Engpass: Damit die Energiewende auf Basis massenhaft dezentral verteilter erneuerbarer Energiequellen gelingt, müssen wir eine Grundlage für einen versorgungssicheren Hochlauf des Prosuming schaffen

Damit die Energiewende auf Basis massenhaft dezentral verteilter erneuerbarer Energiequellen gelingt, müssen wir eine Grundlage für einen versorgungssicheren Hochlauf des Prosuming schaffen (Quelle: Adobe Stock)

Hier könnte die Einführung eines dezentralen Marktes für lastenbasierte Netzflexibilität im Rahmen des Redispatch schnell und effizient helfen. Wie das gehen könnte, beschreibt der nachfolgende erste Vorschlag dieses Diskursbeitrages. Eine andere, bisher wenig beachtete, Herausforderung ergibt sich aus der Tatsache, dass sich nun auch massenhaft neue, zumeist laienhafte Akteure auf ihren jeweils individuellen Weg machen (müssen). Dafür wird hier ein weiterer Vorschlag unterbreitet und mit dem ersten zu einem Gesamtkonzept zusammengefügt.

Wir brauchen einen Markt für lastenbasierte Netzflexibilität

Kernaufgabe eines EE-basierten Versorgungssystems ist das Matching von Energiedargebot und -nachfrage. Geht man davon aus, dass der Weg der Entkoppelung von Angebot und Nachfrage durch den massiven Aufbau von Speicherüberkapazität oder auch ein „Wegwerfen von Erzeugung“ zu teuer ist, dann fokussiert sich die Aufgabe auf die Flexibilisierung der Energienachfrage und ihre zeitliche Hinkoordinierung auf ein erwartetes Energiedargebot.

Auf Hoch- und Mittelspannungsebene wird heute das Zusammenführen von Energieangebot und -nachfrage in zwei Handlungsdomänen geleistet. In Zeiten frei verfügbarer Netzkapazität koordinieren sich Marktangebot und -nachfrage über zentrale Anlaufstellen (Börsen) anhand von Preis- und Liefervereinbarungen und zeichnen ihre Aktivitäten dabei in sog. Bilanzkreisen nach (Marktdomäne).

Diesem Zusammenspiel werden jedoch unmittelbar Grenzen gesetzt, wenn Netzeng- pässe drohen. Dann übernehmen die Netzbetreiber das Matching von Energieangebot und -nach-frage, indem sie generatorsteuernd in die Einsatzszenarien der Erzeuger eingreifen, sprich die Erzeugung herauf- oder herunterfahren (Netzdomäne). Diesen Vorgang nennt man Redispatch. Da er einen erheblichen Eingriff in den Markt bewirkt, sollte er auf ein Minimum beschränkt sein.

Unmittelbar ersichtlich ist, dass die Energieversorgung in dem gegebenen Regelungsrahmen ihrer Kernaufgabe nicht hinreichend Genüge tun kann. Die Marktdomäne reagiert heute nicht auf regionale Aspekte, also z.B. auf regionale Netzengpässe. Die Netzdomäne hat wiederum kaum Möglichkeiten, z.B. Lastverschiebepotentiale der Nachfrageseite zu adressieren, weil die derzeitige Regulierung ihr allein die Erzeugungssteuerung ermöglicht. Beiden Domänen fehlt also ein gemeinsamer Koordinationsort, wo sie ihre jeweiligen Möglichkeiten zur Vermeidung von Redispatch adressieren können.

Faktisch bedeutet dies, das fundamentale Effizienzprinzip „Nutzen statt Abregeln“ kann nicht umgesetzt werden. Die Forderung lautet daher: Wir brauchen einen Markt für Netzflexibilität.

Der „Zurverfügungstellungsmarkt“

Prinzipiell können Netzbetreiber kurzfristige Netzflexibilität auf zwei Wegen erwerben. Zum einen können sie diese zusätzliche Flexibilität – analog zum Regelenergiemarkt – top-down im Wege von Ausschreibungen erwerben. Theoretisch lässt das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) dies schon heute zu. Allerdings wird diese Option derzeit nicht gezogen. Gründe dafür sind neben dem Umstand, dass die aktuelle Netzregulierung die präventive Einplanung von Netzflexibilität nicht hinreichend berück-sichtigt, lange Marktaufbauvorlaufzeiten, hohe Abruflatenzen, da grundsätzlich dem Redispatch vorgelagerte Prozesse und Abstimmungen geklärt sein müssen, die Vermeidung möglicher Inc-/Dec-Probleme und schließlich, dass ggf. auch im Einzelfall der Nachweis nicht-vermeidbarer Netzentgelte erbracht werden muss.

Der von mir so genannte „Zurverfügungsstellungsmarkt“ schlägt daher einen alternativen Weg vor. Statt dass ein Netzbetreiber dem Markt seinen Flexibilitätsbedarf im Vorfeld mitteilt und langfristig via Ausschreibung eindeckt, könnten in dieser Variante Prosumer ihrem Netzbetreiber dezentral ein freiwilliges, terminiertes Flexibilitätsangebot unterbreiten (sprich zur Verfügung stellen), welches vom Netzbetreiber dann ebenso freiwillig als Alternative zum Redispatch abgerufen werden kann.

Konkret würde der Flexibilitätsanbieter dazu seinen Netzbetreibern seine lastenbasierte Flexibilität in Form von bepreisten Fahrplanoptionen im Zuge seiner Redispatch-Regelkommunikation als zusätzliche Alternativ-Zeitreihe zu seinem originären Einsatzplan mitteilen. Der zugreifende Netzbetreiber kann dann – freiwillig – dieses Flexibilitätsangebot als Redispatchalternative annehmen und abrufen. Die Abrechnung kann ebenfalls im Rahmen der Regelkommunikation erfolgen. 

Der Zurverfügungstellungsmarkt erschließt der Energieversorgung erhebliche Vorteile: Er setzt Anreize zur Investition in höheres Flexibilitätsvolumen sowie zum Wechsel von Pauschal- zu Planwertverfahren (= sinkendes systemisches Prognoserisiko). Er findet Kosteneffizienzpotentiale gegenüber dem Redispatch, weil Netzbetreiber freiwillige Flexibilitätsangebote nur nutzen würden, wenn diese günstiger sind als der eigentliche Redispatch. Damit entfällt für Netzbetreiber auch die Nachweispflicht nicht-vermeidbarer Netzentgelte. Den Anlagenbetreibern entsteht eine Option, Redispatchmaßnahmen zu vermeiden und damit individuelle Kosten einzusparen. Zugleich realisieren sie dadurch zusätzliche ad-hoc Möglichkeiten für das volkswirtschaftlich zu präferierende „Nutzen statt Abregeln“-Prinzip. 

Insgesamt könnte ein Markt für Netzflexibilität ohne großen Zusatzaufwand im Rahmen der heutigen Redispatchregelungen umgesetzt werden.

Eine Grundlage für einen versorgungssicheren Hochlauf des Prosuming schaffen

Künftig wird jeder Gebäudebewohner bzw. -nutzer zum Prosumer. Dafür sorgen zum einen die Vorgaben des Gebäudeenergiegesetzes, hier insbesondere die Vorgabe des 65 Prozentanteils von erneuerbaren Energien für die Wärmeproduktion, sowie das 300-GW-PV-Aufdach Ziel aus dem Osterpaket der Bundesregierung. Weitere wesentliche Impulse für das Prosuming kommen durch die E-Mobilität (Stichwort bivalentes Laden) und die hohe Energiepreisinflation in den Markt.

Der nun zu erwartende rasante Hochlauf von Prosumern im Massenkundenbereich stellt die Versorgung vor veritable Herausforderungen. Einerseits sind einfache und kundenfreundliche Lösungen für den Prosumer gefragt. Andererseits können öffentliche Versorger (Netz und Lieferanten) ihrer Daseinsvorsorgepflicht nur dann nachkommen, wenn sie mit einem hohen Maß mit Vorhersagbarkeit, Professionalität und technischer Zuverlässigkeit der sich zunehmend selbstoptimierenden Prosumer rechnen können. Wie beides gleichzeitig zu erreichen ist, darüber ist auf politischer Ebene ja bereits auch schon heftig und bisher noch ohne Einigung gestritten worden (Stichwort § 14a EnWG).

Prognoseverbesserung durch Fahrplanpflicht

Erfreulicherweise gibt es bei genauerer Hinsicht aber grundsätzlich eine hohe Interessengleichheit zwischen Prosumern und Versorgern. Denn der Prosumer wird mit zunehmendem Ausbaugrad seiner Anlageninvestitionen sehr schnell erkennen, dass ihm sein Optimierungsfall ein hohes Maß an interner Koordinierungsfähigkeit von – situativ häufig konkurrierenden – Einsatzszenarien abverlangt. So muss es ihm z.B. jederzeit gelingen, Erzeugungs- und Speicherfüllstands- mit Preisprognosen, möglichen Netzengpässen und Prognosen seines Bedarfs sowie Optionen seiner Lastverlagerung aufeinander abzustimmen.

Faktisch läuft es darauf hinaus, dass er diese Aufgabe mit Hilfe eines intelligenten Energiemanagementystems löst, welches ihm Fahrpläne für die optimale Steuerung seines Anlagenpark generiert. Dieser Fahrplan wiederum ist gleichzeitig die Grundlage für die Ermittlung seines Restbedarfs an Strom, den er aus dem öffentlichen Netz beziehen muss, um versorgungssicher zu sein.

Die öffentlichen Versorger benötigen aber genau diesen „Restbedarfsfahrplan“, um ihren Versor-gungspflichen nachkommen zu können. Haben sie ihn nicht – was heute der Standardfall ist – fehlen Netz und Lieferanten die entscheidenden Prognosefaktoren für die Erfüllung ihrer Versorgungs-beiträge und -planungen.

Mit anderen Worten: Die Grundlage für einen versorgungssicheren Hochlauf des Prosumings ist die obligatorische Meldung von standardisierten Restbedarfsfahrplänen an die öffentliche Energie-versorgung (Netz und Lieferant). Da die Generierung und Weitergabe dieses Fahrplans im ureigensten Interesse des Prosumers liegt, sollte es im Interesse aller sein, ihm eine regulatorische Basis zu geben. Ggf. sollten dafür auch Fördergelder zur Verfügung stehen.

Auch Klein-Prosumern einen Ort zur Vermarktung ihrer Netzflexibilität bieten

Klein-Prosumer haben wie jeder Anlagenbetreiber kein Interesse am Redispatch ihrer Anlagen bzw. Einsatzszenarien. Aktuell findet das Engpassmanagement mangels hinreichender Prognosefähigkeiten auf der Niederspannungsebene allerdings noch keine Basis für die Vermeidung rein kurativen Eingreifens durch Abregeln von Verbrauchern durch Netzbetreiber. Eine Meldepflicht standardisierter Restbedarfsfahrpläne würde diesen Mangel heilen. Zugleich würde sie den Weg bereiten für die Einführung des „Zurverfügungstellungsmarktes“ auch auf der Niederspannungsebene. Die Zeit läuft uns davon. Worauf warten wir noch?

Dr. M. Baumert, Geschäftsfeld Lösungen Energie, EWE VERTRIEB GmbH, Oldenburg, martin.baumert@ewe.de

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