Energiepreise: Dr. Carsten Rolle, Leiter der Abteilung Energie- und Klimapolitik beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und Geschäftsführer Weltenergierat – Deutschland e.V., Berlin

Dr. Carsten Rolle, Leiter der Abteilung Energie- und Klimapolitik beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und Geschäftsführer Weltenergierat – Deutschland e.V., Berlin (Quelle: Weltenergierat – Deutschland e.V)

„et“: Die hohen Energiepreise treiben Politik, Medien, Energieversorger, Unternehmen und Haushalte schon länger um … .

Rolle: … Die enormen Preissteigerungen betreffen uns alle und haben in dieser Höhe viele überrascht. Erdgas- und Steinkohlepreise und infolgedessen auch die Börsenstrompreise haben sich innerhalb eines Jahres verdreifacht. Auch die Ölpreise sind mit der wirtschaftlichen Erholung von den Auswirkungen der Pandemie deutlich gestiegen. Der Großteil dieser Entwicklung fand bereits vor Beginn des Krieges in der Ukraine statt und wird durch die geopolitischen Unsicherheiten nur noch verstärkt.

Die Betroffenheiten sind verschieden: Während private Haushalte sich vorrangig um den Anstieg bei Gas- und Benzinpreisen sorgen, Energieversorger die wachsenden Unterschiede zwischen Einkaufspreisen und vertraglich zugesicherten Verkaufspreisen vor Herausforderungen stellt, beunruhigt die Industrie vor allem der wachsende Kostenunterschied bei Erdgas und Strom zu Wettbewerbern bspw. in Nordamerika oder dem arabischen Raum. Überall da, wo signifikant höhere Energiekosten nicht entsprechend weitergegeben werden können, ist die Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr.

„et“: Kann man noch von einem funktionierenden Markt ausgehen?

Rolle: Ich habe keinen Grund, an der Funktionsfähigkeit der Märkte zu zweifeln und sehe daher auch politische Eingriffe in die Preisbildung in einigen europäischen Staaten sehr kritisch. Fehlt das Knappheitssignal, sinkt der Verbrauch nicht und die Krise wird noch größer. Unabhängig davon ist es richtig, dass wir uns in Europa Gedanken machen sollten, wie wir mittelfristig das Strommarktdesign und damit auch die Finanzierung eines zunehmend erneuerbaren Stromsystems weiterentwickeln wollen. Das sollte man aber von der aktuellen Krise sauber trennen.

„et“: Die EU hat ein Embargo für russische Steinkohle und ein Ölembargo beschlossen. Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit in Deutschland ein?

Rolle: Die Industrie hat die harten Sanktionen gegen Russland als Reaktion auf den brutalen Krieg von Beginn an unterstützt. Viele deutsche Kohleimporteure haben sich bereits kurz nach Kriegsbeginn und schon deutlich vor der Sanktionsentscheidung darum gekümmert, alternative Lieferanten zu finden. Zum Glück reagiert der globale Steinkohlemarkt vergleichsweise flexibel.

Bei der Versorgung Ostdeutschlands und der Nachbarstaaten Polen und Tschechien mit Rohöl und Ölprodukten ist die Transportinfrastruktur jedoch eine Herausforderung. Es fehlen West-Ost-Verbindungen, weshalb hier etwas mehr Vorlaufzeit als bei der Kohle nötig ist. Insgesamt gab es einen engen Austausch mit der Politik, wie rasch welche Lieferungen durch neue Lieferanten und über neue Transsportrouten ersetzt und Embargos ausgesprochen werden können. Ob es vereinzelt lokal höhere Preise für Ölprodukte im Osten geben wird oder ob das geräuschlos funktioniert, müssen wir sehen. Insgesamt sollte die Versorgungssicherheit aber gewahrt bleiben.

„et“: Am Bedrohlichsten erscheinen die Folgen eines Gasembargos. Welche wären die wichtigsten makroökonomischen Effekte?

Rolle: Ich bin froh, dass die Grundsatzdiskussionen um ein Gasembargo inzwischen weitgehend verebbt sind. Denn anders als bei Kohle und Öl wären die Folgen eines plötzlichen Gasembargos für uns sehr schwerwiegend. Gas ist in der Industrie und bei den Heizungen der Privathaushalte der Energieträger Nummer eins und lässt sich kurzfristig kaum substituieren. Eine Substitution des industriellen Gasverbrauches durch andere fossile Brennstoffe wie Heizöl oder LPG (Liquefied Petroleum Gas) ist bis zum nächsten Winter wohl nur in einem größeren einstelligen Prozentbereich möglich und hat einen Vorlauf von mehreren Monaten - hier müssten die erforderlichen Umstellungs-Genehmigungen deutlich schneller und pragmatischer erfolgen als bislang. Ein Wechsel zu Strom oder Wasserstoff erfordert ganz neue Anlagen und benötigt daher in der Regel Zeiträume von drei Jahren und mehr.

Die makroökonomischen Effekte eines Gasembargos lassen sich nur schwer seriös abschätzen. Denn Gas steht nicht nur als Brennstoff, sondern zum Teil auch als Rohstoff in der Chemie am Beginn sehr vieler industrieller Wertschöpfungsketten. Wir haben in den letzten Monaten gesehen, wie stark das Fehlen eines einzigen Teils, eines Chips, bspw. die Produktion von Autos und damit unseren Wohlstand begrenzen kann. Solche Kaskadeneffekte würden sich in einer Gasmangelsituation vervielfachen.

„et“: Wir befinden uns im Moment bei der Gasversorgung in der Alarmstufe, der zweiten Stufe des dreistufigen Notfallplans Gas. Was wird bzw. sollte getan werden, um ein mögliches Lieferembargo abzufedern?

Rolle: Stand heute (11. Juli) kann niemand sicher absehen, ob die Speicher bis zum Winterbeginn gefüllt sein werden und die russischen Gasflüsse auf das ursprüngliche Niveau zurückkehren, auf dem heutigen verbleiben oder ganz eingestellt werden. Deshalb haben wir sehr früh gefordert, Gas wo immer möglich zu schonen bzw. zu ersetzen, um diese Mengen speichern zu können. Gerade bei der Stromerzeugung geht das vergleichsweise einfach, da kommen die politischen Entscheidungen für eine auf die Krise befristete Rückkehr der Kohlekraftwerke in den Markt spät, aber nun soll sie erfolgen. Gleiches gilt für Planungssicherheit bei Genehmigungen für Unternehmen, die einen Brennstoffwechsel ermöglichen können. Ein weiterer Baustein soll ein neues marktliches Instrument werden, dass bei Unternehmen mit vergleichsweise niedrigen Gasvermeidungskosten solche Flexibilitäten anreizt und herauskitzelt und das wir ebenfalls schon im Frühjahr angeregt haben, um Gas zu sparen und für die Einspeisung in Speicher frei zu machen.

Schließlich werden steigende Gaspreise nach einer Anpassungszeit zu einem Nachfragerückgang führen. Diese etwas gleichmäßiger über alle Verbraucher zu verteilen, ist die neue Idee der Umlagefinanzierung im Energiesicherungsgesetz, die richtig ist. Ich halte auch Ansätze für hilfreich, Privatkunden kurzfristiger diese Preissteigerungen transparent zu machen. Dennoch bleibt die Diagnose, dass ein plötzlicher Ausfall der russischen Gasimporte sehr schmerzhaft für uns würde.

„et“: Die bestehende Priorisierung von Verbrauchern bei Versorgungsengpässen beim Erdgas setzt die Industrie hinter die Privatverbraucher. Sehen Sie hier Diskussionsbedarf?

Rolle: Die bestehende Priorisierung ist – wie die gesamte bisherige Krisenvorsorge – für eher kurzfristige, regional begrenzte Krisen gemacht und für einen solchen Notfall auch nachvollziehbar. Längerfristig hilft aber auch eine warme Wohnung nicht viel, wenn der Arbeitsplatz bedroht ist, dann werden alle einen Beitrag leisten müssen. Transparente und schnell wirkende Preissignale werden neben allen Informationsangeboten und -kampagnen, die wir unterstützen, da auch bei Privathaushalten eine wichtige Rolle spielen müssen.

„et“: Worauf kommt es nun besonders an?

Rolle: Mindestziel muss es sein, über einige Tage ein geordnetes Herunterfahren der Industrie-Anlagen zu ermöglichen, damit diese keinen dauerhaften Schaden nehmen. Dazu muss ein kurzfristiger Einsatz der Speicher ermöglicht werden. Eine genaue Analyse, welche Anlagen vergleichsweise geringere Auswirkungen in kritischen Wertschöpfungsketten verursachen als andere, versucht die Bundesnetzagentur derzeit vorzunehmen. Ziel der Bundesnetzagentur ist es, ab Oktober mit dem Start der Online- Sicherheitsplattform Gas eventuell notwendige Abschaltungen oder Reduzierungen von Industrieverbräuchen im Falle einer Gasmangellage so zu steuern, dass der Schaden für die Gesamtwirtschaft so gering wie möglich ausfällt.

„et“: Worauf sollten wir jetzt und mittelfristig bezüglich der Versorgungssicherheit achten?

Rolle: Augenblicklich ist alle Aufmerksamkeit aus nachvollziehbaren Gründen darauf gerichtet, die Versorgungssicherheit für die beiden kommenden Winter zu gewährleisten – und das zu Energiekosten, die bei den untersten Einkommensschichten zu keinen sozialen Verwerfungen führen und die es möglichst vielen Unternehmen erlauben, weiter zu produzieren.

Neben diesen kurzfristigen Nöten müssen wir aber auch die mittelfristigen Herausforderungen erkennen und frühzeitig adressieren. Gaskosten werden in Deutschland absehbar nicht mehr auf das Niveau vor dem Herbst 2021 zurückkehren, wenn zukünftig LNG bei der Preisbildung eine größere Rolle spielt. Damit wächst nicht nur der Druck, beim Zubau erneuerbarer Energien und grünem Wasserstoff Tempo zu machen sowie die Diversifizierung der Gasbezüge mit neuen Partnern fortzusetzen, sondern auch unbequeme Diskussionen wie etwa zum Fracking für eine Gasförderung in Deutschland neu zu führen.

Zugleich wird der Wettbewerbsdruck auf margenschwache gaskostenintensive Produktionsprozesse zunehmen. Hier müssen wir aufpassen, dass wichtige Wertschöpfungsketten nicht reißen.

Wir lernen gerade schmerzhaft, dass Versorgungssicherheit einen Preis hat und nicht einfach als gegeben angenommen werden darf. Dieses Versorgungssicherheitsniveau müssen wir als Gesellschaft bewusster definieren und dann auch einpreisen.

„et“: Herr Dr. Rolle, vielen Dank für das Interview.

„et“-Redaktion

Redaktionsschluss für das Interview war der Beginn der Wartungsarbeiten an Nord Stream 1 am 11. Juli 2022

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