Prof. Dr. Marc Oliver Bettzüge, Universität zu Köln sowie geschäftsführender Direktor, Energiewirtschaftliches Institut (EWI) an der Universität zu Köln (Bildquelle: EWI)
„et“: Der Ausstieg für die Kernenergie soll Ende nächsten Jahres vollzogen sein. Besteht dabei die Gefahr von Versorgungslücken aus aktueller Sicht?
Bettzüge: Die Ereignisse um die Systemtrennung in Europa im Januar dieses Jahres haben die Verletzbarkeit des europäischen Stromsystems nachdrücklich aufgezeigt. Die Abschaltung von mehr als 8 GW gesicherter Leistung aus Kernenergie wird die Gewährleistung der Systemsicherheit sicherlich nicht vereinfachen. Zumal die Hälfte dieser Leistung in Süddeutschland herausgenommen werden wird, wo es ohnehin einen Nachfrageüberhang gibt, wie der innerdeutsche Netzengpass aufzeigt.
Relevant sind vor allem mögliche Extremsituationen, beispielsweise ein Wochentag im Winter, der sehr kalt in Frankreich und windstill und dunkel in Deutschland ist. Ob die Kapazitäten nach 2022 noch ausreichen, um eine solche Situation ohne größere Abschaltungen zu bewältigen, kann meines Erachtens nicht als sicher gelten, insbesondere, wenn, wie im Januar 2021, unvorhersehbare Einzelereignisse die Lage erschweren würden.
„et“: Deutlich steigende CO2-Preise setzen derzeit insbesondere die Kohlekraftwerke unter Druck. Wie groß ist die Gefahr, dass diese deutlich vor 2038 aus dem Markt gedrängt werden und welche Folgen für die Stromversorgungssicherheit hätte das?
Bettzüge: Die anhaltende Rallye der CO2-Preise hat bereits zu einem erheblichen Rückgang der Steinkohleverstromung geführt. Szenariorechnungen des Energiewirtschaftlichen Instituts (EWI) zeigen, dass die Verschärfung der EU-Klimaziele diesen Trend beschleunigen dürfte, und dass die zurückgehende Auslastung dann auch zur vorzeitigen Abschaltung von Kohlekraftwerken führen könnte. Viele Beobachter sehen darin allerdings keine Gefahr, sondern im Gegenteil einen Gewinn für die europäische Klimapolitik.
Aus Sicht der Versorgungssicherheit würde diese Entwicklung nur dann zu einer „Gefahr“ werden, wenn Stilllegungsgenehmigungen unbedacht erteilt würden; das ist bei dem bislang beobachtbaren guten Zusammenspiel von Bundesnetzagentur und Übertragungsnetzbetreibern aber nicht zu erwarten. Insofern können wir uns vermutlich auf eine Situation einstellen, in der vermehrt Kraftwerksbetreiber stilllegen möchten, dies aber nicht dürfen. Wie lange eine solche etwas paradox anmutende Situation anhält, wird naturgemäß vor allem davon abhängen, wie schnell es zum Neubau von Ersatzkapazitäten mit gesicherter Leistung kommt.
„et“: Aktuell naheliegend sind hier Gaskraftwerke. Aber wie attraktiv sind die Investitionsbedingungen im Markt aus heutiger Sicht?
Bettzüge: Das müssten Sie mögliche Investoren fragen. Festzustellen ist, dass seit der Verkündung des Kohlekompromisses im Januar 2019 keine nennenswerten Neubauvorhaben neu angekündigt worden sind. Auch die Verschärfung des EU-Klimaziels im vergangenen Jahr oder der starke Anstieg der Strompreise in diesem Jahr haben noch keine erkennbare Veränderung der Investitionsneigung bewirkt. Diese Zurückhaltung lässt sich u.a. mit den hohen Risiken erklären, die mit einer solchen Investition verbunden sind. Neben den ohnehin beträchtlichen Marktrisiken spielen dabei die von Ihnen angesprochenen politischen Risiken eine wichtige zusätzliche Rolle.
Die regulatorischen Bedingungen für den Betrieb eines Gaskraftwerks über dessen technische Lebensdauer bis in die 2040er Jahre hinein sind, vorsichtig formuliert, unklar. Zudem konnten mögliche Investoren jüngst beobachten, dass die Zielmarken auf dem Weg zur Klimaneutralität in kurzen Abständen immer weiter nach vorne gezogen worden sind. Gleichzeitig gibt es keinerlei Sicherheit, ob und zu welchem Zeitpunkt CCS/CCU eingesetzt werden kann bzw. ausreichende Mengen von Wasserstoff für eine entsprechende Umstellung des Energieträgers vorhanden sein werden. Abgesehen von Reservekraftwerken ist die Politik bislang nicht bereit, den Investoren diese Risiken abzunehmen. Insofern kann ich die zu beobachtende Investitionszurückhaltung gut nachvollziehen.
„et“: Was bedeutet das Fehlen größerer Kapazitäten steuerbarer Leistung für Sicherheit und Stabilität des Stromsystems generell?
Bettzüge: Das Stromsystem kann nur mit steuerbaren Einheiten ausgeregelt werden. Mit Wind- und Solarenergieanlagen allein kann man kein Stromnetz aufspannen, sondern nur die Energiemengen reduzieren, welche die steuerbaren Anlagen zur Verfügung stellen müssen. Zwar kann eine weitere Flexibilisierung der Nachfrage eine gewisse Abhilfe schaffen. Dennoch ist es von zentraler Bedeutung, die Wind- und Solarenergieanlagen durch einen hinreichend großen steuerbaren Kraftwerkspark zu komplementieren, wozu übrigens auch Speicher zählen.
Bislang konnte Deutschland hierfür auf den in vielen Jahrzehnten aufgebauten konventionellen Kraftwerkspark setzen. Durch Kernenergie- und Kohleausstieg sowie altersbedingt schmilzt dieser Bestand jedoch merklich zusammen, was sich in dieser Dekade beschleunigt fortsetzen wird. Der schnelle Aufbau von entsprechenden Ersatzkapazitäten – notgedrungen zunächst gasgefeuert, perspektivisch aber auf Wasserstoff umrüstbar – muss also neben dem weiteren Ausbau von erneuerbaren Energien und von Netzen eine dritte investive Priorität im deutschen Stromsystem sein.
„et“: Sehen Sie die eingangs schon angesprochene Systemtrennung im europäischen Verbund Anfang Januar dieses Jahres als Warnschuss für die elektrische Versorgungssicherheit?
Bettzüge: Elektrische Versorgungssicherheit ist immer und überall ein hohes Gut und kann niemals zu 100 % garantiert werden. Darauf hat die Systemtrennung genauso aufmerksam gemacht wie die Stromkrise in Texas im Monat danach. Daher ist Resilienz von so hoher Bedeutung – also die Fähigkeit des Systems, eine Vielzahl von kritischen Situationen bewältigen zu können. Die Erfahrungen mit der Systemtrennung im europäischen Stromverbund Anfang dieses Jahres deuten an, dass das europäische Stromsystem sich den Grenzen seiner Resilienz angenähert haben könnte. Die Transformation des Energiesystems wird weiteren Druck auf diese Grenzen ausüben – durch die eingeleitete Abschaltung von gesicherter Leistung, durch den weiterhin wachsenden Anteil fluktuierender Einspeisung sowie durch die Zunahme elektrischer Lasten wie Wärmepumpen und Ladestationen für elektrische Fahrzeuge. Daher kann man die Ereignisse um die genannte Systemtrennung durchaus als Anregung verstehen, dem Thema Versorgungssicherheit noch größere Aufmerksamkeit zu widmen als bisher.
„et“: Droht angesichts des vor allem durch E-Mobility und Wärmepumpen getriebenen Strombedarfswachstums die Gefahr von Versorgungslücken?
Bettzüge: Wenn die elektrische Last steigt, muss auch die gesicherte Leistung zunehmen, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Flexibilitätspotenziale, welche mit den neuen Stromverbrauchern verbunden sind. Die bisherigen Ausbaupläne berücksichtigen diesen Effekt vermutlich noch nicht in vollem Umfang. Beispielsweise hat EWI in einer gemeinsamen Studie mit dem französischen Beratungsunternehmen E-Cube gezeigt, dass die nationalen Ausbaupläne von Wärmepumpen noch nicht vollständig in den europäischen Ausbauplänen für Erzeugungskapazitäten und Netzen abgebildet zu sein scheinen. Hinzu kommt die nicht unerhebliche Unsicherheit bezüglich des tatsächlich erreichbaren Ausbaupfads der erneuerbaren Energien. Je weniger Energiemengen im Jahr 2030 aus Wind und Solar bereitgestellt werden können, umso mehr müssen aus konventionellen Energieträgern stammen; und für deren Umwandlung wird es nach Lage der Dinge nur begrenzte Kapazitäten geben.
„et“: Inwiefern adressiert das bestehende Strommarktdesign diese Problematik?
Bettzüge: Der Strommarkt produziert einen kurzfristigen Preis, der die Einsatzentscheidungen von Kraftwerks- und Speicherbetreibern sowie der Nachfrage miteinander koordiniert. Dieser Mechanismus ist zeitlich hoch aufgelöst und im Rahmen seiner Möglichkeiten effizient. Probleme entstehen vor allem durch die mangelnde Berücksichtigung geographischer Differenzen – Stichwort: Engpass – sowie durch die vielfältigen Verzerrungen, die auf der Nachfrageseite durch zusätzliche Entgelte, Umlagen und Abgaben entstehen. Außerdem liefert der Strommarkt Forwardpreise, die eine gewisse Absicherung erlauben. Aber diese Forwardmärkte sind nur auf wenige Jahre liquide, weswegen es momentan nicht möglich ist, Kraftwerksinvestitionen in hinreichendem Umfang darüber abzusichern.
„et“: Wie müsste das Strommarktdesign geändert werden, damit genügend Anreize für Beiträge zur Versorgungssicherheit und Stabilität des Stromsystems zukünftig gegeben sind?
Bettzüge: Das Strommarktdesign ist für die kurzfristige Optimierung gut so, wie es ist. Verbesserungen sollten in dieser Hinsicht vor allem darauf abzielen, die verbliebenen, zuvor angesprochenen Verzerrungen abzubauen. Davon unabhängig ist die Frage nach der Reduktion der Investitionsrisiken für Investoren, um ein Mindestmaß des Zubaus von gesicherter Leistung zu realisieren. Hierfür gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, sowohl für die Schaffung der entsprechenden Anreize als auch für die Verteilung der durch die Absicherung entstehenden Kosten. Da der Staat in hohem Maße verantwortlich für die genannten Risiko ist, steht für mich außer Frage, dass der Staat seinerseits zu deren Minderung beitragen muss, insbesondere auch durch Betriebsgarantien.
„et“: Auf welche Art und Weise könnte der Staat dies umsetzen?
Bettzüge: Vermutlich wird man vor diesem Hintergrund zu einer ähnlichen Lösung kommen, wie man sie im EEG für den Aufbau der EE-Kapazitäten gefunden hat: Der Staat könnte ein Vergütungssystem für neue Kraftwerke garantieren und die so abgesicherten Kapazitäten mittels Ausschreibungen beschaffen. Die Finanzierung des Risikos aus diesen Ausschreibungen – also des Falls, dass die Deckungsbeiträge aus dem Verkauf des produzierten Stroms die Garantieerträge der Kraftwerke nicht decken – könnte man dann in noch zu verhandelnder Weise zwischen den unterschiedlichen Stromverbrauchsgruppen und dem Staatshaushalt aufteilen, genauso wie mittlerweile beim EEG. Wenn man die Ausschreibungen – und entsprechend die ausgesprochenen Garantien – auf die Klimaziele abstellt, müssten sich alle diese Erdgaskraftwerke in einem Zeitraum amortisieren, welcher viel kürzer als ihre technische Lebensdauer ist.
„et“: Könnte die Wasserstoffperspektive dieses Risiko nicht dämpfen?
Bettzüge: Dieses Risiko wird durch eine technische Umrüstbarkeit auf Wasserstoff nur eingeschränkt reduziert, da die Verfügbarkeit und die Wettbewerbsfähigkeit von Wasserstoff an einem Kraftwerksstandort derzeit quasi überhaupt nicht vorhergesehen werden können.
Daraus folgt, dass die in den Ausschreibungen ermittelten Garantiebeträge vergleichsweise hoch sein könnten. Da aber die Kosten für die Errichtung konventioneller Kapazitäten im Vergleich zu allen anderen Kosten der Energietransformation nicht besonders in Gewicht fallen, sollten wir über diese Position nicht allzu lange diskutieren, sondern uns im Zweifel auf die sichere Seite legen. Wichtig wäre es dann allerdings, die möglichen Zusatzerträge am goldenen Ende abzuschöpfen, welche entstehen könnten, sofern diese Kraftwerke dann wider Erwarten doch länger auf Erdgasbasis betrieben werden müssten als in den jetzigen Klimaschutzplänen vorgesehen.
„et“: Herr Prof. Bettzüge, vielen Dank für das Interview.