Abbildung zum Thema Europas Stromversorgung - Höchstlast-Entwicklung im ENTSO-E-Netzgebiet 2013 bis 2018

Abb. 1: Höchstlast-Entwicklung im ENTSO-E-Netzgebiet 2013 bis 2018 (Quelle: ENTSO-E; eigene Darstellung)

Europas Stromversorgung verliert sichere Basis

Bisher weitgehend unbeachtet blieb, dass die aggregierte Höchstlast im ENTSO-E-Gebiet mit einer hohen Zahl nationaler Höchstlasten zeitlich zusammenfällt.

Im Juni 2019 war die Stromversorgung in Deutschland an mindestens drei Tagen akut gefährdet. Die Bundesregierung bestätigte, dass am 6., 12. und 25. Juni der tatsächliche Bedarf an Regelleistung höher lag, als die von den Netzbetreibern vorgehaltene Leistung [1]. Nach Ansicht der Bundesregierung waren die Systemungleichgewichte inakzeptabel, jedoch nicht energiewirtschaftlich begründet.

Netzbetreiber und Bundesnetzagentur prüfen, ob spekulative Geschäfte zwischen Intraday-Markt und Ausgleichsenergie für die Lage ursächlich waren. Inzwischen laufen insgesamt sechs Aufsichtsverfahren gegen Bilanzkreisverantwortliche. Zu den Gegenmaßnahmen der Netzbetreiber gehörten auch Stromimporte. Doch das Potenzial für kurz- oder längerfristige Stromimporte wird zunehmend kleiner, wie aktuelle Übersichten des Verbandes der europäischen Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E zeigen [2].

Stetiger Anstieg der Höchstlasten

Mit 590 GW erreichte die Höchstlast im Stromnetz der im Verband Europäischer Stromnetzbetreiber (ENTSO-E) zusammengeschlossenen Unternehmen in den Abendstunden des 28.02.2018 ihren bisherigen historischen Höchststand. 2013 lag die Höchstlast noch bei 516 GW. Zeitgleich erreichten die Übertragungsnetze von neun der insgesamt 36 ENTSO-E-Mitglieder ihre Jahreshöchstlast. Dazu gehörten neben Deutschland und Frankreich auch Bulgarien, Dänemark, Finnland, Polen, Schweden, Serbien und Tschechien. Auf diese neun Länder entfallen rund 43 % der Erzeugungsleistung sowie 47 % der Netto-Stromproduktion im ENTSO-E-Bereich.

Wird der Betrachtungszeitraum um +/- drei Tage erweitert (25.02.-03.03.2018) so erhöht sich die Zahl der Länder mit zeitgleicher oder zeitnaher Jahreshöchstlast auf 21. Das entspricht einem Anteil von 73 % (2.692 TWh) am Netto-Stromverbrauch des gesamten ENTSO-E-Bereichs. Damit befanden sich Ende Februar bis Anfang März 2018 rund drei Viertel der europäischen Stromversorgung in einem kritischen Bereich. Außerdem war die Situation im ENTSO-E-Gebiet auch Ende November/Anfang Dezember sowie Anfang August 2018 angespannt.

Die ENTSO-E-Statistik belegt einen stetigen Anstieg der Höchstlasten (Abb. 1) bei tendenziell sinkenden gesicherten Erzeugungskapazitäten. 2018 standen im ENTSO-E-Bereich insgesamt knapp 577 GW an gesicherter Erzeugungsleistung zur Verfügung. Zur Deckung der Höchstlast am 28.02.2018 (Abb. 2) war bereits in beträchtlichem Umfang Strom aus erneuerbaren Quellen mit witterungsbedingter oder tageszeitlich schwankender Erzeugung notwendig.

Das zeitliche Zusammentreffen der Netzhöchstlast (Abb. 2) in Ländern mit hohem Bedarf wie Deutschland, Frankreich und Italien konterkariert die Annahme, Versorgungssicherheit stelle sich im europäischen Verbund quasi automatisch ein, weil sich Regionen mit starker und schwacher Netzlast gegenseitig stützen.

Im Ergebnispapier Strom 2030 des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie [3] heißt es: „Dass wir bei Bedarf bei unseren Nachbarn auch auf Kapazitäten zur Stromerzeugung zugreifen können, erhöht die Versorgungssicherheit in Deutschland. Die Zeiten, in denen wir Versorgungssicherheit national betrachtet haben, sind deshalb Vergangenheit. Kraftwerke, Verbraucher und Speicher im In- und Ausland gewährleisten heute die Versorgungssicherheit gemeinsam“ [4].

Ernsthafte Verminderung der Versorgungssicherheit

Angesichts der aktuellen Zahlen aus dem ENTSO-E-Gebiet muss diese aus dem Jahre 2017 stammende Aussage der Bundesregierung revidiert oder zumindest angepasst werden. Die belegte hohe Wahrscheinlichkeit, dass Lastspitzen europaweit zeitgleich auftreten und tendenziell weniger gesicherte Erzeugungsleistung zur Verfügung steht, stellt eine ernsthafte Verminderung der Versorgungssicherheit dar. Wenn die Netze darüber hinaus spekulativen Eingriffen ausgesetzt sind, steigen die Risiken weiter. 

Deutschland hat den Ausstieg aus der Kernenergie sowie die Rückführung der Kohlenverstromung beschlossen und strebt zugleich an, den Anteil weitgehend ungesicherter Erzeugungsleistung auf Basis erneuerbarer Energien bis 2030 auf 65 % anzuheben. Deutschland hat es bisher versäumt, diese Entscheidungen mit den Nachbarländern abzustimmen.

Die Annahme, Versorgungssicherheit über den Stromaußenhandel quasi zu importieren, muss als leichtfertig eingestuft werden. Deutschland kann sich nicht – wie immer wieder behauptet – darauf verlassen „durch Ausgleichseffekte etwa bei den Höchstlasten, Erneuerbaren Energien oder Kraftwerksausfällen sowohl in Bezug auf Kosten als auch auf Versorgungssicherheit“ [5] von den Nachbarländern zu profitieren.

Die Auswertung der ENTSO-E-Daten für das Jahr 2018 bestätigt [6], dass in Deutschland und seinen Nachbarländern eine hohe Ähnlichkeit der Verbrauchsmuster und damit auch eine starke zeitliche Korrelation eines hohen Leistungsbedarfs bei tendenziell abnehmenden gesicherten Erzeugungskapazitäten besteht.

Quellen

[1] Deutscher Bundestag, Drucksache 19/12392 vom 14.08.2019.

[2] https://docstore.entsoe.eu/Documents/Publications/Statistics/Factsheet/entsoe_sfs2018_web.pdf

[3] Ergebnispapier Strom 2030. Langfristige Trends – Aufgaben für die kommenden Jahre. Hrsgg. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Berlin Mai 2017. Nur Online-verfügbar unter https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Energie/strom-2030-ergebnispapier.pdf?__blob=publicationFile&v=34

[4] Ebenda, S. 3.

[5] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/016/1901601.pdf, S. 2.

[6] Siehe auch: Versorgungssicherheit – eine weitgehend nationale Aufgabe! in: Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 66. Jg. (2016) Heft 12, S. 33.

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et-Redaktion

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