mittels demand response wurde ebenso als wesentlicher Teil der Lösung gesehen, auch um Lastspitzen zu verringern, die z.B. bei Wärmepumpen auftreten können. Digitalisierung ermöglicht dann ein koordiniertes Zusammenspiel der Vielzahl von Komponenten eines sektorgekoppelten dezentralen Energiesystems.
Kosten für Infrastrukturausbau müssen verlässlich verteilt werden. Die Transformation eines Energiesystems erfordert massive Investitionen in den Ausbau und die Ertüchtigung der Infrastruktur. Hierbei sollte klar und verbindlich festgelegt werden, wer welchen Anteil an den Kosten im regulierten Geschäft trägt: die öffentliche Hand durch den Einsatz von Steuermitteln oder die Energieverbraucher über Entgelte. Es bestand Einvernehmen, dass sich der Stromverbrauch weltweit künftig stark erhöhen wird und der wachsende Bedarf vor allem durch erneuerbare Energien gedeckt werden wird. Von vielen Teilnehmern wurde betont, dass Kapazitätsmechanismen zum Erhalt der Versorgungssicherheit notwendig seien. Der Energy-only-Markt bietet bei verstärktem Ausbau der erneuerbaren Energien und damit einhergehenden rückläufigen Einsatzstunden der steuerbaren konventionellen Kraftwerke keine hinreichenden Erlöse zur Deckung der Kosten. Zudem habe sich in der Realität gezeigt, dass bei hohen Marktpreisen für Strom oder für andere Energieträger staatlicherseits Markteingriffe erfolgen, um Preisspitzen zu kappen. Damit besteht keine Gewähr, dass Unternehmen hinreichende Erlöse über zeitweise hohe Knappheitspreise erzielen können.
Ein zuverlässiger Zugang zu Kapitalmärkten beschleunigt die Transformation. Die „Null-Zins-Phase“ ist zu Ende. In den letzten zwei Jahren stiegen die Zinsen stark, da sich die Zentralbanken bemühten, die Inflation zu bekämpfen. Regierungen, Unternehmen und Haushalte sind mit deutlich höheren Marktzinsen und Anleiherenditen konfrontiert, die sogar noch weiter steigen könnten. Der Anstieg der Kapitalkosten hat tiefgreifende Auswirkungen auf die Energie- und Rohstoffindustrie, insbesondere auf die Kosten und das Tempo des Übergangs zu kohlenstoffarmen Technologien. Da viele der hier genutzten Technologien stark CAPEX-lastig sind, hat das Zinsumfeld eine sehr signifikante Wirkung auf die Investitionen. Die Transformation des Energiesystems wird sehr stark von privatem Kapital getrieben; damit erleichtern und beschleunigen ein effizienter Kapitalmarkt und seine Verknüpfung mit den Energiemärkten die notwendigen Investitionen in Energieinfrastruktur. Insbesondere für die EU wäre eine Kapitalmarktunion dringend erforderlich.
Märkte führen zu robusten Lösungen. Die Energiekrisen in den letzten Jahren haben insbesondere in Europa zu starken Verwerfungen in den Strom- und Gasmärkten geführt. Die Möglichkeit des europaweiten Stromaustausches und des weltweiten Gashandels haben hierbei eine sichere Versorgung gewährleistet: die Marktmechanismen haben sich als äußerst robust erwiesen. Der rasche Wandel der Technologien, eine dezentraler werdende Infrastruktur und die zunehmende Anzahl auch kleinerer Player in den Energiemärkten kann in einem soliden Marktdesign sehr gut umgesetzt werden, wohingegen staatliches Mikromanagement in den Diskussionen beim Kongress als ineffizient und damit wenig zukunftsträchtig bewertet wurde.
Preiswettbewerb ist wesentlich für Nachhaltigkeit. Die künftigen Lösungen zur Energieversorgung müssen sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich nachhaltig sein. Ein stabiler und vorhersehbarer regulatorischer Rahmen trägt wesentlich dazu bei, volkswirtschaftliche Verluste durch „stranded assets“ zu vermeiden oder zumindest zu begrenzen. Bei reifen Technologien hilft die Suchfunktion des Marktes, einen geeigneten Energieversorgungsmix zu etablieren, über Fördersysteme können Technologien bis vor der Marktreife unterstützt werden. Durch diese Maßnahmen (unterstützt durch eine CO2-Bepreisung) werden die künftigen Lösungen durch ihre Wettbewerbsfähigkeit die existenten Lösungen verdrängen.
Eine CO2-Bepreisung ist unerlässlich. Breiter Konsens bestand auch in der Anwendung einer CO2-Bepreisung, die sich z.B. durch Marktsignale eines knapper werdenden Marktes schrittweise verstärkt. Idealerweise sollte dies weltweit harmonisiert erfolgen. Der Klimaklub der G7 und weiterer Länder stellt einen ersten wichtigen Schritt dar, der durch eine Umsetzung im Rahmen der G20 vergrößert werden könnte. Diese Preissignale würden in einem technologieoffenen Rahmen die effizientesten Anreize zur Umsetzung von Klimaneutralität geben. Zudem wäre dies ein stabiler Rahmen, in dem Unternehmen die jeweils angestrebten Klimaziele verwirklichen könnten.
Naturgemäß werden bei einer globalen Konferenz die Details weniger intensiv diskutiert. Dennoch war es erstaunlich festzustellen, wie stark doch diese zwölf Punkte in den Diskussionen immer wieder eine große Rolle gespielt haben. Deutlich spürbar war auch das Interesse, dass diese Ansätze zu einem resilienten und krisenfesten Energiesystem führen würden: die Krisen der letzten Jahre waren weltweit spürbar.
Die Diskussion in Rotterdam wurde – ebenso wie schon bei den letzten Kongressen – in hohem Maße durch die „Future Energy Leaders“ bereichert: 100 junge Menschen, die im Energiebereich häufig in führenden Positionen tätig sind, wobei über 65 Länder repräsentiert werden und knapp die Hälfte Frauen sind. Dank dieses Programms ist gewährleistet, dass stets frische und außergewöhnliche Ideen in die Diskussionen beim Weltenergierat eingebracht werden.
Aus europäischer Sicht erwähnenswert war noch ein privater Roundtable von Eurelectric mit der Energiekommissarin Kadri Simson. Die Studie „Grids for Speed“ wird offiziell am 22. Mai 2024 beim Power Summit in Athen vorgestellt, erste Ergebnisse wurden aber bereits präsentiert.