Versorgungssicherheit: Dr.-Ing. Philipp Nellessen, Vorsitzender des Deutschen Braunkohlen-Industrie-Vereins (DEBRIV), Berlin

Dr.-Ing. Philipp Nellessen, Vorsitzender des Deutschen Braunkohlen-Industrie-Vereins (DEBRIV), Berlin (Quelle LEAG)

Branchen wie die Braunkohlenindustrie, die stabile Preise und Versorgungssicherheit befördern, sind auf dem politisch beschlossenen Ausstiegsweg. Welchen Beitrag die Branche innerhalb des bestehenden Rahmens zu leisten imstande ist und wie die Strukturentwicklung anläuft, darüber sprach „et“ mit dem DEBRIV-Vorsitzenden.

Helfer in der Not

„et“: Das energie- und klimapolitische Konzept Energiewende mit billigem Erdgas aus Russland als Backup funktioniert nicht mehr. Nun soll die Kohle einspringen. Nach dem Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz sollen Braunkohlekraftwerke mit einer Kapazität von 1,9 GW von der Ersatzbank ins laufende Spiel wechseln. Ist die Branche darauf vorbereitet?

Nellessen: Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar bedeutet auch für die deutsche Energiewirtschaft eine Zeitenwende. Umso mehr, als ein Ende dieses Krieges derzeit nicht absehbar ist und wir mit weitreichenden Konsequenzen für viele Lebensbereiche rechnen müssen, auch für unsere Branche. Diese Entwicklungen konnte so niemand voraussehen und entsprechend hat sich die Braunkohlenindustrie auf ein solches Szenario nicht vorbereiten können. In den letzten Monaten gab es vor dem Hintergrund einer möglichen Energiekrise allerdings einen intensiven Austausch zwischen der Bundesregierung und den Energieunternehmen. Es wurde klar, dass es einer großen Kraftanstrengung bei der Aktivierung von in Reserven stehenden Kraftwerken und Kraftwerksblöcken bedarf. Die Betreiber der betroffenen Braunkohlenkraftwerke, also RWE und LEAG, haben der Bundesregierung frühzeitig signalisiert, dass wir bereitstehen, wenn wir gebraucht werden. Aber wir haben auch frühzeitig gesagt, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um einen substantiellen Beitrag für die Energieversorgung im kommenden Winter leisten zu können. Denn da gab es noch erheblichen Handlungsbedarf.

„et“: Gibt es Stolpersteine regulatorischer Natur?

Nellessen: Es gibt verschiedene Hürden, die noch bis zum 1. Oktober aus dem Weg geräumt werden müssen. Das betrifft beispielsweise die Verfügbarkeit von Fachpersonal, denn in der Sicherheitsbereitschaft halten die Unternehmen nicht die gleiche Anzahl an Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen vor wie für Blöcke, die im regulären Betrieb arbeiten. Und es betrifft z.B. das Thema Immissionsgrenzwerte bei den beiden in der Sicherheitsbereitschaft befindlichen Jänschwalder Kraftwerksblöcken E und F der LEAG. Für diese beiden Kraftwerksblöcke bedarf es für die Dauer ihres geplanten Einsatzes einer Ausnahmegenehmigung von den Auflagen der 13. Verordnung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes zur Einhaltung von Emissionsgrenzwerten. Grund dafür ist, dass die beiden Blöcke nicht den Mitte letzten Jahres geänderten Anforderungen genügen und eine entsprechende technische Nachrüstung, wie sie bei den weiteren LEAG-Kraftwerksblöcken erfolgt ist, in der noch zur Verfügung stehenden Zeit bis zu einem möglichen Dauerbetrieb nicht umsetzbar wäre. Da eine bundesgesetzliche Regelung leider nicht gelungen ist, müssen die erforderlichen Ausnahmegenehmigungen nun auf Landesebene erteilt werden. Ich hoffe, dass dies in der noch verbleibenden Zeit gelingt.

„et“: Was bedeutet es für das Klima, wenn die dem Europäischen Emissionshandel (EU-ETS) unterliegende Braunkohleverstromung vorübergehend ausgeweitet wird?

Nellessen: Der EU-ETS definiert die zur Verfügung stehende Anzahl an Zertifikaten für den Ausstoß von CO2. Da alle Braunkohlenkraftwerke dem EU-ETS unterworfen sind, ändert sich also nichts für das Klima. Es kommt zu keinerlei „zusätzlichen“ Emissionen, sondern lediglich zu einer Verschiebung, indem die durch die Braunkohlenverstromung verbrauchten Zertifikate anderswo bzw. später nicht mehr zur Verfügung stehen. Der Weg einer dekarbonisierten Energiewirtschaft ist weiterhin vorgezeichnet. Für unsere Branche sind auch die Meilensteine im Kohleverstromungsbeendigungsgesetz (KVBG) sowie im öffentlich-rechtlichen Vertrag mit dem Bund bis zum Ausstiegsjahr 2038 für die letzten wenigen Kraftwerksblöcke festgelegt. Wir halten am Ziel der Klimaneutralität definitiv fest, wir müssen allerdings klären, wie wir die kommenden Jahre unsere Energieversorgung sicherstellen.

Sichere und preiswerte Energieversorgung

„et“: Inwiefern ist die Braunkohle ein Garant für sichere und preiswerte Stromversorgung?

Nellessen: Der Vorteil am Energieträger Braunkohle ist seine heimische Verfügbarkeit im Gegensatz zur Importabhängigkeit bei nahezu allen anderen Energieträgern wie Steinkohle, Erdöl oder eben Gas. Die Tagebaue liegen in den Revieren in unmittelbarer Nähe zu den Kraftwerksstandorten, so dass der Transport über kurze Wege mit weitgehend unternehmenseigener Infrastruktur per Bandanlagen oder per Güterzug erfolgen kann. Anders als bei Steinkohle erfolgt der Transport von Braunkohle nur auf in der Regel sehr kurzen Landwegen und ist somit z.B. unabhängig von den Pegelständen der Wasserwege. Dadurch bestehen wesentlich geringere Logistikrisiken. Wenn Gas aus der Verstromung verdrängt wird, kann die Braunkohle im Strommix aufgrund der Merit Order ganz wesentlich zur Preisdämpfung beitragen. Auch dies ist ein Grund, weshalb sich die Bundesregierung dazu entschlossen hat, Braunkohlenkraftwerke aus der Sicherheitsbereitschaft wieder an den Markt zu bringen.

„et“: Die Zukunft gehört klar den erneuerbaren Energien. DEBRIV bezeichnet die Braunkohle als Partner der erneuerbaren Energien: Auf welche Weise kann sie das sein?

Nellessen: Unsere Braunkohlenkraftwerke fahren schon lange nicht mehr im Geradeaus-Betrieb. Wir haben bereits vor Jahren massiv in die Flexibilisierung unserer Kraftwerkparks investiert, um den erneuerbaren Energien die gesetzlich verankerte Vorfahrt im Stromnetz zu ermöglichen. Das heißt, wir drosseln unsere Leistung bis zum notwendigen und technisch möglichen Minimum, wenn Wind und Sonne verfügbar sind und wir springen wieder mit Volllast ein, wenn sie nicht mehr liefern. An Tagen mit hoher Wind- und Sonneneinspeisung und einem geringen Stromverbrauch wie es über Feiertage der Fall ist, gehen die Anlagen zum Teil ganz vom Netz oder fahren im Mindestlastbetrieb, um vereinbarte Leistungen wie Fernwärme zu liefern. Daneben beteiligen wir uns selbst massiv am Ausbau der erneuerbaren Energien auf den Bergbaufolgeflächen. Für die Zukunft gilt es, technische Lösungen zu entwickeln, bei denen Grünstrom mit gesicherter Leistung gekoppelt wird, denn ohne gesicherte Leistung wird es keine Versorgungssicherheit geben. Auch an diesen Lösungen arbeitet die Branche, um ihren Versorgungsauftrag auch in Zukunft zu erfüllen.

„et“: Ab August dieses Jahres sollte die im KVBG vorgesehene Überprüfung des Ausstiegspfades zum ersten Mal stattfinden, ist aber mittlerweile verschoben worden. Ein Blick auf die sieben Prüfpunkte (siehe hierzu et 5_22, S. 35ff), die von der Versorgungssicherheit über Strompreise bis hin zur Sozialverträglichkeit der Maßnahmen reichen, lassen im Lichte der aktuellen prekären Situation kein leichtes Urteil zu. Welche Punkte erscheinen derzeit besonders kritisch?

Nellessen: Gerade die Punkte Versorgungssicherheit und Strompreise sehe ich als sehr kritisch an. Das Thema Versorgungssicherheit sollten wir auf drei Zeitebenen betrachten. Erstens: Wie kommen wir über den nächsten Winter. Hier hat die Regierung mit dem Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetz bereits gehandelt und die Weichen für eine Übergangszeit neu gestellt. Zweitens: Wie sichern wir mittelfristig die Stromversorgung? Es werden bis 2030 Kohlekraftwerkskapazitäten in Größenordnungen stillgelegt, so dass eine frühzeitigere Abschaltung weiterer Anlagen für mich schwer vorstellbar ist, insbesondere weil Investitionen in neue Gaskraftwerke aufgrund der Unsicherheiten derzeit nur teilweise bzw. gar nicht erfolgen. In der dritten Zeitebene geht es um die langfristige Erfüllung der Klimaschutzziele: Wie bekommen wir die erneuerbaren Energien und die notwendigen Infrastrukturen sowie Speicher rechtzeitig ausgebaut? Auch hier muss die Politik die notwendigen Voraussetzungen für einen schnellen Ausbau schaffen und teilweise müssen wir noch Technologielösungen erforschen und entwickeln, um eine dauerhafte Stromversorgung zu sichern.

Strukturentwicklung hat begonnen

„et“: Der Kohleausstieg bedeutet für die einzelnen Reviere eine gewaltige Herausforderung. Ist die Unterstützung seitens der EU, des Bundes und der Länder ausreichend, um schnell genug voran zu kommen?

Nellessen: Der Kohleausstieg 2038, der durch einen gesamtgesellschaftlichen Kompromiss mühsam gefunden und im Kohleverstromungsbeendigungsgesetz verankert worden ist, stellt die Reviere tatsächlich vor große Herausforderungen. Besonders die Reviere im Osten stehen vor der Aufgabe einer umfassenden Strukturentwicklung. Umso mehr herrscht dort großes Unverständnis über das von der neuen Bundesregierung ausgegebene Ziel, den Kohleausstieg vorzuziehen.  Dieses Ziel lässt eine erfolgreiche Transformation in nur noch knapp acht Jahren unrealistisch erscheinen. Es wird nun abzuwarten bleiben, ob die Bundesregierung neben dem Klimaschutz auch die Versorgungssicherheit, wettbewerbsfähige Strompreise und die soziale Ausgewogenheit in den Revieren beachtet.

Die ostdeutschen Unternehmen benötigen in der Transformationsphase des Kohleausstiegs wirkungsvolle Unterstützung, um neue Geschäftsfelder mit tragfähigen Zukunftsaussichten zu erschließen. Mit dem Just Transition Fund (JTF) hat die Europäische Union neue zusätzliche Fördermöglichkeiten geschaffen. Das ist zu begrüßen. Wichtig ist aber, dass die entsprechenden Mittel für Projekte und Vorhaben, die neue industrielle Wertschöpfung in relevanter Größenordnung in den Revieren konzentrieren, auch tatsächlich zeitnah bereitgestellt werden. Nur so können werthaltige Arbeitsplätze neu geschaffen und langfristig gesichert werden. Investitionsanreize für große und mittelständische Unternehmen werden erfolgsentscheidend sein. Außerdem gehört zu einer echten Strukturentwicklung, dass die Bundespolitik die Bedürfnisse und Interessen der betroffenen Kommunen, der Unternehmen und der Zivilgesellschaft angemessen berücksichtigt. In den Transformationsprozessen müssen sich die Maßnahmen an den Bedürfnissen der jeweiligen Regionen und nicht am Interesse der Verwaltungen orientieren.  Nur so werden die Reviere für Arbeitnehmer auch aus anderen Teilen Deutschlands oder Europas interessant.

„et“: Welche Entwicklungen in Richtung der avisierten neuen Energiewelt gibt es bereits in den Revieren – mit welchen Schwerpunkten?

Nellessen: In allen Revieren wird der Umbau in Richtung der neuen Energiewelt stark forciert. Im Lausitzer Revier sollen auf den dortigen Bergbaufolgeflächen Deutschlands erste GigaWATTFactories entstehen. Möglich sind neue Kapazitäten erneuerbarer Energieerzeugung von 7 GW bis 2030 und 12 GW bis 2040. Das Revier bietet mit seinen ehemaligen Tagebauflächen zusammenhängende Planungsräume und konfliktarme Bergbaufolgeflächen für eine nachhaltige und kooperative Nutzung für Landwirtschaft, Natur, Erholung und auch Energieerzeugung. Dadurch kann der Aufbau von Stromerzeugungs-Kapazitäten zeitnah erfolgen und wird die industrielle Produktion von Wasserstoff beschleunigt. Ziel ist, eine Wasserstoff-Wertschöpfungskette aufzubauen und auch zu schließen, von der Grünstromerzeugung über die Elektrolyse bis hin zur Verwertung, unter anderem an den Kraftwerksstandorten oder unter dem Aspekt der Sektorenkopplung auch im Bereich der Mobilität und Industrie. Mit diesen Standortfaktoren kann es in der Lausitz gelingen, bedeutende Industrieansiedlungen zu begünstigen, die bislang noch zu wenig vorhanden sind.

„et“: Könnten Sie bitte je ein Projekt anführen, das aufzeigt was Strukturwandel in den Revieren bedeutet – für Wirtschaft und Beschäftigte?

Nellessen: Es gibt in den Revieren bereits vielfältige Projekte im Wind-, Solar, Batterie-, Wasserstoff- und Industriebereich. Wenn ich mich auf ein Beispiel pro Revier beschränken soll, nenne ich die folgenden:

  • MIBRAG hat das 4-stufige Projekt Erneuerung MIBRAG im Revier (EMIR) gestartet. Die Stufe 1 bildet mit der Errichtung Erneuerbarer-Energien-Anlagen die Basis und besteht aus über zehn Einzelprojekten. Wichtige Meilensteine sind die Windparks Breunsdorf und Profen mit insgesamt 150 MW installierter Leistung auf rekultivierten Flächen. Für die Realisierung dieser beiden Projekte sind bis 2024 rund 160 Mio. € MIBRAG-Investitionen beabsichtigt. In der zweiten Stufe des Projekts EMIR folgt dann die Wasserstoff-Elektrolyse, in Stufe 3 die Holzvergasung mit kombinierter Methanolsynthese und in Stufe 4 schließlich eine Kraftstoffsynthese.
  • In der Lausitz bei der LEAG sind die Innovationskraftwerke an den Kraftwerksstandorten Jänschwalde und Boxberg in Planung. Diese sollen als Ankerprojekte verlässlich Grünstrom aus Wasserstoff in Kombination mit Wasserstoffspeichern und Wasserstoffelektrolyse liefern und mit dem Energieträger Wasserstoff auch zusätzliche Versorgungsoptionen für die Mobilität eröffnen. In Kombination mit der bereits erwähnten 12-GW-Projektpipeline für Grünstromanlagen bei der LEAG kann hier eine völlig neue, verlässliche und grüne Energieinfrastruktur geschaffen werden. Damit werden Standortfaktoren geschaffen, die auch bedeutende weitere Industrieansiedlungen in der Lausitz begünstigen und sichtbare Arbeitsplatzeffekte mit sich bringen werden.
  • Im Rheinland unterstützt die RWE Power nicht nur die drei Tagebauplanungsverbünde Indeland, Neuland Hambach und LandFolge Garzweiler, sondern auch die von der Landesregierung eingesetzte Zukunftsagentur Rheinisches Revier. Im Mittelpunkt steht der Projektaufruf REVIER.GESTALTEN, durch den insgesamt 15 Mrd. € an Fördermitteln für innovative Projekte bereitgestellt werden können. Die RWE Power AG ist an einigen der Projekte beteiligt. WE will zudem als bedeutende Flächeneigentümerin dazu beitragen, dass nicht mehr betriebsnotwendige Flächen und Standorte in enger Zusammenarbeit mit den jeweiligen Kommunen weiterentwickelt werden. Gemeinsam mit dem Städtebauministerium des Landes hat RWE eine Projektqualifizierungsgesellschaft gegründet, die gemeinsam mit den Kommunen die ehemaligen Betriebsstandorte auf eine nachhaltige Wertschöpfung ausrichtet. Schließlich baut auch RWE die Erneuerbaren im Rheinischen Revier gezielt aus und setzt dabei neben Wind insbesondere auch auf innovative Solarprojekte auf ehemaligen und aktuellen Betriebsflächen, die die Stromerzeugung mit Batteriespeichern ergänzen. Dabei kooperiert RWE wie unter anderem in einem der größten deutschen Offshore-Windparks in Bedburg auch intensiv mit den Revierkommunen.

„et“: Herr Dr. Nellessen, vielen Dank für das Interview.

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„et“-Redaktion

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