Abb. 1 Szenariendefinition

Abb. 1 Szenariendefinition (Quelle: d-fine)

Langfristig wird sich durch die geänderte geopolitische Lage die Struktur des europäischen Energiesystems signifikant verändern. Im Rahmen eines gemeinsamen Projekts mit europäischen Strom- und Gasnetzbetreibern hat das europäische Beratungsunternehmen d fine die Auswirkungen der neuen Gasversorgungslage auf das deutsche und europäische Energiesystem bis zum Jahr 2030 modellgestützt analysiert und bewertet. Das Ergebnis ist überwiegend positiv und zeigt nur für spezifische Szenarien erhöhten Handlungsbedarf auf.

Anfang April 2023 waren die Gasspeicher in Deutschland zu 64 % gefüllt, etwas unterhalb des Maximums der vergangenen fünf Jahre (72 %) und deutlich über dem Vorjahresniveau 2022 (27 %) [1, 2]. Die Vorbereitung auf den Winter 2023/2024 bleibt gemäß der Bundesnetzagentur (BNetzA) dennoch eine zentrale Herausforderung [1]. Kurzfristig liegen die wesentlichen Risiken in geringeren Gasimporten, etwa aufgrund niedriger LNG-Verfügbarkeiten, sowie in einer erhöhten Nachfrage, die beispielsweise durch einen kalten Winter oder eine durch verstärkte Gasverstromung infolge witterungs- bzw. wartungsbedingt reduzierter Kraftwerksverfügbarkeiten bei Wasser-, Kernenergie- oder Kohlekraftwerken hervorgerufen werden könnte. 

Mittelfristig soll eine beschleunigte Sektorenkopplung durch Ausbau erneuerbarer Energien, Elektroautos und Wärmepumpen dazu beitragen, die Abhängigkeit von Gasimporten zu reduzieren. Beispielsweise sollen ab 2024 pro Jahr 500.000 Wärmepumpen in Deutschland neu installiert werden. Auch ein weitestgehendes Verbot neuer Öl- und Gasheizungen durch Forderung eines Mindestanteils von 65 % erneuerbarer Energien in neu installierten Heizungssystemen wird in Deutschland diskutiert. Gleichzeitig werden von der Politik umfangreiche Fördermechanismen etabliert, um die Transformation des Energiesystems zu beschleunigen. Zudem wurden bereits zusätzliche Maßnahmen ergriffen, die den aktuellen Preis- und Kostensteigerungen entgegenwirken sollen. 

Im Fokus steht die Sicherstellung der Versorgungssicherheit in den kommenden Wintern 

Mit einem sektorengekoppelten Modellansatz kann die Energieversorgungssicherheit des europäischen Energiesystems in verschiedenen Szenarien analysiert und die Auswirkungen kurzfristiger Risiken, (z. B. kalte Winter oder Lieferausfälle) und mittelfristiger Investitionspfade bis 2030 quantitativ bewertet werden. Auf Basis der Szenarienergebnisse können Antworten auf eine Reihe von Fragen geliefert werden: Wie werden sich die kommenden beiden Winter unter verschiedenen Bedingungen entwickeln? In welcher Situation drohen Versorgungsrisiken? Und welche unterschiedlichen Auswirkungen haben diese Szenarien mittelfristig auf die Energiewende bis 2030?

Ein integrierter Modellansatz ermöglicht die sektorenübergreifende Bewertung der neuen Gasversorgungslage

Das in dieser Studie verwendete Energiesystemmodell basiert auf dem Open-Source-Energiesystemmodell „PyPSA-Eur-Sec“ [3-5]. Es umfasst die Sektoren Energiewirtschaft, Haushalte, Gewerbe / Handel / Dienstleistungen (GHD), Industrie und Verkehr aller europäischen Länder und ermöglicht eine integrierte Optimierung dieser Sektoren hinsichtlich der Gesamtkosten. Eine detaillierte Beschreibung für eine Basis des Modells findet sich in [6]. In diesem Projekt wurden speziell Ergebnisse für Deutschland und Gesamteuropa im Detail analysiert. 

Um den Einfluss auf die kurzfristige Gasversorgungslage in Deutschland im gesamteuropäischen Kontext zu bewerten, wird das Modell an die aktuellen Entwicklungen in den Jahren 2022-2025 und die kurz- bis mittelfristige Sicht bis zum Jahr 2030 ausgerichtet. Das beinhaltet unter anderem die folgenden Funktionalitäten:

  • Betrachtung der Jahre 2022 bis 2025 sowie 2030;
  • Abbildung der Kraftwerkskapazitäten unter Berücksichtigung der Bedarfsanalyse der Übertragungsnetzbetreiber sowie der Langfristszenarien [7, 8];
  • Berücksichtigung der EU-Klimaziele im Rahmen der „Fit-for-55“-Vorgaben zur Emissionsreduktion (- 55 % bis 2030 ggü. 1990 für den gesamten Modellraum);
  • Berücksichtigung des Gebäude-Wärmebedarfs in Abhängigkeit zeitlich und räumlich hochaufgelöster Außentemperaturprofile;
  • Exogene Reduktion des Wärmebedarfs durch Abriss/Neubau und Erneuerung des Gebäudebestands mittels Sanierung in Europa um 1,1 %/a;
  • Berücksichtigung von Kraftwerksausfällen durch Wartung (z. B. Kernkraft in Frankreich) und Niedrigwasser in Europa (reduzierte Verfügbarkeit thermischer -/Wasserkraftwerke);
  • Tagesscharfe Zeitreihen der historischen europäischen Gasspeicherfüllstände und Gasimportmengen (bis Mitte März 2023);
  • Implementierung einer solidarischen Gasversorgung in Anlehnung an die EU-Verordnung 2017/1938, die im Notfall innerhalb der EU Aushilfslieferungen zwischen Staaten vorschreibt. Das Modell optimiert daher die europaweiten Gastransporte so, dass in jedem Land zu jedem Zeitpunkt mindestens 25 % der jeweiligen Gasnachfrage bedient werden können.
  • Implementierung eines Mechanismus, um auftretende Gasfehlmengen und somit eine nicht gedeckte Nachfrage zu simulieren;
  • Implementierung des Gasfernleitungsnetzes gemäß ENTSO-G und des deutschen Netzentwicklungsplans Gas 2022 sowie Berücksichtigung von LNG-Terminal-Kapazitäten fund deren Ausbau ür Gesamteuropa gemäß GIE LNG [2, 9-11];
  • Einsatz von LNG-Terminals als separate Gas-Importquelle.

Der Technologiemix im Strom- und Gebäudewärmesektor wird modellendogen optimiert. Die Obergrenzen für den Ausbau der erneuerbaren Energien (insb. Wind und Photovoltaik) in den fünf Szenarien richten sich dabei nach den Annahmen der Mittelfristprognose, den Langfristszenarien, dem Netzentwicklungsplan Strom sowie dem TYNDP [7, 12-14]. Die Energienachfrage der Industrie wird im Modell berücksichtigt. Zur Nachfrageentwicklung in der Industrie werden exogene Annahmen getroffen.

Die im Modell erfasste Gasnachfrage ergibt sich aus dem Gaseinsatz in allen betrachteten Sektoren. Eine Gasversorgungslücke in einem Land würde auftreten, sobald die inländische Gasnachfrage durch die Gasreserven des Landes, Importe und inländische Erzeugung nicht vollständig gedeckt werden kann. 

Mögliche Risiken der Gasversorgung werden in unterschiedlichen Risikoszenarien analysiert 

Ausgehend von verschiedenen möglichen Risiken werden zur Bewertung der neuen Gasversorgungslage folgende Szenarien betrachtet (vgl. Abb. 1):

  • Basisszenario: Referenzfall unter Berücksichtigung aktueller Trends in der exogenen Nachfrage, bei zu erwartenden Effizienzsteigerungen in den modellierten Sektoren bis zum Jahr 2030 sowie aktuelle Preistrends für fossile Brennstoffe (vgl.Tab. 2). 

Aufbauend auf dem Basisszenario werden folgende Risiken analysiert:

  • Risiko A: Kurzfristig reduzierte Gaslieferungen (insb. LNG-Lieferungen und europäische Produktion in der Nordsee) zusätzlich zum vollständigen Lieferstopp für russisches Gas auch über die südosteuropäischen Routen.
  • Risiko B: Höhere Wärmenachfrage aufgrund kalter Winter.
  • Risiko C: Reduzierte Kraftwerksverfügbarkeiten (Wasserkraft, Kohle- und Kernkraftwerke) infolge von Niedrigwasser.
  • Risiko ABC: Extremszenario als Kombination der betrachteten Risikofaktoren.

Die Gasimportpotenziale in Europa für 2023 beruhen auf jährlichen physischen Flüssen des Jahres 2022 unter Berücksichtigung der je nach Szenario vollständig oder zum Teil zurückgefahrenen Gasimporte aus Russland über ausgewählte Übergabepunkte (vgl. Tab.  1). LNG-Importpotenziale für das Jahr 2023 und die Folgejahre basieren auf aktuellen technischen Kapazitäten der GIE LNG und einer gemittelten Auslastung des Zeitraums Jan.-Okt. 2022 [2]. Russisches Gas wird im Basisszenario weiterhin über die Transgas-Pipeline in die Slowakei (ca. 174 TWh/a), über Turkstream nach Bulgarien (ca. 139 TWh/a) und in kleinen Mengen nach Litauen über Belarus (ca. 19 TWh/a) in den Bilanzraum transportiert. 

Die Datengrundlage ist auch konsistent zum „Monitoringbericht 2022“ der BNetzA und des Bundeskartellamtes [10]. Die Modellrechnungen setzen auf den Rahmendaten zum Gasmarkt auf und liefern detaillierte Einblicke in die mögliche Entwicklung des europäischen Energiesystems bis 2030 unter den folgenden Szenarioannahmen:

Im Risiko A-Szenario werden die Gasimporte aus Russland ab Mai 2023 vollständig zurückgefahren und gleichzeitig die norwegischen Pipeline-Importe sowie die LNG-Importe um jeweils 15 % reduziert.

Im Basisszenario sowie in den Szenarien Risiko A und Risiko C wird von einer dauerhaft reduzierten Gasnachfrage bei Industrie sowie in Haushalten und im GHD-Sektor ausgegangen (- 15 % ggü. 2021). In der Industrie ist dies auf Produktionsumstellungen zurückzuführen (insb. Substitution von Gas durch andere Rohstoffe), im Haushalts- und GHD-Bereich auf eine verringerte Wärmenachfrage durch Verhaltensänderungen sowie Wechsel zu alternativen Heizsystemen, u.a. motiviert durch hohe Energiepreise. 

Im Risiko B-Szenario wird hingegen mit einem Auslaufen der Gaseinsparungen gerechnet und zusätzlich eine witterungsbedingte Erhöhung der Wärmenachfrage in Deutschland und Europa um durchschnittlich + 15 % gegenüber 2022 angenommen, was insgesamt einer Erhöhung um ca. 10 % gegenüber dem Vorkrisenniveau von 2021 entspricht.

Im Risiko C-Szenario betrachten wir unterschiedliche Ausfallgründe bei Kraftwerken. Dies umfasst die reduzierte Verfügbarkeit von Kernkraftwerken in Frankreich (44 % unterhalb des Niveaus von 2021) [15]. Gleichzeitig führen niedrige Flusspegelstände und eine dünne Schneedecke zu einer reduzierten Stromproduktion aus Lauf- und Speicherwasserkraftwerken. Hierzu ziehen wir die Wasserkrafterzeugung je Land aus dem trockensten Klimajahr im Zeitraum von 1982-2017 heran und berechnen die Veränderung zum betrachteten Wetterjahr 2012. Die Verfügbarkeit von thermischen Kraftwerken (insb. Kohle- und Kernkraft) geht durch niedrige Flusspegel aufgrund von mangelndem Kühlwasser und Kohletransportschwierigkeiten ebenfalls zurück.

Tab. 1 Annahmen zum Gasaufkommen in Europa
 
Einheit
Alle
Szenarien
Basis + Risiko B + Risiko C Risiko A + Risiko ABC
2022 2023 2024 2025-2030 2023 2024 2025-2030
Importpotenzial Pipeline [TWh/a] 2.293 2.011 2.011 2.011 1.611 1.500 1.500
davon russisches Gas [TWh/a] 697 332 332 332 111 0 0
davon norweg. Gas [TWh/a] 1.104 1.186 1.186 1.186 1.008 1.008 1.008
davon andere Herkunft [TWh/a] 492 492 492 492 492 492 492
Zusätzliches Förderpotential Norwegen [TWh/a] 300 300 300 300 300 300 300
Zusätzliches Förderpotential Niederlande [TWh/a] 209 209 209 209 209 209 209
Importpotential LNG [TWh/a] 1.580 2.098 2.098 2.281 1.783 1.783 1.939
Verfügbare Gasmenge [TWh/a] 4.382 4.618 4.618 4.801 3.903 3.792 3.948
Tab. 2 Angenommene Brennstoffpreisentwicklung in Europa
Energieträger Einheit 2022 2023 2024 2025 2030
Kohle [TWh/a] 37 28 25 22 11
Öl [TWh/a] 55 51 44 29 28
Gas [TWh/a] 126 100 88 53 24
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