Prof. Dr. Kai van de Loo, Forschungszentrum Nachbergbau (FZN) der Technischen Hochschule Georg Agricola (THGA), Bochum im Interview zum Strukturwandel

Prof. Dr. Kai van de Loo, Forschungszentrum Nachbergbau (FZN) der Technischen Hochschule Georg Agricola (THGA), Bochum im Interview zum Strukturwandel (Quelle: THGA)

„et“: Reicht das bestehende Regelwerk aus, um neben den makrowirtschaftlichen Auswirkungen des Kohleausstiegs auch den Menschen vor Ort neue Perspektiven zu geben?

van de Loo: Meines Erachtens sind damit zwar notwendige infrastrukturelle Vorbedingungen geschaffen worden. Ob diese aber hinreichend sind, muss sich erst noch erweisen. Ich habe da Zweifel. Zum einen muss der vereinbarte und gesetzte Rahmen auch über viele Jahre verlässlich umgesetzt und eingehalten werden. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die Kohleindustrie selbst einen wesentlichen Beitrag zu einem nachhaltigen Strukturwandel leisten kann. Doch schon jetzt gibt es diverse Stimmen, die mit der anstehenden Verschärfung der Klimapolitik einen schnelleren Kohleausstieg fordern oder ihn zumindest erwarten.

Zum anderen sind Anreize für privatwirtschaftliche Investitionen mit genügend starken Wachstums- und Beschäftigungsimpulsen in den Kohleregionen aus anderen Branchen erforderlich, für die in dem Regelwerk jedoch wenig Zielführendes zu finden ist. Ohne solche Anreize müsste viel konjunkturelles oder strukturelles ökonomisches Glück hinzukommen, damit vor Ort wirklich bessere Perspektiven entstehen und niemand zurückbleibt.

„et“: Sie haben die arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischen Entwicklungen in den bisherigen Steinkohlerevieren analysiert. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus im Hinblick auf den anstehenden Strukturwandel in den Braunkohlerevieren?

van de Loo: Die bisherigen Steinkohle- und Braunkohlereviere sind in ihren strukturellen Gegebenheiten nur bedingt vergleichbar. Die Spanne reicht von einem urbanen Ballungsraum wie dem Ruhrgebiet bis zu ostdeutschen Revieren mit Hinterlandcharakter. Feststellen kann man indes seit langer Zeit sowohl bei den Regionen der Steinkohle als auch der Braunkohle, dass die Arbeitslosenquoten schon in der aktiven Bergbauzeit überdurchschnittlich hoch waren bzw. sind. Ausnahmen bilden lediglich aufgrund günstiger Umstände die kleinsten Reviere: Ibbenbüren bei der Steinkohle, Helmstedt bei der Braunkohle. Nun kommt der komplette Kohleausstieg hinzu.

Ein Schluss für den anstehenden Strukturwandel in den Braunkohlerevieren, den ich aus den Erfahrungen speziell im Ruhrgebiet ziehe, lautet z. B., nicht allein auf den Hochschulausbau zu setzen. Der ist zwar wichtig und schafft neue Potenziale. Doch im Ruhrgebiet haben wir heute die größte Hochschuldichte Deutschlands und trotzdem unterdurchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen und eine anhaltend hohe Arbeitslosenquote, mittlerweile wieder zweistellig (10,2% im März 2021). Zu viel Industrie ist verloren gegangen. Einige Leuchtturmprojekte reichen nicht. Die Strukturförderung muss breit angelegt und sehr kontinuierlich sein und den Kommunen angemessene lokale Spielräume zu eröffnen.

„et“: Sie plädieren wie die deutsche Wirtschaft dafür, mehr auf privatwirtschaftliche Anreize beim Strukturwandel zu setzen, wenden sich aber gegen Sonderwirtschaftszonen. Warum?

van de Loo: Zunächst wäre zu definieren, was mit Sonderwirtschaftszonen genau gemeint ist. Die gängigen Interpretationen passen jedenfalls nicht zur deutschen Ordnungspolitik. Gleichwohl brauchen die deutschen Kohleregionen wegen ihrer überwiegend prekären beschäftigungspolitischen Lage besondere Fördermaßnahmen, die eben auch privatwirtschaftliche Anreize setzen. Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft etwa hat dazu einen ganzen Katalog von brauchbaren Vorschlägen unterbreitet, die genauer geprüft werden sollten und noch angereichert werden können, beispielsweise um vor Ort maßgeschneiderte Qualifizierungs- und Beratungsangebote für Investoren zu schaffen.

„et“: Mit Ihrem Plädoyer, „Jobs to the People“ statt „People to the Jobs“ setzen Sie einen überraschenden und neuen Akzent. Lassen sich entsprechende Projekte aus den USA auf die deutschen Kohle-Cluster übertragen?

van de Loo: Ich denke schon. In den USA hat man lange den „People to the Jobs-Ansatz“ verfolgt, weil dieser rein ökonomisch – bezogen auf die sog. Allokationseffizienz und die Wachstumseffekte – überlegen erschien. Mittlerweile haben dort viele Ökonomen umgedacht. Denn man hatte dabei die sozialen Folgekosten und Abwärtsspiralen für diejenigen übersehen, die nicht abwandern können oder es etwa aus familiären Gründen einfach nicht wollen.

Das hat sich regionalwirtschaftlich manifestiert im „rust belt“ und vielen abgehängten US-Kommunen, auch und gerade in den Kohlerevieren. Gerade dort erfolgte dann politökonomisch an der Wahlurne die Rache der Leute der „places that don’t matter“, Stichwort Trump. In Europa haben wir ähnliche Phänomene in den Regionen, in denen die Rechtspopulisten besonders stark sind, unter anderem auch in Ostdeutschland. Das Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen erklärt sich nicht zuletzt vor diesem Hintergrund und folgt im Grunde ebenfalls dem „Jobs to the People-Ansatz“.

„et“: Sind Sonderbeauftragte, Projekt- und Fördergesellschaften hinreichend geeignet, um eine neue „Place-based Job policy“ in den Kohleregionen so zu etablieren, dass umfängliche Wertschöpfung und qualitätvolle Arbeitsplätze entstehen oder könnte der Kohleausstieg für einen grundlegenden Wandel in der deutschen Wirtschaftspolitik sorgen?

van de Loo: Solche Einrichtungen sind hilfreich und wichtig als Moderatoren und Koordinatoren für eine derartige Strukturpolitik, aber allein nicht ausreichend. Sie brauchen einen starken Rückhalt von Regierungsseite, ausreichende Mittel und sie sollten mit möglichst viel lokaler Partizipation verbunden sein. Dass der Kohleausstieg allein für einen grundlegenden Wandel der deutschen Wirtschaftspolitik sorgt, scheint mir zu hoch gegriffen. Aber er hat sicher eine Vorreiterfunktion. Denn die klima- und rohstoffpolitischen Ziele erfordern ähnlich gelagerte Transformationsprozesse in vielen und größeren Bereichen der Wirtschaft, von der ganzen konventionellen Energiewirtschaft über Chemie, Kunststoffe oder Stahl bis zum Verkehrs- und Immobiliensektor.

„et“: Die bisherigen Bergbau- und Kraftwerksstandorte in Deutschland sollten, so Ihr Vorwurf, ihr gesamtes Potenzial nutzen und nicht nur kulturelle, touristische oder ökologische Funktionen übernehmen.

van de Loo: Das ist kein Vorwurf, sondern der Hinweis darauf, dass die genannten neuen Funktionen, so sinnvoll sie auch sind, nicht die gleiche Wertschöpfungs- und Beschäftigungsintensität haben wie die frühere Bergbau- und Kraftwerksproduktion. Um diese auch wirtschaftlich zu kompensieren, muss Weiteres hinzukommen. Die Nachhaltigkeit umfasst neben ökologischen und sozialen Aspekten immer auch eine ökonomische Dimension. Nebenbei bemerkt mache ich mir beim Kohleausstieg auch erhebliche Sorgen um die künftige Stromversorgungssicherheit, sofern es keine genügenden anderen konventionellen Back-up-Kapazitäten oder neue großtechnische Speicherkapazitäten gibt.

„et“: Welche Rolle und Bedeutung werden die bisherigen Bergbau- und Energieunternehmen in den Kohlerevieren künftig einnehmen?

van de Loo: Das hängt davon ab, wie viel Zeit und Mittel man ihnen gibt, zum Umbau der Reviere beizutragen, ihn sozialverträglich abzufedern, die ökologischen Schäden zu beseitigen und die sonstigen Altlasten abzuarbeiten. All diese Unternehmen sind längst auf dem Weg zu den neuen grünen Ufern der Energiewirtschaft. Die Frage ist nur, wie viele davon in den Revieren selbst erschlossen werden. Nur der heimische Steinkohlebergbau ist ja gezwungenermaßen schon vollkommen in der Nachbergbauzeit angekommen. Hier lauten die aktuellen Revier-relevanten Themen Grubenwassermanagement und Ewigkeitsaufgaben, Geomonitoring, industriekulturelles Erbe sowie Reaktivierung und Transition der vormaligen Bergbauflächen und anderen bergbaulichen Hinterlassenschaften. Dies sind die dringlichen Herausforderungen, denen wir auch im Forschungszentrum Nachbergbau nachgehen.

„et“: Zum Nachbergbau gehört auch, dass der Gesellschaft gesunde Landschaften zurückgegeben werden. In Ostdeutschland betrifft dies nicht nur den aktiven Bergbau, sondern auch die Hinterlassenschaften der früheren DDR, in deren Verantwortlichkeit die Bundesrepublik Deutschland eingetreten ist.

van de Loo: Die Flächensanierung nach Ende der Bergbautätigkeit ist in Deutschland bergrechtlich vorgegeben und betrifft sämtliche Bergbauzweige. Der Nachbergbau ist generell das langfristige Schicksal jeglichen Bergbaus, der immer nur zeitlich begrenzt möglich ist, spätestens bis die Lagerstätte erschöpft ist. Entsprechend komplex sind die Aufgaben in der Nachbergbauzeit.

In Ostdeutschland gehört nun mal der ehemalige Uranerzbergbau der Wismut dazu. Ob man die finanziellen Mittel, die nötig sind, um deren Folgelasten zu bewältigen, als Subventionen bezeichnet oder nicht, ändert nichts an der Tatsache, dass diese Aufgaben im öffentlichen Interesse zwingend erledigt werden müssen. Das Gleiche gilt z. B. für die Sanierung bestehender Atommülllager in Westdeutschland wie der Asse. Auch hier liegt es in der Verantwortung von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft diese speziellen Herausforderungen des Nachbergbaus umfassend sachgemäß anzugehen – zum langfristigen Wohl von Mensch und Umwelt.

„et“: Herr van de Loo, vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Wieland Kramer, Journalist, Wuppertal, im Auftrag der „et“.

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