Wie die Lücke geschlossen werden kann

Stromwende: Abb. 1 Um Versorgungslücken vorzubeugen, müssen angebots- und nachfrageseitige Hebel aktiviert werden

Abb. 1 Um Versorgungslücken vorzubeugen, müssen angebots- und nachfrageseitige Hebel aktiviert werden (Quelle: McKinsey & Company)

Wie häufig aber kommt es in Zukunft zu Versorgungslücken? Unsere Simulationen für 2030 zeigen, dass diese stark variieren: Während die Hälfte der Unterversorgungsphasen weniger als fünf Stunden beträgt, dauert die längste Phase ungefähr 21 Stunden an. Im Mittel fehlen 100 GWh Strom und während der größten Lücke des Jahres rund 600 GWh. Insgesamt treten Versorgungslücken im Jahr 2030 knapp 100 Mal auf.

Für die künftige Stromversorgung bedeutet das: Selbst bei einem flächendeckenden Umstieg auf Erneuerbare sind weitere Maßnahmenhebel nötig, um das System zu stabilisieren. Und tatsächlich stehen in Deutschland mehrere Hebel zur Verfügung, um Versorgungslücken kurzzeitig oder längerfristig zu füllen – vor allem auf der Angebotsseite, aber auch auf der Nachfrageseite (Abb. 1).

Angebotsseite: Drei Hebel zur längerfristigen Absicherung, ein kurzfristig wirkender

Stromimport. Werdenmit den inländischen Produktionskapazitäten Engpässe wahrscheinlicher, muss vermehrt auf Importe gesetzt werden. Die Herausforderung: Deutschlands langjährige Rolle als Netto-Stromexporteur kehrt sich um. Bislang profitierten die Nachbarländer von der historisch hohen Versorgungssicherheit hierzulande und bezogen mehr Strom aus Deutschland als umgekehrt. 2022 lag die Interkonnektorkapazität (die maximal mögliche Importmenge) bei 24 GW, bis 2030 soll sie 35 GW umfassen. Um allerdings die Leistung abrufen zu können, müssten unsere Nachbarländer in der Lage sein, diese auch bereitzustellen. Zum Vergleich: 2022 lag die höchste importierte Leistung bei 12 GW. Da auch die Nachbarländer steigende Strombedarfsspitzen haben, nehmen wir an, dass in Zukunft (optimistisch gerechnet) nur Importe in einer Größenordnung von etwa 10 GW zur Verfügung stehen. Die verbleibende Lücke in Deutschland könnte dadurch von 30 auf 20 GW reduziert werden.

Nutzung von Batteriespeichern. Für die kurzfristige Überbrückung von Engpässen eignen sich Batteriespeicher: Laut Netzentwicklungsplan könnten bis 2030 in einem mittleren Szenario Energiespeicher mit einer kumulierten Leistung von 10 GW installiert sein – davon 8 GW in dezentralen PV-Batteriespeichersystemen und 2 GW in Großbatteriespeichern. Letztlich ist neben der Leistung aber auch die Gesamtkapazität der verfügbaren Batterien ausschlaggebend dafür, wie hoch ihr Beitrag zur Stromversorgung sein wird und wie lange sie unterstützend wirken können. So gelingt ein vollständiges Füllen der Lücke nur in etwa 20 bis 30 % der Fälle, da viele Engpässe gemessen an der Batteriekapazität zu lange andauern.

Bau neuer Gaskraftwerke. In einem Anfang 2023 veröffentlichten Bericht der Bundesnetzagentur zur Versorgungssicherheit wird davon ausgegangen, dass 2030 rund 21 GW neue erdgasbetriebene Kraftwerke ans Netz gehen. Geschieht dies, wäre die berechnete Versorgungslücke damit bereits geschlossen. Doch wahrscheinlich ist das nicht: Bis 2025 können höchstens die bereits geplanten und im Bau befindlichen 3 GW zur Verfügung stehen. Und angesichts der langen Planungs-, Genehmigungs- und Bauzeiten ist es mehr als fraglich, ob bis 2030 weitere 18 GW neue Kapazitäten bereitgestellt werden können. Die dazu nötigen Investitionen sind zudem mit Unsicherheiten verbunden, weil unklar ist, wie lange die Gaskraftwerke laufen und wie (wenn tatsächlich auf Wasserstoff umgestellt werden soll) günstiger Wasserstoff beschafft werden kann. Daher sind zum Bau neuer Kraftwerke verstärkte Anreize zu setzen. Aufgabe der Bundesregierung wird es hier sein, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen und zugleich den Weg freizumachen, um Wasserstoff in ausreichender Menge und zu wettbewerbsfähigen Preisen nach Deutschland bringen zu können. Aufgrund dieser Unsicherheit bleiben weitere Gaskraftwerke über die angenommenen 3 GW hinaus in dem berechneten Potenzial unberücksichtigt. Die 2030er-Lücke für Deutschland beträgt damit immer noch 10 GW.

Weiterbetriebbestehender Kohlekraftwerke. Da sich die bisher beschriebenen Hebel wohl nur teilweise realisieren lassen, gibt es angebotsseitig noch die Möglichkeit, bestehende Kraftwerke länger als geplant am Netz zu halten. Selbst wenn nur wenige in Betrieb bleiben, könnten sie einen entscheidenden Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten. Und weil sie nur punktuell bei Engpässen zum Einsatz kämen, würden sie auch nur geringe Zusatzemissionen verursachen. Allerdings müssten den Kraftwerksbetreibern im Gegenzug für die Bereitstellung der Leistung Prämien gezahlt werden. Es erscheint jedoch politisch unwahrscheinlich, dass 2030 alle Kohlekraftwerke zur Absicherung der Versorgung am Netz bleiben. Der Hebel bleibt daher im Gesamtpotenzial unberücksichtigt.

Nachfrageseite: Hebel zur Überbrückung kurzzeitiger Engpässe

Reichen die angebotsseitigen Hebel nicht aus, kann auch Nachfragesteuerung zur Schließung von Versorgungslücken beitragen, sofern diese zeitlich begrenzt sind. In den USA wurden nach Angaben der Federal Energy Regulatory Commission (FERC) bereits in den Jahren 2009 und 2010 bis zu 10 % der Lastspitzen durch Nachfragesteuerung abgefedert. Würden in Deutschland analoge Ergebnisse erreicht, ließe sich die Spitzenlast in 2030 rechnerisch um 8 GW auf 112 GW senken:

  • Beispiel Industrie: Hier könnte eine Folgeregelung der Verordnung über Vereinbarungen zu abschaltbaren Lasten (AbLaV) eine Nachfragesenkung auf Basis einer Ausschreibung bewirken. Wer den Zuschlag in der Ausschreibung erhält, müsste seine Last auf Anweisung reduzieren.
  • Beispiel Privathaushalte: Die breitflächige Nutzung von Smart Metern könnte eine intelligente Steuerung des Stromverbrauchs ermöglichen. Die Haushalte würden so zugleich von günstigerem Strom profitieren, beispielsweise durch die Nutzung von Elektrogeräten in Zeiten geringer Nachfrage. Andere europäische Länder sind Deutschland bei der Ausrollung von Smart Metern bereits um Jahre voraus.

Das nachfrageseitige Potenzial von 8 GW ist allerdings noch ohne Berücksichtigung der potenziellen Beiträge aus Elektromobilität und Wärmepumpen gerechnet. Dabei bieten sich gerade diese Bereiche besonders an, da eine vergleichsweise hohe zeitliche Elastizität in der Nachfrage besteht. Nach unseren Annahmen ergeben sich weitere 3 GW in der Elektromobilität sowie 5 bis 20 GW bei Wärmepumpen durch die folgenden Maßnahmen:

  • Fahrer von Elektroautos könnten beim „Smart Charging“ günstigere Strompreise nutzen und dann laden, wenn mehr Strom relativ zur Nachfrage zur Verfügung steht – also insbesondere über Nacht. Wäre darüber hinaus bidirektionales Laden von EV-Batterien (also die Option, Energie aus dem Auto wieder ins Netz einzuspeisen) flächendeckend möglich, erhöht sich das Potenzial weiter. Ausgehend von den ENTSO-E-Prognosen zur zukünftigen Nachfrage der Elektromobilität könnten (über kurze Zeiten) bis zu 11 GW zusätzliche Leistung eingespeist werden. Bisher verfügt allerdings nur ein Bruchteil der Fahrzeuge über die Möglichkeit des bidirektionalen Ladens. Wir gehen davon aus, dass 2030 nur ein Viertel der Fahrzeuge regelmäßig zur Stromeinspeisung zur Verfügung steht. Die Spitzenlast würde dadurch um rund 3 GW reduziert.
  • Bei Wärmepumpen besteht die Möglichkeit der Abschaltung in Zeiten von Lastspitzen, allerdings qua Gesetz für höchstens zwei Stunden und auch nur dann, wenn der Strom über einen günstigen Wärmepumpentarif bezogen wird. Laut Bundesnetzagentur wird der Tarif für rund 60 % der installierten Wärmepumpen genutzt. Würden diese bei einem akuten Engpass alle abgeschaltet, ließe sich die Spitzenlast (ausgehend von den ENTSO-E-Prognosen zur zukünftigen Nachfrage von Wärmepumpen) um rund 20 GW senken. Dies dürfte in der Praxis allerdings wenig wahrscheinlich sein; vielmehr gehen wir von einer Abschaltung im Rotationsprinzip aus. Damit würde die Spitzenlast um rund 5 GW gesenkt.

Mit einem Gesamtpotenzial von 16 GW (bzw. 31 bei voller Ausnutzung der Wärmepumpen) könnte Nachfragesteuerung so zur Schließung zumindest kurzzeitiger Versorgungslücken beitragen.

Fazit

Unsere Berechnungen zeigen: Grundsätzlich stehen Hebel mit ausreichendem Potenzial zur Verfügung, damit Deutschlands Stromversorgung auch 2030 noch gesichert ist. Um jedoch mögliche Lücken allein mit angebotsseitigen Hebeln zu schließen, müsste der Bau neuer Gas- und Wasserstoffkraftwerke zügig vorangetrieben bzw. die bestehende Kohlekapazität in Bereitschaft gehalten werden. Denn Stromimporte und stationäre Batteriespeicher allein werden nicht genügen.

Sollten die Hebel auf der Angebotsseite insgesamt nicht ausreichen, könnte noch effektive Nachfragesteuerung helfen, die Lücke zu schließen. Hierfür müsste Deutschland allerdings einen Riesenschritt nach vorne machen bei der flächendeckenden Einführung von Smart Metern und der Steuerbarkeit von E-Autos und Wärmepumpen. So oder so – die deutsche Stromversorgung steht unter Spannung. Höchste Zeit, das Thema in seiner Bedeutung in den Vordergrund zu rücken.

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