Erdgas wird auch zukünftig eine Rolle im Strommix spielen müssen, daher gilt es, die Importabhängigkeit durch Streuung der Lieferanten zu verringern. Teil der Strategie muss es außerdem sein, vermehrt grünen Wasserstoff für die Verstromung verfügbar zu machen

Erdgas wird auch zukünftig eine Rolle im Strommix spielen müssen, daher gilt es, die Importabhängigkeit durch Streuung der Lieferanten zu verringern. Teil der Strategie muss es außerdem sein, vermehrt grünen Wasserstoff für die Verstromung verfügbar zu machen (Quelle: Adobe Stock)

Wie kann beides gelingen? Drei Szenarien. Anschließend die neuesten Ergebnisse aus dem Energiewende-Index.

Noch zu Beginn dieses Jahres waren die energiepolitischen Prioritäten der Bundesregierung voll auf Klimaschutz ausgerichtet: Mit dem „Osterpaket“ sollte der Ausbau der erneuerbaren Energien (EE) weiter Fahrt aufnehmen und der Umbau des Energiesystems vorangetrieben werden. Sowohl bei Solar Photovoltaik (PV) als auch bei der Onshore-Windkraft wurde das Ausbauziel für 2030 noch einmal um je 15 GW angehoben, nachdem die Ziele bereits wenige Monate zuvor im Rahmen der „Eröffnungsbilanz Klimaschutz“ deutlich nach oben geschraubt worden waren. Gleichzeitig korrigierte die Regierung im neuen Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ihre Prognose zum Bruttostromverbrauch 2030 um weitere 35 TWh nach oben – auf jetzt 750 TWh. Weiterhin gilt: Bis zum Ende des Jahrzehnts soll ein EE-Anteil von 80 % erreicht werden – das entspricht rund 600 TWh Strom, der dann aus erneuerbaren Energien erzeugt wird (gegenüber rund 235 TWh heute).

Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24.02.2022 haben sich die Rahmenbedingungen für die Energiewende dramatisch verändert. Neben den Klimazielen muss nun auch den neuen geopolitischen Realitäten Rechnung getragen werden. Und diese Realitäten treffen das Gasimportland Deutschland härter als viele andere Staaten. Bisher war Erdgas ein Eckpfeiler der deutschen Energieversorgung – auch und gerade auf dem Weg in die Klimaneutralität. Denn im Stromsektor sollten flexible Gaskraftwerke noch lange helfen, die Volatilität der Erneuerbaren auszugleichen.

Nun hat der Ukraine-Krieg die deutsche Abhängigkeit vom russischen Gas offen zutage treten lassen. Deutschland gehört innerhalb der EU zu den größten Abnehmern – rund zwei Drittel des deutschen Bedarfs wurden zuletzt durch Erdgas aus Russland gedeckt. Die russischen Lieferungen nach Polen, Bulgarien, Finnland, Dänemark und die Niederlande wurden bereits eingestellt; im Juli drosselte Lieferant Gazprom zudem die tägliche Gasmenge aus Nord Stream 1 auf rund 20 % – seither fließen nur noch 33 Mio. m3 Gas pro Tag. Die Reaktion der EU: Bis 2030 soll komplett auf Gasimporte aus Russland verzichtet werden. Wie könnte Deutschlands Stromversorgung ohne russisches Gas aussehen?

Drei Strommix-Szenarien im Zeichen der Gasknappheit

Zur Beantwortung der Frage, wie sich der Strommix in Deutschland 2030 gestaltet, hat McKinsey zwei Faktoren betrachtet: erstens, wie schnell der weitere Ausbau der Erneuerbaren gelingt, und zweitens, in welchen Mengen wettbewerbsfähig bepreistes Erdgas in den kommenden Jahren verfügbar sein wird. Wie sich diese beiden Faktoren auf die Stromversorgung und die Klimabilanz in Deutschland auswirken, haben wir in drei Szenarien modelliert. Jedes geht davon aus, dass der Strombedarf wie von der Bundesregierung prognostiziert auf 750 TWh ansteigt und der CO2-Preis bei 100 €/t liegt. Die McKinsey-Szenarien zum Strommix 2030 im Vergleich:

  • Im Szenario „Plan der Bundesregierung“ werden alle Vorgaben der Bundesregierung zum EE-Ausbau bis 2030 erreicht (215 GW Solar PV, 115 GW Onshore- und 30 GW Offshore-Windkraft). Der Atomausstieg 2022 und der Kohleausstieg bis 2038 finden wie geplant statt; 17 GW Kohlekraftwerke sind 2030 noch in Betrieb.
  • Im Szenario „Strom aus Europa“ strebt Deutschland die internationale Integration im Stromsektor an und wird zum dauerhaften Netto-Stromimporteur. Der Grund: Es wird davon ausgegangen, dass Deutschland zwar den EE-Ausbau beschleunigt, aber seine ambitionierten Ziele nicht vollständig erreicht, weil nicht jedes Jahr Zubaurekorde zu erzielen sind. Vielmehr wird angenommen, dass die Ausbauraten einen Mittelwert aus historischem Durchschnitt und historischer Bestleistung bilden. 2030 werden nach diesem Szenario 112 GW Solar PV, 93 GW Onshore- und 23 GW Offshore-Windkraft installiert sein. Die stärkste Abweichung gegenüber dem ersten Szenario weist dabei Solar PV auf, da die Ausbauziele der Bundesregierung für diese Technologie im Vergleich die mit Abstand ambitioniertesten sind (Abb. 1).
  • Im Szenario „Weitgehende Selbstversorgung“ versucht Deutschland, seine Energieabhängigkeit von anderen Ländern zu reduzieren und – falls keine Eigenproduktion möglich ist – seine Lieferanten breiter zu streuen. Zur Sicherstellung der Energieversorgung wird zum einen der Kohleausstieg ausgesetzt, so dass 2030 weiterhin Kohlekraftwerke mit einer Leistung von rund 34 GW zur Verfügung stehen. Zum anderen wird die Kapazität von Biomassekraftwerken von rund 9 auf 14 GW erhöht, indem die existierenden Anlagen am Netz gehalten und die jährlich geplanten Ausschreibungsmengen von 600 MW als Neuanlagen hinzugefügt werden. Hierzu müssten ausreichende Flächen für den Anbau von Energiepflanzen bereitgestellt werden, die dann allerdings weder für die Produktion von Nahrungsmitteln oder Biokraftstoff zur Verfügung stünden noch renaturiert werden könnten. Der EE-Ausbau vollzieht sich wie im Szenario „Strom aus Europa“, während sich Stromimport und -export hier in etwa die Waage halten. Hinsichtlich der Nutzung von Atomkraft werden zwei Varianten modelliert: Weiterbetrieb der Atommeiler bis mindestens 2030 und Abschaltung wie geplant.

Wo Deutschland im Jahr 2030 bei der Energiewende stehen wird, kommt demzufolge entscheidend auf den EE-Ausbau und die Situation am Gasmarkt an. Was ist hier der aktuelle Status und welche Entwicklungen sind zu erwarten? Nachfolgende Analysen geben einen Überblick.

Schlüsselaufgabe EE-Ausbau: Wie sie gelingen kann

Mit ihrer neuen Ambition, den EE-Anteil in Deutschland bis zum Ende dieses Jahrzehnts auf 80 % zu erhöhen, hat sich die Bundesregierung viel vorgenommen. Um das Ziel zu erreichen, muss die komplette Wertschöpfungskette rund um den EE-Ausbau befähigt werden: angefangen bei der Aufstockung der Produktionskapazitäten über schnellere Genehmigungsverfahren bis hin zur Anwerbung bzw. Weiterqualifikation ausreichend vieler Fachkräfte für den Bau und Betrieb der Anlagen.

Solar PV

Um das Ausbauziel von 215 GW zu erreichen, sind pro Jahr PV-Anlagen mit einer Kapazität von 18 GW zu errichten. Damit dies gelingt, müssen sich deutsche Solarinstallateure große Volumina am Markt sichern. Zum Vergleich: Der weltgrößte Solaranlagenhersteller Longi hat 2020 weltweit jährlich 25 GW Solarpanels ausgeliefert. Im nächsten Schritt wären ausreichend Flächen bereitzustellen. Nach dem Willen der Bundesregierung soll bei Gewerbebauten die Installation von Solarpanels zur Pflicht werden, bei Privathäusern zur Regel. Auch auf landwirtschaftlich genutzten Flächen sollen mehr PV-Anlagen entstehen. Gerade bei den vielen Kleinanlagen auf Hausdächern aber drohen Engpässe bei der Genehmigung, die vom Gesetzgeber schnell zu adressieren sind. Beispiel Netzanschluss: Zukünftig muss ein mittelgroßer Netzbetreiber etwa 50 Anschlüsse pro Tag bearbeiten – mehr als doppelt so viele wie heute. Aktuell werden diese noch vielfach ohne detaillierte Prüfung genehmigt, doch die Belastung der Netze steigt. In Zukunft muss deshalb fast jeder neue Anschluss im Detail auf Netzverträglichkeit untersucht werden – es braucht mehr Personal und bessere Simulationssysteme. Nicht zuletzt ist die vierfache (!) Zahl an Installateuren erforderlich, um die Montage der neuen Anlagen zu bewältigen – das sind rund 40.000 zusätzliche Monteure. Hinzu kommen Stellen für Planung, Entwicklung und Verwaltung, die zu besetzen sind. Doch Fachkräfte sind rar: Schon 2019 – vor Beginn der Corona-Pandemie – dauerte es im Schnitt mehr als ein halbes Jahr, um eine entsprechende Handwerkerstelle zu besetzen.

Onshore-Windkraft

 Um das Ziel von 115 GW bis 2030 zu erreichen, müssten etwa 1.800 neue Anlagen pro Jahr – oder fünf Anlagen pro Tag – errichtet werden. 2021 betrug das Ausbauvolumen mit rund 480 Anlagen weniger als ein Drittel. Die Zielerreichung gelingt nur, wenn der Plan umgesetzt wird, 2 % der Landesfläche für Windkraft auszuweisen und die Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. Theoretisch wäre sogar noch deutlich mehr Flächenpotenzial vorhanden: Das Umweltbundesamt gibt etwas weniger als 14 % der deutschen Landesfläche als grundsätzlich verfügbar an. Windenergieanlagen konkurrieren allerdings häufig um dieselben Plätze wie Solaranlagen, die bei der lokalen Bevölkerung tendenziell auf weniger Widerstände stoßen.

Offshore-Windkraft

 Aktuell beträgt die installierte Windkraftleistung zur See 8 GW; bis zu den angestrebten 30 GW in 2030 müsste sich die Kapazität nahezu vervierfachen. Selbst wenn die durchschnittliche Ausbaugeschwindigkeit der letzten zehn Jahre beibehalten wird, bliebe immer noch eine Lücke von 15 GW zum gesetzten Ziel. 2017/18 wurden Flächen bis 2025 ausgeschrieben, sodass bis dahin voraussichtlich 10,8 GW installiert sein werden. Zur Erreichung des 2030er-Ziels wären in den verbleibenden fünf Jahren folglich noch weitere 20 GW zu installieren – umgerechnet also 4 GW pro Jahr und damit deutlich mehr als historisch je erreicht. Ein Problem sind die langen Vorlaufzeiten von der Projektierung bis zur Inbetriebnahme: In Deutschland betragen die „Lead Times“ für Offshore-Windanlagen rund sechs Jahre. Eine weitere Hürde stellt auch hier der Fachkräftemangel dar: Allein für den Bau der Fundamente und die Anlageninstallation werden pro GW rund 3.500 Vollzeitkräfte benötigt.

Erdgas als knappes Gut – auch noch 2030?

Deutschland spürt nun auch wirtschaftlich die Folgen des Kriegs in der Ukraine. Durch die Drosselung der Erdgaslieferungen aus Russland hat sich der Preis für den Rohstoff drastisch erhöht: Wurde Erdgas Ende 2020 noch mit rund 15 €/MWh an der Börse gehandelt, kletterte der Preis in diesem Jahr im Schnitt auf rund 105 €/MWh und in der Spitze sogar auf über 200 €/MWh – ein Anstieg von mehr als 1.300 %. Aufgrund des vielfältigen Einsatzes von Erdgas sind nahezu alle Lebens- und Wirtschaftsbereiche in Deutschland von den Preissteigerungen betroffen:

  • Fast 40 % des Gasverbrauchs entfallen auf die Industrie, vor allem auf die Chemiebranche, Lebensmittelproduzenten, Stahlerzeuger sowie auf die Papier- und Glasindustrie. Düngemittelhersteller mussten bereits ihre Produktion aufgrund der gestiegenen Gaspreise erheblich drosseln. Um den weiteren volkswirtschaftlichen Schaden gering zu halten und eine weitgehend ungesteuerte Abschaltung ganzer Wirtschaftsbereiche zu vermeiden, sollten die Einsparungen, die der Staat vorsieht, möglichst gezielt vorgenommen werden.
  • Rund ein Drittel wird von privaten Haushalten verbraucht. Ein Standardhaushalt musste im Juli bei Abschluss eines Neuvertrages rund 110 % mehr für Erdgas zahlen als noch ein Jahr zuvor. Beim Durchschnittsverbrauch eines Einfamilienhaushaltes (rund 20.000 kWh pro Jahr) bedeutet dies Mehrkosten von rund 1.400 €.
  • Etwas mehr als 10 % des Erdgases wird für die Erzeugung von Strom verwendet; 2021 wurden 89 TWh aus Gasverstromung gewonnen. Auch wenn der Energieträger damit weniger als ein Fünftel zur deutschen Stromproduktion beiträgt, schlagen seine erhöhten Kosten auch auf den Strompreis durch, da Erdgas oft als „Preissetzer“ wirkt. Für 1 MWh Strom müssen Anbieter mittlerweile mehr als 300 € aufbringen – im März 2021 waren es noch rund 45 €. Trotzdem ging nach Angaben des Energieverbands BDEW die Stromerzeugung aus Erdgas nur um rund 12 % zurück. Gründe dafür waren unter anderem die geringere Kernkraftproduktion in Frankreich und die verminderte Stromerzeugung aus Wasserkraft infolge der Trockenheit.

Wie ist die Perspektive mittelfristig? Um sich unabhängig von Russland zu machen, strebt die Europäische Kommission an, bis 2030 komplett auf russisches Gas zu verzichten – eine enorme Herausforderung für Länder mit hoher Abhängigkeit wie Deutschland. 2021 bezog die Bundesrepublik schätzungsweise 58 Mrd. m3 Erdgas aus Russland. Um die Mengen zu ersetzen, müssen gleichzeitig mehrere andere Bezugsquellen ausgeschöpft werden, darunter beispielsweise auch LNG-Terminals: Das erste soll voraussichtlich 2023 in Wilhelmshafen mit einer Kapazität von 7,5 Mrd. m3 in Betrieb gehen.

Unklar ist noch, wie sich die Situation am Gasmarkt bis zum Ende des Jahrzehnts entwickeln wird. Eine Entspannung der Lage aufgrund der breiteren Streuung von Lieferanten erscheint ebenso denkbar wie eine Fortschreibung der aktuellen Krisensituation. Die drei oben vorgestellten Szenarien gehen von Letzterem aus: Gas bleibt aufgrund anhaltender geopolitscher Unsicherheit und Engpässen auf den internationalen Gasmärkten knapp. In dem Fall nehmen wir an, dass sich der Erdgaspreis 2030 auf einem ähnlich hohen Niveau bewegen wird wie im Juni dieses Jahres, also etwa bei 105 €/MWh. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass Politik und Energiewirtschaft danach streben werden, dass alle neuen Gaskraftwerke zugleich H2-ready sind, also alternativ auch mit grünem Wasserstoff betrieben werden können. Der angenommene Preis dafür liegt bei 90 €/MWh bzw. 3 €/kg. Ein Wasserstoffpreis von 3 €/kg setzt allerdings deutlich geringere Produktionskosten als heute und günstige Transportmöglichkeiten voraus. Der hier angenommene Wasserstoffpreis liegt somit am unteren Ende des möglichen Preiskorridors für 2030. Ferner gehen wir davon aus, dass die notwendigen Mengen auch durch Importe gedeckt werden müssen.

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