
Philipp Huppertz: »Wir gehen mit unserer Lösung den Weg der maximalen Flexibilität. So gewährleisten wir, dass sich unsere Kunden kontinuierlich auf die sich ändernden Rahmenbedingungen einstellen können.« (Quelle: PSInsight)
Herr Dr. Huppertz, PSInsight beschäftigt sich mittlerweile seit fast zehn Jahren mit der Digitalisierung des Verteilnetzes. Wie haben sich in dieser Zeit die Rahmenbedingungen des Netzbetriebs verändert?
Huppertz: Die regulatorischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Netzbetrieb ändern sich ständig und werden immer komplexer. Dadurch ist der Leistungsdruck bei den Verteilnetzbetreibern mittlerweile enorm hoch, und die Mitarbeiter müssen sich kontinuierlich mit neuen Vorgaben auseinandersetzen – Stichwörter Redispatch 2.0 und § 14a. Auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist dies sehr ernst zu bewerten, denn schließlich handelt es sich hierbei um kritische Infrastrukturen.
Wie reagieren Sie auf die sich ständig verändernden Vorgaben bei der Entwicklung Ihrer Systemlösung Gridcal?
Huppertz: Wir sind durch die enge Zusammenarbeit mit Netzbetreibern immer am Puls der Zeit. Unsere wichtigste Erkenntnis ist dabei: Es ist nahezu unmöglich, abzusehen, welche neuen Vorgaben wann und auf wen zukommen werden. Daher gehen wir mit unserer Lösung den Weg der maximalen Flexibilität. Wir legen uns also heute nicht auf ein oder zwei Use Cases fest. Vielmehr bieten wir Netzbetreibern ein digitales Fundament aus Hard- und Software-Komponenten, auf dem sich die unterschiedlichsten Anwendungen aufbauen lassen. So gewährleisten wir, dass sich unsere Kunden kontinuierlich auf die sich ändernden Rahmenbedingungen einstellen können.
Sie bezeichnen Gridcal auch als den mitwachsenden Maßanzug. Können Sie dies näher erläutern?
Huppertz: Unabhängig von den Rahmenbedingungen sind die Netzgebiete und damit auch die Netzgesellschaften ganz unterschiedlich. Sie sind historisch gewachsen, und die Ausgangssituationen sind breit gefächert. Daher bieten wir mit Gridcal eine Lösung, die sich wie ein mitwachsender Maßanzug verhält: Sie passt am ersten Tag, egal, welche Anforderungen das jeweilige Unternehmen hat, und sie wächst mit den Bedürfnissen des Unternehmens – und zwar angepasst sowohl an die erforderliche Geschwindigkeit als auch an die internen Prozesse und externen Einflussgrößen.
Gridcal ist damit für alle Arten von Verteilnetzen mit ihren unterschiedlichen Herausforderungen geeignet?
Huppertz: Der treibende Anwendungsfall bei der Entwicklung von Gridcal vor rund zehn Jahren waren die Herausforderungen in ländlichen Netzgebieten – geprägt von weiten Anfahrtswegen zu den Ortsnetzstationen, von zunehmender und volatiler Einspeisung aus dezentralen Anlagen und von der Unsicherheit, ob beziehungsweise wann die Netzbetriebsmittel an ihre Grenzen stoßen würden. Mit diesen Herausforderungen sind heute quasi alle Netzbetreiber konfrontiert. Aber es geht heute gar nicht mehr nur um das bloße Erkennen von Netzengpässen. Es geht vielmehr darum, die Effizienz des Verteilnetzes generell zu steigern. Und um Prozesse optimieren zu können, müssen diese im ersten Schritt messbar gemacht werden. Da reichen einfache Annahmen auf der Basis von Erfahrungswerten nicht mehr aus.
Stichwort Netzeffizienz. Was genau verstehen Sie darunter?
Huppertz: Vor dem Hintergrund der Energiewende ist nicht nur der Ausbau der erneuerbaren Energien entscheidend, sondern auch, dass die Ressourcen im Verteilnetz effizient eingesetzt werden. Die Betreiber müssen also vorhandene Kapazitäten in den Netzen lokalisieren und zielgerichtet nutzen, und nur dort, wo das Netz systematisch an seine Grenze stößt, Verstärkungsmaßnahmen durchführen. Das verstehen wir unter einem effizienten Verteilnetz und dafür ist die digitale Ortsnetzstation der Dreh- und Angelpunkt. Sie liefert die erforderlichen Informationen für alle notwendigen kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen. Dabei ist dies keine statische Betrachtung, sondern es müssen die sich kontinuierlich ändernden Versorgungs- und Einspeiseszenarien berücksichtigt werden. Auch diese dynamischen Prozesse können wir mit unserer Lösung nachhaltig aufzeichnen, um darauf reagieren zu können. Denn eines ist klar: Das Effizienzoptimum ist – wie auch der Netzbetrieb – in unserem Anwendungsfall im ständigen Wandel. Es gilt also, kontinuierlich nachzusteuern, um das Netz immer möglichst nahe am Optimum betreiben zu können – und dafür liefern wir mit dem Orchester aus Hardware in den Ortsnetzstationen und der alles dirigierenden Software für die IT-Infrastruktur der Betreiber die passende Lösung.
Was sind heute die treibenden Kräfte bei Netzbetreibern, sich mit dem Thema Digitalisierung zu beschäftigen?
Huppertz: Im Bereich der gesetzlichen Rahmenbedingungen sind dies aktuell die Themen rund um den § 14a EnWG und die Vorgaben zur Netzanschlussprüfung. Bei der Anschlussprüfung geht es vor allem darum, die internen Prozesse zu optimieren und das vorhandene Personal zu entlasten. Mit § 14a EnWG erhalten wir unter anderem eine Verbindung zu den Smart-Meter-Daten, die für uns eine Ergänzung zu den Daten aus der digitalen Ortsnetzstation bilden können. Mit dem Gridcal Node in den Ortsnetzstationen und dem Gridcal Operator als zentrale Serverinstanz haben wir ideale Voraussetzungen, sehr zielgerichtet auch Smart-Meter-Daten für eine Engpasserkennung einzubinden. Allerdings: Grundsätzlich kann der Gridcal Node einen Engpass selbst erkennen und an den Operator melden – und zwar bereits auf Feldebene und in hoher zeitlicher Auflösung. Auf dieser Basis gibt der Gridcal Operator dann die entsprechende Empfehlung, an welcher Stelle der Engpass wie ausgesteuert werden sollte. Ob Messdaten von Smart Metern in Zukunft bei der Engpassdetektion eine kritische Rolle spielen müssen, wird sich erst noch zeigen.
Von der Ortsnetzstation aus lassen sich jedoch nur einzelne Netzstränge betrachten. Smart-Meter-Daten werden dagegen direkt an den Netzanschlusspunkten erhoben. Wie wichtig werden künftig solche Daten für einen effizienten Netzbetrieb?
Huppertz: Das hängt immer von den Gegebenheiten vor Ort ab. Bei den aktuell meist vorhandenen Netzstrukturen in der Niederspannung reicht eine passende Messtechnik in den Ortsnetzstationen an sich vollkommen aus. Damit lassen sich Last- und Einspeiseschwerpunkte bereits gut identifizieren – und auch Engpässe erkennen und eingrenzen. Falls notwendig, können dann – und zwar anlassbezogen – für die weitere Entscheidungsfindung Daten aus den intelligenten Messsystemen herangezogen werden, wenn diese dann auch überhaupt im nennenswerten Umfang vorhanden sind. Der entscheidende Aspekt lautet hier »anlassbezogen«, denn es ist aus unserer Sicht nicht sinnvoll, ständig Smart-Meter-Daten in einer Zentrale auszuwerten, um mögliche Netzengpässe erkennen zu können. Das geht direkt vor Ort in einer digitalen Ortsnetzstation, also auf Feldebene, wesentlich effizienter. Aus unserer Sicht bleibt also auch in Zukunft die digitale Ortsnetzstation der Taktgeber, der das lokale Netz hochauflösend in Echtzeit überwacht und einen möglichen Engpass selbstständig ausregelt – und nur im Bedarfsfall, also situationsbedingt auch Smart-Meter-Daten hinzunimmt.
Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang auch die Trennung von Messstellenbetrieb und Netzbetrieb?
Huppertz: Durch diese Entwicklung besteht die Gefahr, dass der Netzbetreiber künftig mehr und mehr zum Bittsteller beim Messstellenbetreiber wird. Aber nochmals: Dies ist aus meiner Sicht überhaupt nicht notwendig. Die Physik des Netzbetriebs lässt sich vollständig in der Ortsnetzstation ablesen, und dieses Asset ist und bleibt beim Netzbetreiber. Dort können wir proaktiv all das, was mit § 14a adressiert werden soll, schon heute umsetzen – ohne mit dem Messstellenbetreiber kommunizieren zu müssen. Aber auch hier ist unsere Lösung so flexibel, dass wir auf alle künftigen Entwicklungen reagieren können, denn mit dem Gridcal Operator haben wir einen Letztentscheider, mit dem ganz unterschiedliche Daten und damit auch Smart-Meter-Daten in die Betrachtungen einbezogen werden können. Inwieweit sich dann dadurch auch Synergieeffekte ergeben, wird sich in Zukunft zeigen.