Prof. Dr.-Ing. Peter Birkner, Geschäftsführer, House of Energy e.V., Kassel, im Interview zur Transformation der Energiewelt

Prof. Dr.-Ing. Peter Birkner, Geschäftsführer, House of Energy e.V., Kassel, im Interview zur Transformation der Energiewelt (Quelle: House of Energy)

„et“: Wenn wir Klimaneutralität 2050 als Fluchtpunkt nehmen, was sind dann die großen Fragen und Baustellen auf dem Weg dorthin?

Birkner: Die zentrale Frage lautet, wie man möglichst viel Nutzenergie (also z.B. Mobilität, Licht oder Wärme) mit möglichst wenig Primärenergie auf erneuerbarer Basis bereitstellen kann. Hier ist der Weg über Strom sicherlich sehr effizient, deshalb ist das Ziel der Electric Society im Grundsatz richtig. Effektivität, etwa bei Flugzeugen oder Schiffen. Deshalb ist es notwendig, zum Teil auch auf andere Energieträger umzustellen. Das naheliegendste Instrument ist der Wasserstoff, der Königsweg dabei der grüne, aber zunächst sind alle Formen von Wasserstoff gefragt, sofern CO2-neutral.

Das Energiesystem zur Jahrhundertmitte wird nach meiner heutigen Vorstellung getragen sein von grünem Strom (etwa 70 %, Erzeugung im Inland und Import) und klimaneutralem Wasserstoff (etwa 25 %, Erzeugung im Inland und Import vor allem aus der Mittelmeerregion) als Basis. Zudem sind in einem gewissen Umfang auch synthetische Kraftstoffe (5 % in Form von Methanol, Ammoniak und Kerosin) notwendig.

Sektoren vernetzen, bestehende Infrastruktur intelligent einbinden

„et“: Stichwort Sektorenkopplung: Welche Rolle spielt dabei die Erdgasinfrastruktur?

Birkner: Auf der Übertragungsebene werden wir langfristig Gas transportieren müssen, wenn auch nicht im heutigen Umfang. Dort können auch parallele Systeme für Methan und Wasserstoff etabliert werden. In der Verteilung besteht das Problem, dass die Gasverteilungsnetze im Wesentlichen für Heizzwecke gebaut wurden. Wenn jedoch auch die Heizung CO2-neutral werden soll, dann scheidet Erdgas langfristig (also bis 2050) aus. Die Wärmepumpe wird hingegen immer breiter eingesetzt werden. Allerdings wird es Grenzen geben, weil die Wärmepumpe durch die begrenzte Vorlauftemperatur flächige Heizungssysteme benötigt und so nicht überall optimal einsetzbar ist. Im urbanen Raum, in dichter Bebauung, sollte man auf die Fernwärme setzen. Die Kombination von Wärmepumpe im individuellen Einsatz und Fernwärme auf Quartiersebene scheint mir die ideale Lösung zu sein. Im Übergang kann ich mir für einige Dekaden eine Gasheizung auf Basis von Wasserstoff vorstellen, da auch die zeitaufwendige energetische Sanierung Teil des Konzepts ist.

„et“: Wie könnte eine derartige Infrastruktur aussehen?

Birkner: Es könnte daraus hinauslaufen, dass Heizzentralen und KWK-Anlagen bis auf Quartiersebene mit Brennstoffzellen arbeiten und auf Wasserstoff umgestellt werden. Weiterhin wird es für eine Übergangszeit Brennwertkessel auf Wasserstoffbasis geben.  Dies alles sind wichtige Themen für das House of Energy. Zur Bereitstellung des benötigten Wasserstoffs ist auch die eine oder andere Methan-Pyrolyseanlage erforderlich. Hier wird Wasserstoff aus Erdgas vor Ort produziert. Und natürlich Solar- und Windenergieparks, die Wasserstoff mittels Elektrolyse erzeugen und diesen dann in ein Gasnetz einspeisen.

Meiner Einschätzung nach werden aber die Hauptverknüpfungspunkte zwischen Strom und Gas (Wasserstoff) auf der Übertragungsebene zu finden sein. Hier sei auch auf die Nutzung von offshore-Windenergieanlagen für die Wasserstofferzeugung verwiesen. Und dort wird übrigens auch eine große Menge Wasserstoff abgenommen werden, denn wir brauchen jede Menge Wasserstoff für die Industrie, die Stahlerzeugung und großtechnische Einrichtungen.

Kleine Flexibilitäten werden eine größere Rolle spielen

„et“: Wie kann die Balance von Angebot und Nachfrage im Stromnetz bei hohem Einspeisungsanteil fluktuierender Quellen erreicht werden?

Birkner: Die wichtigste Frage in diesem Zusammenhang ist, wozu im Stromnetz genau Flexibilität benötigt wird. Zuallererst für die Frequenz-Leistungsregelung, eine klassische Übertragungsnetzbetreiber-Aufgabe. Sie hat mehrere Komponenten. Die Nutzung rotierender Massen sowie die Primärregelung kann mit Großkraftwerken (mit offenen Gasturbinen) erfolgen, die vielleicht künftig nur noch für diese Aufgabe errichtet werden, und eine sehr geringe Jahresnutzungsdauer aufweisen. Teile der Primärregelung, aber vor allem Sekundär- und Tertiärregelung, sind auch durch die Kombination vieler kleiner Beiträge vorstellbar.

Der zweite Bereich, in dem Flexibilität gebraucht wird, ist das Bilanzkreismanagement. Auch dort sind in Zukunft viele kleinere Beiträge denkbar.

Drittens benötigt der Verteilnetzbetreiber im klassischen Strombereich Flexibilität, im Unterschied zu den beiden anderen Flexibilitäten jedoch örtlich. Denn wenn ein Engpass entsteht, muss er lokal behoben werden. Deshalb braucht auch der Verteilnetzbetreiber viele kleine Flexibilitäten. Diese werden eine größere Rolle spielen als in der Vergangenheit, weil sie netzdienlich eingesetzt werden. Sie können dabei auch kaskadiert akkumuliert werden. Wichtig ist, dass sie zu einem Zeitpunkt immer nur für einen Zweck herangezogen werden, d.h. entweder für das Netz, einen Bilanzkreis oder die Frequenz-Leistungsregelung. Regionale Flexibilitätsmärkte sollen diese Zuordnung leisten.  

„et“: Wie kann Flexibilität auf der Nachfrageseite geschaffen werden – insbesondere über Elektromobilität und Wärmepumpen?

Birkner: Ich würde hier auch noch die Batterie im Haus dazunehmen. Denn meiner Einschätzung nach werden in den nächsten Jahren die Batteriepreise deutlich nach unten gehen, bei gleichzeitig erhöhter Kapazität und Robustheit. Nimmt man alle drei Optionen zusammen, ist ein großes Flexibilitätspotenzial da. Ob man deren Einsatz in großem Umfang erfolgreich rein marktwirtschaftlich anreizen kann, ist für mich aktuell offen. Möglicherweise gibt es irgendwann eine Verpflichtung, mitzumachen, aber mit Vorteilen für jene, die sich am Flexibilitätsmarkt beteiligen.

Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Die Flexibilität kann zwar helfen, die primäre Versorgungsstruktur (also Leitungen und Transformatoren) besser zu nutzen, es gibt aber Grenzen, irgendwann muss dann auch dieser Teil verstärkt bzw. ausgebaut werden. Diese Diskussion findet momentan noch nicht ausreichend statt.

Wissen – Vernetzen – Gestalten

„et“: In Deutschland gibt es große Förderprogramme zur Energiewende, Beispiel SINTEG. Inwieweit waren Sie darin involviert?

Birkner: Was SINTEG anbelangt, waren wir als regionaler Koordinator von Hessen gemeinsam mit Bayern und Baden-Württemberg im Teilprojekt C/sells engagiert. Dieses befasste sich insbesondere mit der Integration der Solarenergie über die vorhin skizzierten Flexibilitätsmärkte. Wir als House of Energy denken generell intensiv darüber nach, wie die Konsistenz (also der Aufbau) des zukünftigen Energiesystems aussehen könnte und flankieren das durch einige Dissertationen, Studien sowie konkrete Feldprojekte. Wir versuchen insbesondere, Fakten zu sammeln und das möglichst neutral, ohne eine konkrete Lösungsrichtung vorzugeben. Lobbyismus ist uns dabei fremd.

„et“: Was sind Aufgabe und Zweck des House of Energy?

Birkner: Ziel des House of Energy ist es, technische, wirtschaftliche, rechtliche und finanzwirtschaftliche Kompetenzen bezüglich des Transformationsprozesses zu bündeln und im Sinne einer konkreten Umsetzung zu nutzen. Wir sehen uns dabei als Innovationscluster, das nachdenkt und Wissen sammelt. Genauso sehen wir uns aber in der Rolle des Initiators und Koordinators. Wir wollen gemeinsam mit unseren Mitgliedern und Partnern durch konkrete Umsetzungsprojekte klüger werden. Die dabei aufgebauten Anlagen sollen aber nach der Projektlaufzeit nicht demontiert werden, sondern als für eine Infrastrukturänderung wirken.

„et“: Können Sie hierzu ein konkretes Projekt erläutern?

Birkner: Gern. Beispiel „Smart Grid Lab Hessen“: Hintergrund ist, dass vollumfänglich ausgebaute Smart Grids aktuell in Deutschland noch recht wenig zu tun haben. Denn unsere Verteilungsnetze sind in der Regel so stark, dass sie die IKT jetzt nicht notwendigerweise schon brauchen. Die meisten Aufgaben können mit konventionellen Methoden gelöst werden und die Regulierung arbeitet aktuell noch gegen den Einsatz von IKT. Deshalb organisieren wir den Aufbau eines realitätsnahen Labors. Dabei verwenden wir Stromrichter zur Nachbildung von Häusern, die wir mit echten Kabeln verbinden. Damit lässt sich ein Lastfluss erzeugen, den wir in realen Netzen vielleicht in zehn Jahren sehen werden.

Beispielsweise können wir so jedes Haus mit einem E-Fahrzeug, einer Wärmepumpe und einer Solaranlage „ausstatten“ und die Wirkungen im Netz beobachten. Überströme und Spannungsbandverletzungen kompensieren wir dann durch Einsatz von IKT (die wiederum mit den genannten Flexibilitätsmärkten interagieren kann). Das eigentlich Spannende ist aber die Resilienz: Was passiert, wenn ein Teil der Sensorik ausfällt? Ist dann die Versorgungssicherheit gefährdet, wenn die Logik Fehlentscheidungen trifft? Oder wie sieht es mit Cyber-Security aus? Wie bekommen wir ein Smart Grid „hackersicher“? Wir werden einen Beirat mit Netzbetreibern einrichten, mit denen wir die Untersuchungen und Ergebnisse reflektieren.

„et“: Schön wäre es, wenn Sie zum Schluss ein Projekt aus einem ganz anderen Bereich anführen könnten.

Birkner: Ein derartiges Beispiel ist das Projekt „Less is more“. Dort geht es nicht nur darum, technische und wirtschaftliche, sondern vor allem auch soziologische Erkenntnisse in die Tat umzusetzen. Dabei soll in einem ersten Schritt dem Bürger seine persönliche CO2-Exposition nähergebracht werden. Dann sollen Maßnahmen entwickelt werden, mit denen er die persönliche CO2-Exposition konkret verbessern kann. Am Ende steht dann eine App, die anzeigt, wann man bei seinem individuellen Lebensstil sein persönliches CO2-Jahreskontingent verbraucht hat, und eine Plattform, die Kompensationsmaßnahmen auf freiwilliger Basis vorschlägt. Das Projekt findet in Kassel statt und wir wollen insbesondere lokale Firmen dafür gewinnen, diese Kompensationsangebote zu unterbreiten. Das Ergebnis ist dann auf andere Städte übertragbar.

„et“: Herr Prof. Birkner, vielen Dank für das Interview.

„et“-Redaktion

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