Chance oder Risiko für die Demokratie?

„et“: Was bedeutet das für das demokratische System?

Florack: Wir müssen uns vertraut machen mit neuen Formen der Demokratie, speziell der Aufmerksamkeits-Demokratie. Beliebt sind simulative Treffen mit Politikern oder Managern großer Konzerne. Andererseits scheinen Einzelpersonen wie Greta Thunberg mit der Generierung starker Aufmerksamkeitswerte grotesk überfordert. Das sind Suchbewegungen. Aber ich habe den Eindruck, der Politik läuft die Zeit davon.

„et“: Welche Rolle spielen bei den neuen Formaten die klassischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs)?

Florack: Der Begriff NGO hat eine wahnsinnige Brandbreite. Es gibt die vielfältigsten Organisationsformen, Größen und Ansätze. Das Label NGO soll grundsätzlich Positivität und Unabhängigkeit vermitteln. Es gibt NGOs, die wir eher zu den klassischen Interessensvertretungen zählen sollten. Es gibt auch NGOs, die auf Politikberatung und Expertenkompetenz setzen. Das Label NGO hilft uns nicht richtig weiter. Auch in der NGO-Welt vollzieht sich derzeit eine Suchbewegung. Auffällig ist, dass viele Nichtregierungsorganisationen ganz ähnliche Probleme haben wie die politischen Parteien: Mit ihrer Ausrichtung, mit den Mitgliedern, mit der Abgrenzung, mit den richtigen und schnellen Antworten.

„et“: Schwindet der Einfluss der NGOs?

Florack: Noch einmal: Es ist ein Fehlschluss, von reiner Aufmerksamkeit direkt auf Einfluss zu schließen. Greifen wir noch einmal das Thema Braunkohle auf. Zahlreiche Organisationen arbeiten seit zwanzig oder mehr Jahren am Thema. Plötzlich öffnet sich ein Fenster für starke Aufmerksamkeit. Wir sprechen hier von Themenkonjunkturen, die vielfältige Auslöser oder Verstärker haben können. Dazu zählen zum Beispiel der heiße und trockene Sommer des vergangenen Jahres oder auch die Symbolkraft des Themas Wald. Zu nennen sind die auch rechtlich etwas grauen Schulstreiks oder die Ausstrahlungskraft von Einzelpersonen.

„et“: Können Einrichtungen wie Enquete-Kommissionen Brücken schlagen?

Florack: Enquete-Kommissionen sind eine Sonderform der parlamentarischen Arbeit neben und außerhalb der Arbeit in den Ausschüssen. Fraktionen haben das Recht, Sachverständige zu berufen, die dann Teil dieser Kommissionen sind. Sie sind auf längere Sicht angelegt und sollten sich nicht dem Tagesgeschäft widmen, sondern fundamentale Fragen adressieren. Es sollte kein Parteienstreit ausgetragen, sondern Gemeinsamkeiten erarbeitet werden. Der nordrhein-westfälische Landtag hat eine solche Kommission zur Förderung der Demokratie eingesetzt. Erörtert werden das kommunalpolitische Engagement der Bürger, Fragen der politischen Partizipation und Debattenkultur sowie die Zukunft des Föderalismus und das Prinzip der Subsidiarität. Das ist ein guter Ansatz, der breiter geöffnet werden sollte.

„Die Botschaft der Protestbewegungen lautet, wir erheben nur die Forderung und ihr müsst handeln. Das macht auch die Adressierung so schwierig. Aber Politik braucht Ansprechpartner, darauf ist Politik angewiesen. Es ist wahnsinnig schwer, Gruppen wie Fridays for Future in konkrete Entscheidungsprozesse einzubinden. Bei den Gelbwesten in Frankreich gab es Sprecher, die jedoch von den eigenen Leuten delegitimiert wurden.“

Dr. Martin Florack, NRW School of Governance & Institut für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen

„et“: Signalisieren sinkende oder schwache Wahlbeteiligungen einen Demokratieverlust?

Florack: Wir hören immer wieder den Vorschlag, die Demokratie durch direkte Instrumente zu stärken. Das klingt gut, ist aber wenig zielführend. Durch eine Stärkung der direkten Demokratie werden keine Nichtwähler mobilisiert, sondern die bereits politisch Aktiven weiter gestärkt. Ich befürchte sogar eine steigende demokratische Verzerrung. Nichtwähler müssen im Rahmen der repräsentativen Demokratie zurückgewonnen werden. Dazu brauchen wir neue Formen der Kommunikation und vor allem starke Parteien.

„et“: Aber die repräsentative Demokratie steckt doch in einer Krise?

Florack: Viele Menschen sehen in der repräsentativen Demokratie ein defizitäres Modell. Das hat eine gewisse Berechtigung, weil heute andere Anforderungen an die Demokratie gestellt werden als vor 40 oder 50 Jahren. Viel mehr Menschen wollen mitmachen und mitentscheiden. Aber es gibt unverändert viele, die haben keine Zeit für Politik. Für diese Menschen ist der Wahlakt unverändert wichtig. Der Wähler delegiert den Job, behält ein Recht auf Abwahl oder Bestätigung. Das ist enorm effizient, funktioniert aber nur, wenn die Legitimitätskette zwischen Wählern und Gewählten hält. Radikale Wahlentscheidungen als Denkzettel oder aus Frustration überfordern dieses System. Wir brauchen das Modell der wehrhaften Demokratie, denn demokratiefeindliche Kräfte sind da und die Zahl von Politikverächtern steigt in allen sozialen Schichten.

„et“: An die Stelle klarer parlamentarischer Mehrheiten oder Zweier-Koalitionen treten immer komplexere Modelle. Mit welchen Auswirkungen müssen wir rechnen?

Florack: Eine Dreier-Koalition ist in der Regel mit dem Lagerwechsel mindestens eines Partners verbunden. Das kann Parteien bis an ihre Grenzen belasten. Der Zeitaufwand für Entscheidungen nimmt deutlich zu und es kommt häufiger zu Nicht-Entscheidungen. Aktuell sehen wir die Auswirkungen in der Länderkammer des Bundes. Zu viele Enthaltungen führen dazu, dass die Länder als Akteure auf Bundesebene immer öfter ausfallen. In den Ländern funktionieren Mehrfach-Koalitionen dagegen schon ganz gut. Hier steht den Parteien noch ein langer Lernprozess bevor, wie die aktuelle Entwicklung in Thüringen besonders drastisch vor Augen geführt hat.

„et“: Wohin steuert Nordrhein-Westfalen als bevölkerungsreiches Industrieland?

Florack: Ich bin mir sicher, NRW bleibt auch politisch ein Industrieland. Die Dissonanz zwischen Wirtschaft und Politik auf den Feldern Energie und Klima wird zunehmend abgebaut. Nicht weil die Politik zu viele Kompromisse eingeht, sondern weil sich die Unternehmen bewegen. Einzelne, auch große Unternehmen treiben den Klimaschutz geradezu an. Natürlich kratzt das am Gründungsmythos NRW, aber die Realität ist vielleicht weiter als Politik und öffentliche Meinung.

„et“: Herr Dr. Florack, vielen Dank für das Interview

Das Interview führte Wieland Kramer, Journalist, Wuppertal, im Auftrag der „et“

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et-Redaktion
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