Szenarienanalyse: Deutschland weiter auf Erdgas angewiesen

Strommix: Abb. 1 Historische und zukünftig notwendige EE-Ausbauraten in Deutschland

Abb. 1 Historische und zukünftig notwendige EE-Ausbauraten in Deutschland (Quelle: McKinsey & Company)

Strommix: Abb. 2: Umwelt- und Klimaschutz, Wertung H2 2021 und H1 2022

Abb. 2: Umwelt- und Klimaschutz, Wertung H2 2021 und H1 2022 (Quelle: McKinsey & Company)

Im Szenario „Plan der Bundesregierung“ steigt 2030 die Produktion aus Erneuerbaren inklusive Biomasse, Wasserkraft und Geothermie auf 751 TWh – das entspricht einem EE-Anteil von 84 % an der deutschen Bruttostromproduktion (Netzverluste und Exporte eingeschlossen). Trotzdem – und ungeachtet der steigenden Gaspreise – werden noch immer 68 TWh aus Erdgas erzeugt. Wasserstoff wiederum trägt mit 48 TWh zur Deckung der Stromnachfrage bei, umgerechnet rund 3 Mio. t. Zur Sicherstellung einer lückenlosen Versorgung bleibt Kohlestrom mit 63 TWh weiterhin ein wichtiger Energieträger, wenngleich die Stromproduktion aus Kohle gegenüber 2021 um mehr als 61 % sinken würde. In diesem Szenario würde Deutschland in Phasen hohen EE-Ertrags sogar mehr Strom produzieren als für den Eigenbedarf nötig (rund 91 TWh) und somit zum Netto-Stromexporteur.

Im Szenario „Weitgehende Selbstversorgung“ werden die ambitionierten EE-Ausbauziele 2030 nicht erreicht und nur rund 520 TWh aus Erneuerbaren erzeugt – rund ein Drittel weniger als im „Plan der Bundesregierung“. Stattdessen geht das Szenario von einer weitgehenden Ausnutzung der inländischen Ressourcen aus: Da der Kohleausstieg nicht wie geplant vollzogen worden ist, kann mehr Kohlestrom die Lücke schließen (+91 TWh bzw. +145 % im Vergleich zum „Plan der Bundesregierung“). Gleichzeitig rechnet das Szenario mit einer teilweisen Kompensierung durch eine deutlich höhere Produktion von Biomasse (80 TWh gegenüber 49 TWh im „Plan der Bundesregierung“). Erdgas- und wasserstoffbasierte Stromerzeugung gehen auf 65 bzw. 38 TWh zurück, denn Kohle ist trotz der CO2-Kosten immer noch günstiger. Die Werte ändern sich leicht, wenn Atomkraftwerke bis 2030 weiterlaufen: In diesem Fall wird die CO2-intensive Kohle- und Gasstromproduktion durch rund 30 TWh Atomstrom zumindest teilweise substituiert, so dass nur noch 143 TWh aus Kohle (-7 %) und 64 TWh (-1 %) aus Gas erzeugt werden. Der EE-Anteil liegt in diesem Szenario (sowohl mit als auch ohne Atomkraft) bei knapp über 67 % und damit unter dem Zielwert von 80 %.

Im dritten Szenario „Strom aus Europa“ werden die EE-Ausbauziele ebenfalls nicht erreicht. Doch anstatt vermehrt auf CO2-intensive Stromproduktion zu setzen, werden 33 TWh aus anderen europäischen Ländern importiert, hauptsächlich aus Dänemark, Norwegen und Schweden. Dabei geht das Szenario davon aus, dass der erforderliche Importstrom auch zur Verfügung steht – tatsächlich bedarf es in diesen Ländern eines entsprechenden politischen Willens, Strom in diesem Umfang nach Deutschland zu exportieren, den das Modell nicht abschätzen kann. Die Produktion aus Kohle wiederum ist in diesem Szenario trotz der Importe mit 88 TWh deutlich höher als im „Plan der Bundesregierung“. Die Erzeugung aus Erdgas liegt mit 69 TWh auf einem vergleichbaren Niveau.

Die Szenarienanalyse macht deutlich: Deutschland bleibt auf Erdgas angewiesen. Selbst massive Preissteigerungen werden es nicht vollständig vom Markt verdrängen. Und auch wenn die EE-Ausbauziele erreicht werden, wird Erdgas immer noch zum Ausgleich der EE-Fluktuation benötigt. Andere Energieträger wie Kohle und Biomasse können diese Funktion nicht vollständig übernehmen. Bemerkenswert ist auch, dass in allen Szenarien die Erzeugung aus Erdgas nur leicht zwischen 64 und 69 TWh schwankt – unabhängig davon, ob die EE-Ausbauziele erreicht werden oder wie hoch die Verfügbarkeit von Kohlekraftwerken ist. Ebenfalls überraschend ist der hohe Anteil an Strom aus grünem Wasserstoff: 32 bis 74 TWh entsprechen einem Wasserstoffbedarf von 2 bis 4 Mio. t in 2030.

Das Festhalten an der Kohleverstromung zur Sicherung der Stromversorgung hat indessen seinen ökologischen Preis: Die CO2-Bilanz fällt in allen Szenarien enttäuschend aus. Im Fall der „Weitgehenden Selbstversorgung“ sinken die Emissionen im Stromsektor lediglich auf 171 Mt CO2 (-22 % im Vergleich zu 2021); selbst der Weiterbetrieb der Atomkraft bietet nur rund 10 Mt zusätzliches Einsparpotenzial (weitere -5 % im Vergleich zu 2021). Im Szenario „Strom aus Europa“ beträgt die Treibhausgasemission noch 113 Mt. Allein im „Plan der Bundesregierung“ kann das Emissionsziel von maximal 108 Mt in 2030 erreicht werden: Bei einer Reduktion um 59 % gegenüber 2021 beträgt der CO2-Ausstoß dann 89 Mt, während sich die Erzeugung aus Erneuerbaren nahezu verdreifacht.

Kann also Deutschland wirklich von Energieimporten unabhängiger und gleichzeitig klimaneutral werden? Sicher ist soviel: Die Herausforderung wird nicht kleiner. Erdgas wird auch zukünftig eine Rolle im Strommix spielen müssen, daher gilt es, die Importabhängigkeit durch Streuung der Lieferanten zu verringern und nach Möglichkeit auf europäische Exporteure wie Norwegen zu setzen. Teil der Strategie muss es außerdem sein, vermehrt grünen Wasserstoff für die Verstromung verfügbar zu machen – trotz der hohen Effizienzverluste. Bei Importen aus dem europäischen Ausland könnte dies sowohl auf die Versorgungssicherheit als auch auf den Klimaschutz einzahlen. Eine ähnliche Strategie bietet sich bei den Kohlekraftwerken an: Durch die Beimischung von grünem Ammoniak könnten bis zu 20 % der Emissionen aus Kohle vermieden werden – dies entspricht rund 11 Mt bzw. 13 % der gesamten Emissionen im Szenario „Plan der Bundesregierung“.

Nun zu den neuesten Ergebnissen aus dem Energiewende-Index.

Energiewende-Index: Die Indikatoren im Überblick

Die jüngste Entwicklung der 15 Indikatoren liefert ein gemischtes Bild. Gegenüber dem letzten Energiewende-Index vom März sinkt die Zahl der Indikatoren mit unrealistischer Zielerreichung von fünf auf drei und die mit stabil realistischer Zielerreichung steigt von drei auf sechs. Weitere sechs Indikatoren stehen auf der Kippe.

Insgesamt haben sich vier Indikatoren verbessert, darunter der für die Energiepolitik so wichtige EE-Anteil am Bruttostromverbrauch, wenngleich dieser angesichts des neuen 80 %-Ziels der Bundesregierung noch deutlich stärker gesteigert werden müsste. Andere Indikatoren wiederum haben sich spürbar verschlechtert. Dazu zählen der Anteil Gesamtenergiekosten Haushalte und ganz besonders die gesicherte Reservemarge: Schon im kommenden Jahr ist – nach dem Stilllegen der letzten Kernkraftwerke – erstmalig mit einer negativen Reservemarge zu rechnen.

Zielerreichung für drei Indikatoren unrealistisch

Der Indikator Sektorkopplung Verkehr sinkt leicht von 44 % auf 43 %. 2021 waren insgesamt 1,3 Mio. E-Fahrzeuge zugelassen, doch es wären 2,8 Mio. nötig, um im Plan zu bleiben. Ganz unerreichbar ist das 2030er-Ziel dennoch nicht, da die E-Mobilität derzeit überproportional wächst, während der Energiewende-Index in seiner Berechnung von einer linearen Entwicklung ausgeht (Abb. 2).

Die Kosten für Netzeingriffe sind mit aktuell 8,1 € pro MWh weiterhin weit vom 1-€-Ziel entfernt. Gegenüber der ersten Jahreshälfte hat sich dieser Wert aufgrund geringerer Aufwendungen für das Einspeisemanagement allerdings leicht verbessert. Der Zielerreichungsgrad steigt von 39 % auf 50 % (Abb. 3).

Kaum Fortschritte gibt es beim Indikator Ausbau Transportnetze: Zwar wurden in den vergangenen beiden Quartalen rund 160 km fertiggestellt; die Gesamtlänge beträgt jetzt 2.005 km. Allerdings bleibt der Ausbau weiter deutlich hinter dem Zielwert von 4.977 km insgesamt und knapp 500 km pro Halbjahr zurück. Die Zielerreichung des Indikators beträgt 37 %.

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