Bei der Arbeitssicherheit werden Risiken und Vorfälle häufig technisch angegangen. Das Risikobewusstsein der Mitarbeiter wird hingegen oft vernachlässigt.

Bei der Arbeitssicherheit werden Risiken und Vorfälle häufig technisch angegangen. Das Risikobewusstsein der Mitarbeiter wird hingegen oft vernachlässigt. (Quelle: Westnetz)

Jedes Unternehmen und jede Organisation befindet sich auf einer Sicherheitsreifekurve und strebt nach einem verbesserten Risikomanagement und einer besseren Sicherheitsleistung (Bild 1). Um auf diesem Weg voranzuschreiten und Orientierung zu finden, entwickelt die Organisation Regeln und Vorschriften, implementiert Prozesse und Verfahren, schafft Sicherheitsvorkehrungen und führt Schulungen und Trainings durch. Dabei wird der Fortschritt kontinuierlich gemessen und die Effizienz der eingeführten Maßnahmen anhand der Unfallzahlen kontrolliert. Positive Entwicklungen zeigen an, dass an den richtigen Dingen gearbeitet wurde. Umso überraschender treffen negative Trends oder plötzlich auftretende Häufungen von Vorfällen das Unternehmen. Vielfach werden sie als Signal verstanden, bereits angestoßene Sicherheitsinitiativen zu verstärken. Vielfach geschieht dies mit mäßigem Erfolg.

Unfallhäufung bei Westnetz von Ende 2019 bis 2020

Im Zeitraum von November 2019 bis September 2020 ereignete sich bei der Westnetz eine Serie schwerer und zum Teil tödlicher Unfälle. Diese trafen Westnetz überraschend, da durch die positive Entwicklung der als LTIF-Wert erfassten Arbeitsunfall-Häufigkeitsquote der Eindruck entstand, beim Thema Arbeitssicherheit auf dem richtigen Weg zu sein und geeignete Maßnahmen getroffen zu haben.

Vor dem Jahr 2019 verzeichnete das Unternehmen und seine Vorgänger­gesellschaften rückläufige Unfall­zahlen. So sanken die LTIF-Werte von einem Niveau von rund 10 im Jahr 2008 auf ein Niveau von rund 2,5. In dieser Zeit führte Westnetz vermehrt ausführliche Unfallanalysen durch, integrierte das Unfallgeschehen von Partnerunternehmen in die Kennzahlenerfassung und -steuerung und thematisierte identifizierte Risiken mit Berufsgenossen­schaften und Partnerunternehmen. Auch der regelmäßige Sicherheitsimpuls sowie der Gesund&Sicher-Dialog vor Ort wurden genutzt.

In der jüngsten Unfallserie stieg mit jedem weiteren Ereignis der Unfallserie der Erklärungs- und Handlungsdruck, aber auch die Erkenntnis, dass es systemische Muster geben könnte, die zu diesen schweren Unfällen geführt haben. Neben zunächst gestarteten Initiativen »Five for Life« und »Alle.Achtung« wurde daher zusätzlich die durch die Westnetz-Geschäftsführung und den Westenergie-Vorstand gelenkte Taskforce HSE-Kultur gebildet und eine weitläufige Beteiligung operativer Führungskräfte und Mitarbeiter sowie des Betriebsrats sichergestellt. Mitte 2020 wurde eine externe Analyse bei DuPont Sustainable Solutions (DSS) in Auftrag gegeben, um zu ergründen, warum es trotz der erheblichen Fortschritte seit 2008 und fortwährender intensiver Bemühungen weiterhin zu schweren Unfällen kommen konnte.

Einer der maßgeblichen »blinden Flecken«, der in der DSS-Analyse zu Tage gefördert wurde, ist das noch unzureichend ausgeprägte Risikobewusstsein von der Basis bis zur Unternehmensleitung. Auch die Kommunikation und das Management der Partnerunternehmen können noch erheblich verbessert werden.

Westnetz, eine Ausnahme?

Diese Situation ist weder westnetz- noch industriespezifisch. In Industrieländern geht die Zahl von Unfällen industrieübergreifend seit Jahrzehnten zurück, was weitgehend auf stetige technische Verbesserung zurückzuführen ist. Auch der verhaltensorientierte Ansatz des Sicherheitsmanagements hat vielen Unternehmen geholfen, ihre Unfallzahlen weiter zu reduzieren. Nach vielen Jahren der Verbesserung stagnieren zahlreiche Unternehmen jedoch auf einem Plateau. DSS beobachtet dies in vielfältigen Kundenprojekten. Besonders in operativen, flächig groß ausgeprägten Unternehmen, bei denen Führungskräfte und Mitarbeiter seltener in persönlichem Vor-Ort-Austausch stehen können, bergen kleinste Abweichungen von relevanten Standards jedoch ein höheres Risiko beziehungsweise Lebensgefährdungspotenzial als in vielen anderen Branchen. Vor allem in der Energiewirtschaft ist daher eine Weiterentwicklung zwingend notwendig. Ein Hebel liegt nach Auffassung von DuPont Sustainable Solutions in der Risikowahrnehmung und dem Risikobewusstsein von Mitarbeitern und Führungskräften.
Der Einstieg in das Thema Risikowahrnehmung und Risikobewusstsein erfolgt über die Frage, warum Menschen überhaupt Risiken eingehen und wie ein verbessertes Risikobewusstsein die Sicherheitsleistung verbessern kann. Die Antwort liegt in der persönlichen Motivation, dem Mindset und auch in den Emotionen eines jeden einzelnen. Neue Forschungen in den Bereichen Neurowissenschaft und affektive Psychologie zeigen detailliert, welche Rolle Gefühle und Emotionen in Entscheidungsprozessen spielen [1]. Menschen treffen jeden Tag Tausende von Entscheidungen – einschließlich solcher mit hohem Risikopotenzial. Bis zu 95 % davon werden automatisch und intuitiv getroffen und durch Gefühle und Emotionen verstärkt [2].

Aus diesem Grund empfiehlt DuPont Sustainable Solutions zur Verbesserung der Sicherheitsleistung neueste Erkenntnisse der Neurowissenschaften in Betracht zu ziehen. Ein entscheidender Hebel ist dabei das Verständnis menschlicher Entscheidungsprozesse, vor allem des nach Nobelpreisträger Daniel ­Kahneman »schnellen«, intuitiven Denkens und des »langsamen«, logischen Denkens (Bild 2).

1 / 2

Ähnliche Beiträge