Bei Auftreten einzelner Risikofälle ist die europäische Gasversorgung gesichert

Abb. 2 Gasspeicherfüllstand in Deutschland in den fünf Szenarien

Abb. 2 Gasspeicherfüllstand in Deutschland in den fünf Szenarien
(Quellen: Historische Werte gemäß [2]; ab April 2023 eigene Modellergebnisse)

In Abb. 2 sind die Verläufe der deutschen Gasspeicherfüllstände von 2023 bis 2025 als Modellergebnis der untersuchten Szenarien dargestellt. Bis auf das Extremszenario (Risiko ABC) tritt in keinem Szenario in Deutschland und in Europa eine Gasknappheit auf. Die Gasnachfrage ist durch die Versorgung über Pipelines sowie LNG zu jedem Zeitpunkt in ganz Europa sichergestellt. Erkennbar ist dies an den saisonal zyklischen Verläufen der Gasspeicher. Die Deckung der Nachfragespitzen in den Heizperioden wird durch kontinuierliche Entleerung der Speicher unterstützt, während die Speicherfüllstände in den Sommermonaten wieder ansteigen. Die Gasspeicher können bis zum Winter 23/24 und in den Folgejahren wieder ausreichend befüllt werden. In allen Szenarien mit Ausnahme der Risiko-ABC-Sensitivität und allen Stützjahren sind die Gasspeicher in Deutschland zum 31.12. nahe der maximalen Speicherkapazität gefüllt. Die Mindestfüllstände zu ausgewählten Stichtagen (z. B. von 95 % zum 30.11.) gemäß dem Gasspeichergesetz (§ 35b EnWG) sowie der Verordnung des BMWK (§ 1 GasSpFüllstV) werden dem Modell nicht explizit als Nebenbedingung vorgegeben.

Im Extremszenario sind zusätzliche Gaseinsparungen erforderlich

Im Extremszenario mit kombinierten Risikofaktoren (Risiko ABC) treten unter den gegebenen Annahmen Versorgungsengpässe ab März 2024 auf. In dem Fall, dass gleichzeitig Lieferausfälle, verringerte Kraftwerksverfügbarkeiten (Kohle, Kernenergie, Wasserkraft) und zwei aufeinander folgende kalte Winter mit einer höheren Wärmenachfrage und dadurch bedingtem erhöhtem Gasverbrauch auftreten, zeigen sich fast überall in Europa Gasknappheiten. Eine regionale Gasknappheit kann dabei trotz Gas-Restmengen in Gasspeichern bei niedrigen Füllständen (< 40 %) auftreten. Um eine Versorgungslücke in Europa zu vermeiden und die Gasnachfrage stets decken zu können, sind in einer solchen Situation spätestens im Winter 2024/2025 zusätzliche Gaseinsparungen in Höhe von mindestens 38 TWh (rund 1 % der Gesamtgasnachfrage) erforderlich (vgl. Tab. 4).

In Europa sind insbesondere die südosteuropäischen Länder betroffen (z. B. Rumänien, Bulgarien). Es kommt daher auch zu stärkeren Transiten in Deutschland (vgl. Tab. 4). Insgesamt verschiebt sich aufgrund der veränderten Gasversorgungssituation die Transitachse der Gasdurchleitungen in Deutschland von Nord-Ost nach Süd-West hin zu einem Gastransport von Nord-West in Richtung Süd-Ost. Die Solidaritätsklausel aus der Verordnung der EU2017/1938 muss nicht eingesetzt werden. Im Vergleich zum Basisszenario, in dem noch ein Teil des Gasimports aus Russland stammt, verliert die Gastransitachse Nord-Süd bis zum Jahr 2025 an Bedeutung und die Gasexporte Deutschlands sinken (vgl. Tab. 4).

Das Risiko verminderter Gasimporte besteht weiterhin

Deutschland und Europa beziehen weiterhin Gas aus russischen Quellen. Diese Abhängigkeit ist nicht frei von Risiken. Werden auch die letzten russischen Gasimporte per Pipeline nach Südosteuropa eingestellt (aktuell ca. 6-7 % der europäischen Gasimporte) und kommt es simultan zu ungeplanten Produktionsrückgängen in der Nordsee in Verbindung mit einer stark steigenden globalen LNG-Nachfrage kann der Druck auf die Gasversorgung in Europa deutlich zunehmen. 

Die Gaseinsparungen aus dem vergangenen Winter waren wichtig und sind weiterhin erforderlich

Im Falle erhöhter Wärmebedarfe aufgrund kalter Winter können die europaweit umgesetzten Einsparungen den Druck auf die Gasversorgungslage vermindern. Ein Vergleich der Speicherfüllstände zwischen dem Basisszenario und dem Risiko B-Szenario zeigt den Einfluss der höheren Gasnachfrage deutlich (vgl. Abb.  2). Ohne entsprechende Einsparungen würden die Gasspeicher bis zum Ende der Heizperiode im März bzw. April stärker entleert werden und das Risiko einer Unterversorgung mit Gas somit erhöhen.

Mittelfristig ist die technologische Transformation des Energiesystems unumgänglich

Für eine stufenweise Entspannung der Gas- und Energieversorgungssituation sind mehrere Lösungsansätze hinsichtlich der Transformation des Energiesystems bzw. der Substitution von Gasverbrauchskapazitäten denkbar. Der aus modellendogener Kapazitätsoptimierungssicht kostenminimale Weg hebt insbesondere die Bedeutung des Ausbaus der Stromerzeugungskapazitäten aus erneuerbaren Energien hervor, wie Tab. 3 zeigt. In Europa werden im Jahr 2030 die angenommenen Ausbaugrenzen für Photovoltaik und Wind (onshore) gemäß TYNDP in allen Szenarien erreicht [12, 14]. 

Durch die veränderte Gasversorgungssituation findet aktuell eine beschleunigte Transformation im europäischen Energiesystem statt. Dazu zählen neben Einsparungen durch Verhaltensänderungen in allen Sektoren verstärkte Gasimporte aus Norwegen und den Niederlanden, der Ausbau und die gestiegene Auslastung von LNG-Terminals in Europa sowie ein gesteigertes Interesse an der regionalen Produktion von Syn- und Bio-Methan. Die im Vergleich zu 2021 höheren Kosten der Gasversorgung führen jedoch zu einer schnelleren Substitution von Gas durch alternative Energieträger im Vergleich zum Vorkrisenniveau, um schon mittelfristig eine Reduktion des Gasverbrauchs zu erzielen. 

Grundsätzlich muss in der Energieversorgung stärker „europäisch gedacht“ werden

Neben Deutschland weisen insbesondere die Länder eine Erhöhung des Stromhandelsvolumens auf, die ebenfalls vom Ausfall russischer Gasimporte direkt betroffen sind (z. B. Polen, Bulgarien, Slowakei, Lettland, Finnland). Somit steigt die Bedeutung des innereuropäischen Energiehandels über die vorhandenen Kuppelkapazitäten. Durch die veränderte Gasimportstruktur ergibt sich eine verstärkte Zunahme der innereuropäischen Gastransite sowie des Stromhandels. Demnach wird die Bedeutung einer gesamteuropäischen Lösungsfindung hinsichtlich der Gas- und Stromversorgung sowie Verteilung bzw. der Energiebeschaffung ersichtlich. Die veränderten Gastransite in Europa unterstreichen die Wichtigkeit einer länderübergreifenden, koordinierten Planung von Grenzübergabekapazitäten von Fernleitungs- und Verteilernetzen. Langfristige Erfahrungswerte für die veränderten Transportströme und möglicherweise damit verbundene Netzengpässe im Gasnetz fehlen jedoch derzeit noch. Daten aus dem Sommer 2022 zeigen einen Wechsel der Gasflussrichtung. Langfristig wird der Wechsel auch einen Einfluss auf die Planung von Verteilernetzen haben. Der im Risikofall ABC auftretende Gasmangel weist auf die kurz- und mittelfristige Notwendigkeit einer Vergrößerung des Gasangebots in Deutschland und in Europa hin.

Als Reaktion auf die zwischenzeitlich angespannte Gasversorgungslage ist bis 2025 geplant, die LNG- Importkapazitäten in ganz Europa um bis zu 99 Mrd. m³ Erdgas pro Jahr auszubauen [2]. Unter der Annahme, dass diese zusätzlichen Importpotenziale realisiert werden können, entspannt sich die Gasversorgungslage in Gesamteuropa signifikant. Zu großen Teilen werden diese neu geplanten Kapazitäten bereits im Hinblick auf eine zunehmende Dekarbonisierung auf den Import von Wasserstoff bzw. Wasserstoffderivaten ausgelegt [18,19].

Fazit

Die Modellergebnisse zeigen, dass die europäische Gasversorgung bei Auftreten einzelner Risikofälle gesichert ist. Die bisher erfolgten und weiterhin geplanten Ausweitungen der europäischen LNG- und Transportkapazitäten leisten dazu einen wichtigen Beitrag. Die Gaseinsparungen aus dem vergangenen Winter waren jedoch wichtig, um Versorgungsengpässe zu vermeiden, und sind zum Teil weiterhin erforderlich. Insbesondere witterungsbedingte Schwankungen in der Wärmenachfrage können zu Engpässen in der Gasversorgung führen. Bei einer gleichzeitigen Verkettung der betrachteten Risikofaktoren auf der Angebots- und Nachfrageseite sind im Extremfall zusätzliche Gaseinsparungen erforderlich. Mittelfristig ist die technologische Transformation des Energiesystems alternativlos. Eine beschleunigte Dekarbonisierung in Verbindung mit einer ausgedehnten Sektorenkopplung wird die Resilienz des Energiesystems spürbar stärken. 

In Anbetracht der dynamischen Entwicklungen im Energiesektor schlagen wir eine regelmäßige Aktualisierung der Modellrechnungen vor. Die quantitativen Ergebnisse stellen die Basis für passgenaue Maßnahmen dar.

Tab. 3 Mittelfristige Transformation des Energiesystems bis 2030 in Deutschland und Europa
  Einheit2021BasisRisiko ARisiko BRisiko CRisiko ABC
PhotovoltaikDeutschlandInstallierte Leistung in GW59205205205205205
PhotovoltaikEuropaInstallierte Leistung in GW202645645645645645
Wind onshoreDeutschlandInstallierte Leistung in GW56103103103103103
Wind onshoreEuropaInstallierte Leistung in GW194365365365365365
Wind onshoreDeutschlandInstallierte Leistung in GW83232323232
Wind onshoreEuropaInstallierte Leistung in GW27102103102102104
Tab. 4 Kurzfristiger Ausbau der Kapazitäten und Veränderung des Strom- und Gashandels bis 2025
  EinheitBasisRisiko ARisiko BRisiko CRisiko ABC

Gasfehlmengen (Europa)

TWh

0

0

0

0

38

(im Jahr 2024)

Stromhandelsvolumen (Deutschland)

Veränderung 2025

vs. 2022 (in %)

+ 6,1

+ 6,6

+ 4,1

+ 5,7

+ 12,3

Gasexporte (Deutschland)

 

Veränderung 2025

vs. 2022 (in %)

- 59

+ 60

- 44

- 61

+ 90

Quellen

[1] Bundesnetzagentur: Aktuelle Lage Gasversorgung, Stand 30.03.2023, https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Gasversorgung/aktuelle_gasversorgung/start.html
[2] Gas Infrastructure Europe: Energy Transparency, Stand 04.04.2023, https://www.gie.eu/transparency/
[3] Brown, T. et al.: Synergies of sector coupling and transmission reinforcement in a cost-optimised, highly renewable Euro-pean energy system. In: Energy, Vol. 160, pp. 720-739, 2018
[4] PyPSA-Eur-Sec: A Sector-Coupled Open Optimisation Model of the European Energy System, Stand 06.04.2023 https://github.com/PyPSA/pypsa-eur-sec
[5] PyPSA Atlite: Stand 02.11.2020, https://github.com/PyPSA/atlite
[6] Lotze, J. et al.: Energy System 2050 – Towards a decarbonized Europe, TransnetBW-Studie, 27.06.2022, https://www.energysystem2050.net/
[7] Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz: EEG-Novelle 2023 (Teil des „Osterpakets“ der dt. Bundesregierung)
[8] 50 Hertz Transmission GmbH, Amprion GmbH, TenneT TSO GmbH, TransnetBW GmbH: Abschlussbericht Systemanalysen 2022 t+1, Stand 08.03.2022
[9] ENTSO-G: Transparency Platform, Stand 04.04.2023, https://transparency.entsog.eu
[10] Bundesnetzagentur, Bundeskartellamt: Monitoringbericht 2022, Stand 01.02.2023
[11] Fernleitungsnetzbetreiber (FNB Gas): Netzentwicklungsplan Gas 2022-2032 Entwurf, Stand 31.03.2023
[12] Institut für Elektrische Anlagen und Netze, Digitalisierung & Energiewirtschaft (IAEW): Mittelfristprognose zur deutschlandweiten Stromerzeugung aus EEG-Anlagen für die Kalenderjahre 2023 bis 2027, RWTH Aachen University, Oktober 2022
[13] 50 Hertz Transmission GmbH, Amprion GmbH, TenneT TSO GmbH, TransnetBW GmbH: NEP2023 - Szenariorahmen zum Netzentwicklungsplan (NEP) Strom 2037 mit Ausblick 2045, Version 2023 – Entwurf der Übertragungsnetzbetreiber, Januar 2022
[14] ENTSO-E: Ten-Year Network Development Plan (TYNDP) 2022, TYNDP 2022 Projects Sheets
[15] ENTSO-E: ENTSO-E Transparency Platform, Stand 29.03.2023, https://transparency.entsoe.eu/ 
[18] Janischka et al.: Die Rolle von Wasserstoff in einem klimaneutralen europäischen Energiesystem – eine modellbasierte Analyse bis 2050. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen 71. Jg. (2021) Heft 1/2
[19] Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz: Bericht des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz zu Planungen und Kapazitäten der schwimmenden und festen Flüssigerdgasterminals, 03.03.2023
[20] World Bank Group: Commodity Markets Outlook - Pandemic, war, recession: Drivers of aluminum and copper prices, October 2022
[21] Umweltbundesamt: Rahmendaten für den Projektionsbericht 2023, Stand 20.12.2022 

Dr. R. Beestermöller, L. Brodecki, J. Erb, Dr. N. Fröhling, F. Greven, Dr. T. Huhne, M. Schmauch, Dr. B. Wegener, Dr. M. Wobben, d-fine GmbH, Frankfurt am Main, Kontakt: esa@d-fine.com
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