Weitere Nachteile eines Kohleausstiegs

Weitere Nachteile eines Kohleausstiegs sind, dass der Verzicht auf die einzige heimische Ressource Braunkohle Importabhängigkeiten und geopolitische Risiken erhöht. Braunkohle ist der einzige heimische Energieträger, der langfristig sicher und wirtschaftlich bereitgestellt werden kann. Ihr wirtschaftlicher Vorteil ist unabhängig von der Variabilität der Energieweltmärkte, was Sicherheit gibt und dem Industriestandort zugutekommt. Wenn man darüber hinaus industrielle Prozessemissionen und die langfristige Kohlenutzung im Weltmaßstab u.a. in Asien mit in den Blick nimmt, dann muss die Abscheidung und Speicherung oder Nutzung von Kohlendioxid (CCS oder CCU) zwingend Teil der Lösung des Klimaproblems sein. Hier liegt ein großes Potenzial an technologischer sowie klima- und industriepolitisch nachhaltiger Vorreiterrolle, das zudem auf fruchtbaren Boden deutscher Ingenieurskunst fallen würde. Hinzu kommt, dass zur Erprobung von CCS im industriellen Maßstab regionale Cluster und Infrastrukturen benötigt werden, die durch die kombinierte Nutzung von Industrieprozessen und Kohleverstromung ihre Auslastung und Wirtschaftlichkeit verbessern. Für entsprechende Pilotprojekte bieten sich Industrieregionen an, die sowohl industrielle Prozessemissionen als auch heimische Kohleverstromung beherbergen. In diese Richtung weisen auch internationale Entwicklungen wie die aktuelle Entscheidung der norwegischen Regierung, umfangreiche Untersuchungen zu CCS weiter zu fördern.

Ein forcierter Kohleausstieg würde zudem strompreistreibend wirken. Die Höhe des Strompreisschubes unterliegt erheblichen Unsicherheiten, vor allem infolge der ungewissen zukünftigen Entwicklung von Gaspreisen, Kohlepreisen und CO2-Preisen. In jedem Falle würde durch einen forcierten Kohleausstieg der Strompreis getrieben und die Carbon-Leakage-Problematik der im internationalen Wettbewerb stehenden stromintensiven Industrie (Stahl, Metalle, Chemie, Papier u.a.m.) verschärft.

Weiterhin können sich infolge eines Kohleaus-stiegs steigende Redispatchkosten ergeben. Denn aus Gründen der Versorgungssicherheit würde ersatzweise der regional gezielte Zubau von Gas-kraftwerken nötig, die einen Teil ihrer Einsatzzeit zwar nicht „im Geld“ wären, aber dennoch eingesetzt werden müssten. Steigende Redispatch-kosten und Netzentgelte wären die Folge sowie weiterer „Druck“ auf die aus industriepolitischen Gründen erwünschte bundeseinheitliche Strompreiszone. In diesem Zusammenhang ist auch auf ein Defizit der Strommarktstrategie der Bundesregierung hinzuweisen: Die Bundesregierung setzt hinsichtlich Kraftwerksinvestitionen auf Markt-anreize durch Knappheitspreise. Ob aber von den Strommärkten einschließlich Intraday und Regelenergiemärkten bei zeitweiser Kapazitäts-knappheit ausreichend Anreize zur Vorhaltung der benötigten Erzeugungskapazitäten ausgehen, ist fraglich. Das gilt insbesondere in Situationen mit Netzengpässen, wenn Strompreise infolge der bundeseinheitlichen Gebotszone regional undifferenziert bleiben und regionale Knappheiten gar nicht reflektieren können. Mit Blick auf regional ausreichend verfügbare gesicherte Erzeugungs-leistung setzt die derzeitige Strommarktstrategie also die rechtzeitige Behebung von Netzengpässen durch Netzausbau voraus, was absehbar kaum stattfindet.

Schließlich bestehen vor allem in den Braunkohlerevieren erhebliche Herausforderungen des wirtschaftlichen Strukturwandels. Diese bestehen ohnehin, da die Braunkohleverstromung infolge des Erneuerbaren-Ausbaus und somit schrumpfenden Residualmarktes ohnehin langfristig rückläufig ist. Diese Herausforderungen sind schwierig und brauchen Zeit, vor allem wenn es nicht nur um die Installation einzelner Innovationspiloten geht, sondern um die Schaffung von Wertschöpfung in der Breite. Die ohnehin bestehende Aufgabe des regionalen Strukturwandels würde durch einen forcierten Kohleausstieg nicht entastet, sondern noch weiter verschärft.

Wenn es nun so ist, dass Stilllegungen oder Beschränkungen des Betriebs deutscher Kohlekraftwerke im EU-Strombinnenmarkt primär zu Verlagerung von Stromerzeugung und Emissionen und diversen Problemverschärfungen führen, weshalb scheint die Politik dann so an einer Beschleunigung des nationalen Kohleausstiegs zu hängen? Dabei dürfte zweierlei eine Rolle spielen. Erstens wird ein forcierter Kohleausstieg möglicherweise als ein vorzeigbares politisches Symbol gesehen. Dagegen spricht allerdings, dass sich das Symbol bei genauerem Hinsehen als Illusion entpuppt – oder gar ins Gegenteil verkehrt: ein Symbol, dessen Wirkung primär auf Emissionsverlagerungen zulasten der eigenen Nachbarn beruht, kann sich schnell ins Negative wenden. Zweitens ist die Architektur der nationalen Klimaziele mit der europäischen Emissionsregulierung nicht kompatibel. Emissionsziele für den deutschen Stromsektor, der Teil des EU-Strommarkts und Emissionshandelssystems ist, stellen eine Doppelregulierung dar, die systemfremd und kontraproduktiv ist. Neben Emissionsverlagerungen führen sie zu Entschädigungsforderungen, unnötigen Zu-satzkosten im Gesamtsystem und den weiteren oben diskutierten Problemverschärfungen. Mit diesen nachteilhaften Unstimmigkeiten sollte aufgeräumt werden.

Wie wäre aufzuräumen? 

Die EU-ETS-Sektoren, einschließlich des europäischen Stromsektors, sind ausschließlich auf der europäischen Ebene zu regulieren, nicht auf der nationalen. Die Nicht-EU-ETS-Sektoren sollten dagegen entweder ins Emissionshandelssystem integriert oder mit nationalen Maßnahmen adressiert werden. Die jüngste Agora-Studie zu den Kosten von unterlassenem Klimaschutz in den Nicht-ETS-Sektoren Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft zeigt, dass die tatsächlichen nationalen Herausforderungen in diesen Sektoren liegen. Die nationalen Klimaziele in den Nicht-ETS-Sektoren sind europarechtlich bindend und ihre Nichterfüllung löst nationale Kompensationsverpflichtungen aus, die den Bundeshaushalt in der kommenden Dekade laut Agora mit 30 bis 60 Mrd. € belasten können [3]. Dass andererseits die nationalen Klimaziele in den ETS-Sektoren, darunter der Strom-sektor, nicht rechtlich bindend sind, hängt freilich damit zusammen, dass diese Ziele in der europäischen Systematik überflüssig sind und ohne nennenswerte Klimawirkung fallen gelassen werden könnten.

Ist es vorstellbar, dass die Kohlekommission aus der Sache heraus zu dem Ergebnis kommt, dass ein erzwungener nationaler Kohleausstieg im europäischen Markt eine ungeeignete Klimaschutz-maßnahme ist? Wäre es möglich, dass mit Blick auf die klimapolitischen Beschlüsse von Paris größer gedacht und damit begonnen wird, die deutschen Klimaschutzmaßnahmen neu auf einer gesunden Logik aufzubauen, die mit der europäischen Systematik kompatibel ist? Das wäre ein Riesenfortschritt, der der Wirksamkeit und Kosteneffizienz der deutschen Klimapolitik zugutekäme und künftig unnötige Kompliziertheit vermeiden würde.

Möglicherweise ist die Kohlekommission damit überfordert – jedenfalls gemessen an ihrem begrenzten Auftrag des Entwurfs eines deutschen Kohleausstiegsplans. Der Logik zu folgen würde bedeuten, von der Stilllegung deutscher Kraftwerke Abstand zu nehmen und im europäischen Strom-markt auf wirksamen Klimaschutz durch europäische Regulierung (EU ETS) zu setzen. Damit würde klimapolitisch nicht länger gegen den Markt gearbeitet, sondern es würde umgekehrt der Markt in den Dienst des Klimaschutzes gestellt.

Quellen

[1] Bertsch J.; Lindenberger D.; Paschmann, M.; Wagner J.: Effekte nationaler Emissionsminderungsziele im europäischen Strommarkt – Eine modellbasierte Analyse für Deutschland, Zeitschrift für Energiewirtschaft 39 (2016), 163-170.

[2] Perino, G.:  New EU ETS Phase 4 rules temporarily puncture water bed, Nature Climate Change, Vol. 8 (2018), 260-271.

[3] Agora Energiewende/Agora Verkehrswende: Die Kosten von unterlassenem Klimaschutz für den Bundeshaushalt. Die Klimaschutzverpflichtungen Deutschlands bei Verkehr, Gebäuden und Landwirtschaft nach der EU-Effort-Sharing-Entscheidung und der EU-Climate-Action-Verordnung. Version 1.1,

https://www.agora-energiewende.de/fileadmin2/Projekte/2018/Non-ETS/142_Nicht-ETS-Papier_WEB.pdf, abgerufen 15.10.2018.

Dietmar Lindenberger

Beitrag als PDF downloaden


Aktuelle Zukunftsfragen Archiv Zukunftsfragen

„et“-Redaktion
2 / 2

Ähnliche Beiträge