Die Stromwende bleibt spannend. Die Versorgung auch in Zukunft zu jedem Zeitpunkt sicherzustellen, erfordert ein Bündel an Maßnahmen

Die Stromwende bleibt spannend. Die Versorgung auch in Zukunft zu jedem Zeitpunkt sicherzustellen, erfordert ein Bündel an Maßnahmen (Quelle: Adobe Stock)

Klar ist: Es wird mehr brauchen als den Ausbau der Erneuerbaren. Vielmehr ist ein Bündel von Maßnahmen auf der Angebots- und Nachfrageseite notwendig, um Deutschland auch weiterhin sicher mit Strom zu versorgen. Im Anschluss daran präsentieren wir die neuesten Ergebnisse im Energiewende-Index 2030.

Sicherstellung der Stromversorgung immer schwieriger

Deutschlands ist gut durch den Winter gekommen. Der befürchtete Blackout ist ausgeblieben. Doch die Sicherstellung der Stromversorgung bereitet immer größere Probleme. Ein Umstand, der durch den Krieg in der Ukraine nur verstärkt, aber nicht verursacht wurde. Die Warnzeichen mehren sich.

Ein Beispiel: Im Oktober importierte Deutschland aufgrund der schwachen Windverhältnisse zeitweise bis zu 11 GW Strom aus dem Ausland. Erst nach knapp einer Woche entspannte sich die Situation, und Deutschland führte wieder mehr Strom aus als ein.

Ein weiteres Beispiel: Im Dezember reichten die Netze nicht aus, um Windstrom aus dem Norden in den Süden zu transportieren. Es mussten Kraftwerke zugeschaltet und Strom aus der Schweiz importiert werden. Um die Kosten der Importe und den CO2-Ausstoß des Redispatches zu reduzieren, wurden die Verbraucher mit einbezogen. Der Übertragungsnetzbetreiber TransnetBW rief seine Nutzer via App auf, Elektrogeräte nach Möglichkeit auszuschalten oder auf akkubetriebene zurückzugreifen.

Über Jahrzehnte stabile Versorgung

Lange Zeit war Deutschland Spitzenreiter, wenn es um sichere Stromversorgung ging. 2020 mussten hiesige Verbraucher im Schnitt nur etwa 15 Minuten mit Stromausfällen rechnen. Frankreich kam im gleichen Zeitraum auf 21 Minuten, Österreich auf 38 und Bulgarien gar auf 370 Minuten. Einziges Ausnahmejahr bildete 2021, als die Ausfallzeit infolge der Flutkatastrophe im Ahrtal um etwa ein Fünftel anstieg.

Von der grundsätzlich hohen Versorgungssicherheit profitieren hierzulande nicht nur die Privathaushalte, sondern auch die Industrie, die auf ein stabiles Stromnetz essenziell angewiesen ist. Denn schon bei geringfügigen Ausfällen drohen ganze Wertschöpfungsketten zusammenzubrechen, beispielsweise im Automobil- oder Chemiesektor. Und das erneute Hochfahren, wenn der Strom wieder fließt, dauert oft Stunden oder Tage.

Gesicherte Leistung nimmt dramatisch ab

Inzwischen wird allen Stromnutzern klar: Spitzenreiter war gestern. Standen im Jahr 2010 noch 105 GW gesicherte Leistung zur Verfügung, waren es Ende 2022 noch 90 GW. Bleibt es bei den Ausstiegsplänen der Bundesregierung aus Kohle und Kernkraft, könnten es bis 2025 nur noch 80 GW und bis zum Ende des Jahrzehnts 70 GW sein. Addiert man zusätzlich die Kapazität aus erneuerbaren Energien (EE), die statistisch im Bedarfsfall zur Verfügung steht, beträgt die verfügbare Leistung zu Spitzenlastzeiten 99 GW in 2022, 92 GW in 2025 und 90 GW in 2030 – vorausgesetzt, die hoch ambitionierten EE-Ausbauziele der Bundesregierung werden erreicht.

In unsere Berechnung der gesicherten Leistung fließen die verfügbaren Erzeugungs- und Speicherkapazitäten aus Kohle, Gas, Kernkraft, Öl und Abfall ein, einschließlich der geplanten und in Umsetzung befindlichen Zu- und Rückbauten. Hinzu kommen Biomasse und Wasserkraftwerke. Um die tatsächlich verfügbare Leistung zu bestimmen, wurden bei allen Energieträgern (ausgenommen Pumpspeichern) entsprechend der Methodik der Übertragungsnetzbetreiber rund 10 % Ausfälle und Revisionen von der installierten Leistung abgezogen.

Kohle. Die von uns berechneten künftigen Kapazitäten aus Braun- und Steinkohle reflektieren den inzwischen vorgezogenen Kohleausstieg in NRW von 2038 auf März 2030: Von den aktuell 38 GW installierten Kraftwerken in Deutschland werden bis dahin mindestens 24 GW vom Netz gehen. Die dann noch verbleibenden Kapazitäten von 8 GW Steinkohle und 6 GW Braunkohle sollen bis 2035 bzw. 2038 auslaufen. Die im vergangenen Oktober reaktivierten 12 Kraftwerke mit einer Leistung von bis zu 7 GW sollen bis spätestens 2024 das Netz wieder verlassen und tragen daher nur kurzfristig zur Stromversorgung bei.

Gas. Um den Verlust an gesicherten Kapazitäten zu kompensieren, setzt das Bundeswirtschaftsministerium auf neue Gaskraftwerke, die auch mit Wasserstoff betrieben werden können. Mit den derzeit im Bau oder Probebetrieb befindlichen Anlagen rechnen wir bis 2025 mit rund 3 GW zusätzlicher Kapazität. Weitere Zubauten, wie beispielsweise die jüngst im Monitoringbericht der Bundesnetzagentur angegebenen 21 GW bis 2030, erscheinen angesichts mangelnder ökonomischer Anreize sowie einer Bauzeit von bis zu fünf Jahren inklusive Planungs- und Genehmigungsverfahren aus aktueller Sicht unrealistisch und werden daher in unserer Rechnung nicht berücksichtigt.

Kernkraft. In unserer Analyse gehen wir davon aus, dass Mitte April 2023 die letzten Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Das sind weitere 4 GW installierte Leistung, die dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Mit der Strategie, nicht nur aus den fossilen Energien, sondern auch aus der Atomkraft auszusteigen, geht Deutschland einen Sonderweg. Andere europäische Länder setzen weiterhin primär auf Kernkraft (z.B. Frankreich), verlängern die AKW-Laufzeiten (z.B. Belgien) und treiben sogar die Errichtung neuer Meiler voran (z.B. Tschechien).

Biomasse und Wasserkraft. In die Rechnung einbezogen wird außerdem die installierte Leistung von Biomasse- und Laufwasserkraftwerken sowie Pumpspeichern. Da diese Technologien nicht durchgängig zur Verfügung stehen, wird (basierend auf der Methodik der Übertragungsnetzbetreiber) von einer bestimmten Rate nicht einsetzbarer Leistung ausgegangen. Für Biomasse liegt diese bei 40 %, für Wasserkraft bei 57 % und für Pumpspeicher bei 20 %. Weil es zu Wasserkraft und Pumpspeichern bis 2030 keine konkreten Ausbaupläne gibt, nehmen wir an, dass die installierte Leistung in den kommenden Jahren unverändert bleibt. Bei Biomasse wiederum gehen wir davon aus, dass die jährlich geplanten Ausschreibungsmengen als Neuanlagen hinzugefügt werden – das entspricht einer installierten Leistung von 14 GW bis 2030.

Erneuerbare Energien. Zu den gesicherten Kapazitäten aus konventionellen Energien addiert sich die statistisch erwartbare Erzeugung aus Erneuerbaren. Hierzu ziehen wir die Wetterdaten der letzten 30 Jahre heran und betrachten auf stündlicher Basis, wie viel Strom Solar- und Windanlagen rechnerisch in Engpasssituation einspeisen können: Findet der EE-Ausbau bis 2030 wie geplant statt – mit 115 GW Wind auf dem Land, 30 GW Wind auf See und 200 GW Solar-PV –, stehen nach unserer Analyse zu den Zeitpunkten, wenn hohe Nachfrage auf geringe EE-Produktion trifft, statistisch mindestens 20 GW zur Verfügung (2025: 12 GW). Dabei orientieren wir uns an den Vorgaben aus dem Energiewirtschaftsgesetz, demzufolge in 99,94 % der Zeit ausreichend Strom zur Deckung der Nachfrage zur Verfügung stehen muss.

Elektrifizierung lässt Spitzenlast ansteigen

Was die Versorgungslage entscheidend verschärft, ist der künftige Strombedarf: In den kommenden Jahren nimmt mit der wachsenden Nachfrage auch die Spitzenlast deutlich zu. Lag diese in Deutschland 2022 laut europäischem Netzbetreiberverband ENTSO-E noch bei 79 GW, geht der Verband in Simulationen davon aus, dass sie bis 2025 auf 96 GW und bis 2030 auf bis zu 120 GW ansteigt – ein Plus von 52 %.

Hauptursache ist die zunehmende Elektrifizierung der Wärmeversorgung und des Verkehrs. Gerade der steigende Bedarf an Wärmepumpen (rund 33 GW Spitzenlast in 2030) und die zunehmende Elektromobilität (rund 11 GW Spitzenlast) treiben den Verbrauch in die Höhe – insbesondere in den Abendstunden. So wird die besagte 2030er-Spitzenlast von 120 GW gegen 18 Uhr im späten Januar erreicht, wenn viele Verbraucher heizen, Essen kochen und ihr Elektroauto nach der Rückkehr von der Arbeit zu Hause laden. Dabei erscheint die von ENTSO-E prognostizierte Zahl noch konservativ gerechnet angesichts von 15 Mio. geplanten Elektroautos bis 2030: Denn bei einer typischen Ladeleistung von 11 kW würde nach der ENTSO-E-Rechnung nur jedes fünfzehnte Fahrzeug tatsächlich laden. Hängen mehr Autos abends am Netz, könnte die tatsächliche Spitzenlast noch deutlich höher liegen.

Eine hohe und derzeit von uns nicht eingerechnete Unsicherheit liegt zudem in der Entwicklung des Strombedarfs und der Spitzenlast in der Industrie. Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine haben im letzten Quartal 2022 EU-weit zu einem rund 6 bis 8 % geringeren Strombedarf geführt – ein in der Historie außergewöhnlich hoher Wert. Wie sich die industrielle Produktion in Deutschland und Europa dauerhaft weiterentwickelt, bleibt abzuwarten. Die Möglichkeit einer Schließung der Versorgungslücke durch Deindustrialisierung wird im Folgenden jedoch nicht betrachtet.

Gefahr von Versorgungslücken nicht gebannt

Wenn in mindestens 99,94 % der Zeit die Stromnachfrage voll gedeckt sein soll, ergibt sich daraus die Frage: Kann dies auch bei höherer Spitzenlast und gleichzeitiger Reduktion der gesicherten Kapazität gelingen? Hierzu unterstellen wir, dass die Spitzenlast auf 96 GW in 2025 bzw. 120 GW in 2030 ansteigt. Dem gegenüber stehen in den beiden Jahren 80 GW bzw. 70 GW gesicherte Kapazität sowie statistisch mindestens 12 GW bzw. 20 GW aus Erneuerbaren – die Summe aus beiden ziehen wir im Folgenden als verfügbare Kapazität für die Berechnung heran.

Im Ergebnis verbleibt eine Versorgungslücke von 4 GW in 2025 bzw. 30 GW in 2030. Damit steuern wir auf eine erhebliche Unterdeckung zu: Eine Kapazität von 30 GW entspricht etwa 30 thermischen Großkraftwerken.

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