Botschafter a. D. Janusz Reiter, Vorsitzender des Centre for International Relations (CIR), Warschau

Botschafter a. D. Janusz Reiter, Vorsitzender des Centre for International Relations (CIR), Warschau (Quelle:CIR)

„et”: Herr Reiter, deutsche Klimapolitik kann, sagen wir es nett, recht unterhaltsam sein, siehe jüngst das Debakel um das Heizungsgesetz. Wie wirkt so ein Fall auf Beobachter von außen? 

Reiter: Dieser Streit verdient Beachtung, denn es geht nicht nur um Geld, so viel Geld, dass die Zahlen manchmal fast abstrakt erschienen. Es geht auch um Interessen, Emotionen, Wahrnehmungen. Es geht vor allem um soziale Akzeptanz für Klimapolitik und um die Grenzen der Akzeptanz. Das Problem Heizung selbst ist auch in Polen kein unbekanntes. Anders als in Deutschland wird aber Heizung hier vor allem als eine Quelle von Luftverschmutzung, insbesondere in den Städten, wahrgenommen. Das Lokale, weniger das Globale, steht also im Vordergrund. 

Der deutsche Anspruch, mit der Politik des guten Beispiels den Weg zur Rettung des Weltklimas zu ebnen, ist den meisten Menschen in Polen zu idealistisch. Das hat vor allem historische Gründe. Im alten Westeuropa ist Klimaschutz ein Teil der kulturellen Identität, vor allem in den liberalen, wohlhabenden Bevölkerungsgruppen geworden. In den Ländern, die erst in diesem Jahrhundert der EU beitraten, steht zwar immer noch das Wohlstandsversprechen im Vordergrund. Es hat aber keinen absoluten Rang mehr. 

Die Frage nach den Folgen für Umwelt und Klima wird immer häufiger und dringlicher gestellt. Wetterkatastrophen, wie in diesem Jahr, verfehlen ihre Wirkung nicht: Die Menschen merken, das Lokale ist von dem Globalen nicht zu trennen. 

Dass der Klimaschutz für viele Menschen, wahrscheinlich die meisten auch in Deutschland, keinen absoluten Vorrang hat, ist wohl eine der Schlussfolgerungen aus der Heizungsdebatte. Das mag die Regierungspolitik erschweren, muss aber kein Grund zur Panik sein. Die Sorge um das Klima ist ein wichtiger, aber nicht der einzige Motor der Energiewende. 

Vorreiter und Bremser – Klischee und Wirklichkeit

„et”: Deutschland gilt als Vorreiter, Polen als Bremser in der Klimapolitik. Was stimmt daran und was nicht?

Reiter: Mit einem Anteil von 22 % an den Treibhausgas-Emissionen in der EU hat Deutschland die unbestrittene Führung in Europa. Polen ist nur die Nr. 4 in der europäischen Statistik. Würde man in Europa eine Umfrage machen, würden wohl die meisten Befragten Polen als den größten Klimaverschmutzer nennen. Während andere Länder sich um ein grünes Image bemühen, scheint Polen solche Anstrengungen souverän zu ignorieren. Vielen Politikern ist die Brüsseler Klimapolitik ein Lieblinsgfeind. Sie gefallen sich in der Rolle der Trotzgeister, die sich weigern, dem europäischen Mainstream zu folgen. Innenpolitisch kommt das offensichtlich immer noch gut an, wobei die Öffentlichkeit zunehmend kritisch wird. 

Die Wirklichkeit ist komplizierter als die einfache Vorreiter-Bremser-Rollenzuteilung. Polen ist aus der kommunistischen Zeit mit einer extrem kohleabhängigen Wirtschaftsstruktur hervorgegangen. Das Land stand vor der Aufgabe, diese Abhängigkeit abzubauen, ohne aber seine industrielle Basis zu gefährden. Zu Recht wehrte sich Polen gegen eine einfache Übernahme westeuropäischer Dekarbonisierungsmodelle. Es wollte seinen eigenen Weg gehen, das Ziel sollte aber das gleiche wie für andere europäische Länder sein. Polen forderte mehr Zeit für seine Transformation der Wirtschaft. Das war am Anfang des Prozesses nicht falsch, kann aber jetzt problematisch werden. Dekarbonisierung ist kein Feind, sondern eher eine Voraussetzung für Wettbewerbsfähigkeit. Zu viel Schutz kann der Industrie schaden. Ich wünsche mir deshalb mehr Tempo in dem polnischen Dekarbonisierungsprozess und zwar gerade auch im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft. Das Zögern der Politik ist zum großen Teil kein Ausdruck einer wirtschaftspolitischen Strategie, sondern liegt an der Angst vor Veränderungen, für die man die soziale Akzeptanz erst erkämpfen müsste.

„et”: Ist der deutsche Ansatz also doch ein Modell, das andere Länder aufgreifen sollten?

Reiter: Deutschland hat den Ehrgeiz, ein Rollenmodell für die Welt zu sein und durch seinen Erfolg auch anderen Ländern den Weg in eine emissionsarme Zukunft aufzuzeigen. Deutsche Technologien sollen auch einen Beitrag dazu leisten und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Wirtschaft kräftig verdient. Das gelingt nicht immer so, wie geplant. Die Art und Weise, wie Deutschland z. B. Solartechnologien auf den Markt brachte und den Markt dann weitgehend an China verlor, zeigt die Risiken dieses Herangehens. Trotzdem ist der Ansatz, Klimaschutz als Motor der industriellen Modernisierung einzusetzen, richtig. 

Als große Volkswirtschaft und reiches Land hat Deutschland finanzielle Ressourcen, über die andere Staaten nicht verfügen. Im Grunde bräuchte die Europäische Union aber in ihrer Klimaaußenpolitik neben Deutschland auch ein Land wie Polen, das im gewissen Sinne näher an den Realitäten vieler nichteuropäischer Länder steht. Die Kombination der beiden Ansätze könnte ein interessantes Angebot Europas an seine Partner bilden. Das ist aber wohlgemerkt nur Wunschdenken. Die Rollen „Vorreiter” und „Bremser” sind verteilt und beide Seiten denken gar nicht daran, an ihnen zu rütteln.

Kohleausstieg vs. Atomeinstieg braucht gegenseitiges Verständnis und Akzeptanz 

„et”: Deutschland hat den Kohleausstieg beschlossen, holt aber den Energieträger im Laufe der Energiekrise als wichtigen Ersatzspieler ins Spiel und schickt die Kernenergie endgültig vom Feld. Wie wird das in Nachbarstaaten wie Polen wahrgenommen? 

Reiter: Dies ist der Teil der deutschen Energiewende, den die meisten nur mit Mühe, wenn überhaupt, nachvollziehen können. Erstens ist die so stark emotionalisierte Einstellung zur Kernenergie den meisten in Polen fremd. Gerade die deutschen Kernkraftwerke waren für viele der Inbegriff der effizienten Technik und Deutschland wurde immer als ein Land der Ingenieure gesehen. Zweitens passt die rücksichtsvolle Behandlung der Kohle wenig in das Bild Deutschlands als Vorreiter der Klimapolitik. Die polnischen Klimaschützer bringt das in Verlegenheit, die Kritiker der europäischen Klimapolitik können ihre Schadenfreude kaum verbergen. 

In Polen herrscht eine starke Fixierung auf Deutschland. Das gilt auch für die Energiewende. Auf die Frage, was richtig oder falsch ist an der deutschen Politik, folgt fast zwangsläufig die Frage „Und was bedeutet das für Polen?“ Dass die nationalen Entscheidungen, die Deutschland trifft, auch andere Länder beeinflussen, lässt sich nicht leugnen. Im gewissen Sinne ist es ja auch gewollt. Deutschland will andere Staaten beeinflussen, sonst hätten seine nationalen Anstrengungen wenig Sinn. Das muss immer wieder Spannungen erzeugen, wenn es zu Meinungs- oder Interessenkonflikten mit anderen Ländern kommt. 

Hier lauert übrigens eine Gefahr für die Zukunft. Polen will in Atomenergie einsteigen. Vielen Deutschen gefällt das nicht. Hoffentlich werden sie die polnische Entscheidung, wenn auch ohne Begeisterung, zur Kenntnis nehmen, anstatt einem missionarischen Impuls zu folgen. Ein deutsch-polnischer Konflikt um Atomenergie wäre das Letzte, was wir heute brauchen.

„et”: Stichwort Energiekrise: Polen hatte immer vor einer zu starken Gasabhängigkeit von Russland gewarnt. Warum hatte man Ihrer Einschätzung nach nicht darauf gehört?

Reiter: Weil es nicht die Tradition gibt, gerade wenn es um Russland geht, auf die Meinung der östlichen Nachbarn zu hören. Diese galten oder gelten vielen in Deutschland als historisch belastet und daher unfähig, Russland nüchtern zu betrachten. Man müsse ihre Empfindlichkeiten verstehen, hieß es immer wieder, aber das bedeutete nur, sie bräuchten eine Art psychotherapeutische Unterstützung. Das war Paternalismus pur. Deutschland glaubte, Russland nicht nur besonders gut zu verstehen sondern auch, russisches Verhalten beeinflussen zu können. 

Das war massive Selbstüberschätzung. Da waren die baltischen Länder und Polen viel realistischer. Auch weil sie wussten, wie stark das heutige Russland in seiner imperialistischen Tradition gefangen bleibt. Nach der deutschen Zeitenwende, die freilich noch lange nicht vollendet ist, wäre jetzt Zeit für eine polnisch-deutsche Zusammenarbeit in der Russlandpolitik. Leider scheint Warschau wenig Interesse daran zu haben. 

Polens Weg der kleinen Schritte

„et”: Wie will Polen das Ziel der emissionsarmen Gesellschaft erreichen? 

Reiter: Der Ausbau der erneuerbaren Energien ist in Polen grundsätzlich kein Streitpunkt. An politischer Unterstützung mangelt es nicht, auch wenn sie nicht immer konsequent ist. Der Zickzackkurs in der Windenergiepolitik war ein Beispiel dafür, nun scheint er zu Ende zu gehen. Windenergie soll eine zweite Chance bekommen, nachdem das entsprechende Gesetz novelliert worden ist. Im vergangenen Jahr hatte Onshorewindkraft einen Zuwachs von 3 TWh, Photovoltaik gar von 4 TWh, was einen Sprung um 100 % bedeutete. Das ist nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Energieversorgung. Photovoltaik ist so bürgernah geworden, wie keine andere Energiequelle. Solarpanels sind auch in kleinen Dörfern zu sehen und beweisen, dass die Energietransformation und damit auch die Idee des Klimaschutzes in der Bevölkerung angekommen ist. 

Offshorewindkraft spielt in der offiziellen energiepolitischen Strategie eine Schlüsselrolle. Mehrere polnische und ausländische Investoren sind dabei, den Bau von großen Offshoreanlagen vorzubereiten. 5,9 GW haben bereits finanzielle Unterstützung zugesichert bekommen, neue Projekte sollen bald folgen. Das Potential wird auf 33 GW geschätzt. 

„et”: Das sind große Vorhaben, aber reicht dies für eine stabile Stromversorgung in der Zukunft aus? 

Reiter: Der größte Hoffnungsträger der Regierung ist die Atomenergie. Polen plant den Bau von drei Atomkraftwerken, von denen das erste bereits 2033 und das dritte 2037 in Betrieb genommen werden soll. Ob diese Termine eingehalten werden können, wird von vielen Experten angezweifelt. Manche glauben gar nicht daran, dass das Projekt je zustandekommt. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass Polen Atomenergie bekommt, ist höher denn zuvor. Und damit entsteht auch ein Streit- oder gar Konfliktthema zwischen Polen und Deutschland. 

Das alles ist sicherlich kein großer Wurf. Polen bewegt sich mit kleinen Schritten, oft unter Druck der aktuellen Entwicklung, in Richtung Dekarbonisierung der Wirtschaft.

„The proof of the pudding is in the eating”

„et”: Die jüngste Klimaschutzpolitik Deutschlands wirkt stark regulatorisch, fahrig, von Ad-hoc-Markteingriffen geprägt. Sehen Sie hier generell sowie speziell Risiken für Nachbarstaaten daraus? 

Reiter: Der Streit, wieviel staatliche Regulierung und Subventionen sowie Technologiewettbewerb richtig sind für Klima und Wirtschaft, lässt sich abstrakt nicht lösen. Hier gilt der englische Spruch „The proof of the pudding is in the eating”. Wenn es um Europas Wettbewerbsfähigkeit heute nicht sonderlich gut bestellt ist, dann ist das keine Strafe für den klimapolitischen Ehrgeiz. Es geht nicht darum, ob wir zu viel für den Klimaschutz tun, sondern ob wir es richtig tun. Und deshalb wäre es wichtig, dass Deutschland sich attraktiv macht als das Land der Ideen und nicht als das Land des großen Geldes.

„et”: Wie könnte man es schaffen, die EU-Klimapolitik besser mit den Zielen und Realitäten der Hauptemittenten China, den USA oder Indien abzustimmen? 

Reiter: Klimapolitik ist Politik und daran hat auch in Ländern wie China oder Indien niemand Zweifel. Das europäische Konzept der Führung durch gutes Beispiel ist ehrenhaft, hat aber seine Grenzen. Die USA sind, bei allen Unterschieden, ein Verbündeter Europas in der Klimapolitik. Wenn diese beiden großen Partner sich in ihrer klimapolitischen Strategie einigen, wird das die anderen Akteure beeindrucken. Das gute Beispiel darf nicht machtlos erscheinen. 

„et”: Herr Reiter, vielen Dank für das Interview. 

„et”-Redaktion

„Der deutsche Anspruch, mit der Politik des guten Beispiels den Weg zur Rettung des Weltklimas zu ebnen, ist den meisten Menschen in Polen zu idealistisch. Das hat vor allem historische Gründe. Im alten Westeuropa ist Klimaschutz ein Teil der kulturellen Identität, vor allem in den liberalen, wohlhabenden Bevölkerungsgruppen, geworden. In den Ländern, die erst in diesem Jahrhundert der EU beitraten, steht zwar immer noch das Wohlstandsversprechen im Vordergrund, hat aber keinen absoluten Rang mehr.”
Botschafter a. D. Janusz Reiter, Vorsitzender des Centre for International Relations (CIR), Warschau.

„Als große Volkswirtschaft und reiches Land hat Deutschland finanzielle Ressourcen, über die andere Staaten nicht verfügen. Im Grunde bräuchte die Europäische Union aber in ihrer Klimaaußenpolitik neben Deutschland auch ein Land wie Polen, das im gewissen Sinne näher an den Realitäten vieler nichteuropäischer Länder steht. Die Kombination der beiden Ansätze könnte ein interessantes Angebot Europas an seine Partner bilden. Das ist aber wohlgemerkt nur Wunschdenken. Die Rollen ,Vorreiter´ und ,Bremser´ sind verteilt und beide Seiten denken gar nicht daran, an ihnen zu rütteln.”
Botschafter a. D. Janusz Reiter, Vorsitzender des Centre for International Relations (CIR), Warschau.

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