Sebastian Bleschke: Mit zunehmender Dekarbonisierung wird sich die Anwendung von fossilem Erdgas rückläufig entwickeln. Insofern muss ein zusätzlicher Leitungsbau abgewogen werden.

Sebastian Bleschke: Mit zunehmender Dekarbonisierung wird sich die Anwendung von fossilem Erdgas rückläufig entwickeln. Insofern muss ein zusätzlicher Leitungsbau abgewogen werden. (Quelle: Ines)

Herr Bleschke, der Gasmarkt wird mit Beginn des nächsten Gasjahres neu geordnet. Das könnte die bekannten Gasflüsse verändern und Engpässe hervorrufen. Was bedeutet das konkret?

Bleschke: Noch haben wir zwei separate Entry-Exit-Systeme mit den Marktgebieten Gaspool und Netconnect Germany. Innerhalb dieser beiden Marktgebiete speisen Händler und Lieferanten entsprechend der Kundenbedürfnisse ein und aus. An den Marktgebietsgrenzen buchen Händler ihre benötigten Transportkapazitäten und müssen damit die Auslastung am Übergangspunkt beachten. Im neuen Marktgebiet entfällt dieser Buchungsschritt für die Händler. Dann stellt der Marktgebietsverantwortliche das Funktionieren des Marktes im gesamten Bundesgebiet sicher. Damit einhergehen könnten geänderte Handelsaktivitäten, die die Möglichkeiten der Transportnetze übersteigen. In diesem Fall entstehen Netzengpässe.

Was ändert sich physikalisch ab Oktober?

Bleschke: Im Großen und Ganzen ändert sich wenig. Die Gasimporte nach Deutschland kommen weiterhin im Wesentlichen aus Norwegen, Russland und den Niederlanden. Die L-Gas-Importe aus den Niederlanden sind allerdings aufgrund der sinkenden Gasproduktion rückläufig. Daher werden die Importe aus anderen Lieferländern steigen. Das neue vergrößerte Marktgebiet schafft die Möglichkeit, das Einkaufsverhalten und damit Transportanforderungen zu verändern: Beispielsweise könnten Kunden in Süddeutschland stärker als bisher über Einspeisequellen in Norddeutschland versorgt werden. Damit könnten Transportanforderungen entstehen, die die verfügbaren Leitungskapazitäten übersteigen.

Liefergeschäfte unabhängig von den vorhandenen Leitungen zu betrachten, ist eine starke Abstraktion. Woher kommt die Idee eines Gas-Sees, aus dem alle schöpfen können?

Bleschke: Die Entkopplung des Markts von der Aufgabe, einzelne Transportpfade zu managen, wurde mit der Liberalisierung des europäischen Binnenmarkts eingeführt. Der Markt sollte unabhängig vom Netz sein, sodass Wettbewerb entstehen kann, der zu sinkenden Preisen für die Verbraucher führt. Die scheinbar unbegrenzten Optionen eines Gas-Sees kosten allerdings Geld in Form von Netzinvestitionen. Nicht all diese Optionen werden aber permanent benötigt.

Ist so ein Gas-See ein erstrebenswertes Ziel?

Bleschke: Vor dem Hintergrund der energie- und klimapolitischen Ziele halte ich es für nicht sachgerecht, alle denkbaren Möglichkeiten des heutigen Erdgashandels in Netzausbau zu übersetzen. Vielmehr sollte darauf geachtet werden, dass keine Leitungen gebaut werden, die mittel- oder langfristig nicht mehr genutzt werden. Aus diesem Grund ist die Zusammenlegung der Marktgebiete so spannend. Sie zeigt Wege auf, Transportanforderungen zu erfüllen, ohne das Gasnetz auszubauen.

Die Frist zwischen der politischen Entscheidung und der Umsetzung des neuen Gasmarktgebiets war sehr kurz. Insofern war ein Ausbau des Netzes keine Option. Welche Möglichkeiten gibt es stattdessen?

Bleschke: Bisher sind drei Instrumente geplant, um mit Netzengpässen umzugehen: Über das VIP-Wheeling sollen Gasmengen innerhalb eines virtuellen Interconnection Points (VIP) optimal zugeordnet werden. Ein weiteres Instrument ist das Spread-Produkt, das an der Börse gehandelt wird. Dabei wird Gas zeitgleich in unterschiedlichen Regionen ge- und verkauft. Dadurch entsteht quasi ein »virtueller Transport« vergleichbar mit dem Redispatch. Durch die Nutzung von Netzen im benachbarten Ausland können ebenfalls Engpässe umgangen werden. Das ist die Drittnetznutzung.

Welche Perspektive haben diese Instrumente langfristig im Verhältnis zum Leitungsbau?

Bleschke: Klar ist, dass sich mit der zunehmenden Dekarbonisierung die Anwendung von fossilem Erdgas rückläufig entwickeln wird. Insofern muss ein zusätzlicher Leitungsbau abgewogen werden. Das kann bedeuten, dass ein Netzausbau zwar kurzfristig erforderlich ist, der mittel- oder langfristige Bedarf allerdings dagegen spricht. Dann ist es sinnvoller, das Marktverhalten so zu lenken, dass bereits bestehende Infrastrukturen besser ausgenutzt werden. Darüber diskutieren natürlich auch Bundesnetzagentur und Branche.

Zum Gasnetz gehören außerdem zahlreiche Speicher. Werden die Potenziale der Gasspeicher zum Netzengpassmanagement vollständig genutzt?

Bleschke: Auch wenn wir auf der Handelsebene von einem Gas-See ausgehen, bleibt das System ein Netz von Kanälen mit einzelnen Sammelbecken. Die wichtige Ausgleichsfunktion von Speichern wurde bisher nur wenig betrachtet. Die Gasspeicher sind an verschiedene Netze angeschlossen. Über diesen Zugang lassen sich Gasflüsse in die unterschiedlichen Regionen leiten und Engpässe umgehen. Speicher werden bisher als Instrument der Versorgungssicherheit und zur Handelsoptimierung wahrgenommen. Sie haben allerdings auch einen logistischen Wert. Um diesen Systemwert der Speicher vollständig zu nutzen, sollte das Instrumentarium um ein Speicher-Wheeling über einen virtuellen Handelspunkt (VHP) ergänzt werden. Wie würde so ein VHP-Speicher-Wheeling funktionieren? Bleschke: Es gibt einen Trend, dass Speicher nicht mehr einzeln vermarktet werden, sondern im Rahmen von virtuellen Speicher-Zonen. Vermietet wird dabei eine virtuelle Kapazität, die am VHP durch Händler genutzt werden kann. Da der Händler keinen einzelnen Speicher, sondern lediglich die Zone bucht, entstehen betriebliche Optimierungsmöglichkeiten für den Speicherbetreiber. Dies kommt aufgrund des Wettbewerbsdrucks dem Speicherkunden zugute. Vorstellbar wäre, dass darüber hinaus der Netzbetreiber von den Freiheitsgraden des Speicherbetriebs beim Netzengpassmanagement profitiert.

Wie ist der aktuelle Stand der gesetzlichen Implementierung der Marktinstrumente?

Bleschke: Die Entscheidung zur Überführung der Instrumente in einen gesetzlichen Rahmen steht noch aus. Für die Zusammenlegung der Marktgebiete hat die Bundesnetzagentur die von den Fernleitungsnetzbetreibern vorgeschlagenen Instrumente genehmigt. Das VHP-Speicher-Wheeling wird also zunächst unberücksichtigt bleiben. Wir haben der Bundesnetzagentur empfohlen, das Produkt bei den weiteren Schritten zu berücksichtigen.

Welche langfristigen Perspektiven hat die Gasnetzinfrastruktur angesichts der Klimaziele?

Bleschke: Der heutige Erdgasmarkt wird sich bis zum Jahr 2050 stark wandeln. Wasserstoff wird dabei sicher eine wesentliche Rolle spielen. Investitionen in Gasnetze werden aufgrund der Vorgaben der Gasnetzregulierung über lange Nutzungszeiträume abgeschrieben. Zwar lassen sich Pipelines grundsätzlich für den Transport von Wasserstoff umwidmen. Es ist aber noch nicht absehbar, welche Netze für Wasserstoff benötigt werden. Marktbasierte Instrumente können einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, um mit dieser Unsicherheit umzugehen. Die Instrumente lassen sich flexibel anpassen. Investitionen in die Infrastruktur sind hingegen irreversibel.

Astrid Sonja Fischer

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