Risikowahrnehmung als Ursache von Vorfällen bei der Westnetz

Bild 1. DSS Bradley Curve: Reifekurve für Arbeitssicherheitskultur

Bild 1. DSS Bradley Curve: Reifekurve für Arbeitssicherheitskultur

Bild 2. Schnelles und langsames Denken

Bild 2. Schnelles und langsames Denken

Nach einer Evaluierung ihrer Root Cause Analyses (RCA) konnte die Westnetz eine Vielzahl ihrer Vorfälle der vergangenen Jahre in den Kontext einer ungesteuerten beziehungsweise ungeschulten Risikowahrnehmung bei eigenen Mitarbeitern und Mitarbeitern von Partnerunternehmen setzen. Eine ungeschulte Risikowahrnehmung führt langfristig zwingend zu unsicheren Situationen. So ist ein Unfall in einem als vertraut oder als sicher wahrgenommenen Arbeitsablauf zu 88 % wahrscheinlicher als bei einem als gefährlich eingestuften [3]. Hier macht intuitives oder logisches Denken den Unterschied. Intuitives Denken ist nach Kahneman wahrnehmungsähnlich, schnell und mühelos. Jedoch ist es wenig reflektiert und kann mitunter zu unbewussten, aber drastischen Fehleinschätzungen führen. Tritt also ein unerwartetes Ereignis in einem gewohnten Umfeld ein, wird unter Stress spontan reagiert. Wenn nur ein kleiner Teil der täglichen bis zu 95 % intuitiven Entscheidungen risikobehaftet ist, gehen die eingegangenen Gefahrensituationen in die hunderte je Tag und je Person.

Da operative Mitarbeiter im Netzbetrieb häufig selbstständig im gesamten Netzgebiet und ohne Managementsupervision arbeiten und dabei sicherheitsrelevante Entscheidungen treffen müssen, ist es wichtig, dass sie für eine präzise und rechtzeitige Erfassung von Risiken ausreichend gerüstet sind.

Von Westnetz lernen: die wesentlichen Erkenntnisse

Technische Sicherheitsmaßnahmen und der verhaltensbasierte Sicherheitsmanagementansatz für bekannte Situationen sind die notwendige Bedingung für eine gute Sicherheitsleistung. Neuro­wissenschaftliche Erkenntnisse zur Verbesserung der Risikowahrnehmung sind indes die hinreichende Bedingung.

Bis zu 95 % unserer Entscheidungen sind intuitiv. Je Tag treffen wir viele tausende Entscheidungen. Rein intuitive Entscheidung erhöhen das Unfallrisiko. Das sollte jedem Mitarbeiter bewusst sein. Dies bezieht sich vor allem auf gewohnte und vermeintlich sichere Arbeitssituationen. Routine und umfangreiche Erfahrung können dieses Risiko weiter verstärken.

Das Arbeitsumfeld ist nicht konstant. Mitarbeiter müssen unerwartete oder außergewöhnliche Umstände außerhalb der standardisierten Prozesse und Verfahren wie den Umgang mit neuen Geräten, Störungen oder plötzliche Ausfälle sicher bewältigen können. Spontane, intuitiv Entscheidungen bedingen ein potenziell höheres Risiko. Die Schulung und das Training zu psychologischen Aspekten im Entscheidungsprozess befähigt Mitarbeiter, unerwarteten Risiken bewusst und wohlüberlegt zu begegnen.

Risikowahrnehmung ist personenabhängig – teils drastisch – unterschiedlich. Daher sind Reaktionen und Handlungen nicht zwingend absehbar. Kahneman schlägt hier vor, »Verfahren einzuführen, die Konsistenz fördern, indem sichergestellt wird, dass Mitarbeiter in derselben Rolle auf ähnliche Weise Informationen einholen, sie in eine Beurteilung der Situation einfließen lassen und diese Beurteilung dann auf eine Entscheidung übertragen«.

Diesen Ansatz verfolgt DuPont Sustainable Solutions mit seinem Schulungsprogramm Risk Factor, das Mitarbeitern kognitive Verzerrungen und Vorurteile bewusst macht, den Entscheidungsprozess beleuchtet und ihnen hilft, potenziell riskante Situationen zu antizipieren und ihnen vorzubeugen.

Fazit

Unternehmen, die sich auf einem Plateau hoher Sicherheitsleistung befinden, technische Maßnahmen eingeführt und Normsituationen mit Sicherheitsvorgaben abgedeckt haben, sollten ihre Belegschaft verstärkt in ihrer Risikowahrnehmung schulen. So werden die Menschen sich ihrer Entscheidungsprozesse und der Muster stärker bewusst und sind auf ungewohnte und unerwartete, riskante Situationen besser vorbereitet.

Westnetz geht diesen Weg in seinem Programm zur Verbesserung der HSE-Kultur. Unter dem Namen »Gemeinsam – gesund & sicher« wird unter anderem die Risikowahrnehmung trainiert und geschult, aber auch der Umgang mit erkannten Risiken verbessert. Das Erkennen, Melden und Abstellen von unsicheren Situationen und Beinahe-Ereignissen soll helfen, Gefahren und Risiken frühzeitig zu erkennen, um nicht erst nach Unfällen handeln zu müssen. Außer der Risikowahrnehmung als Vo­raussetzung ist dazu auch eine Kultur des offenen Austauschs über Risiken und Fehler erforderlich, die verstärkt gefördert wird. Dadurch ist in der Risikopyramide ein präventives Handeln möglich. Die systematische Behandlung der Risiken zum Beispiel in einem paritätischen Risikoausschuss ist ein weiterer Aspekt, der besser und schneller von der Basis bis zur Unternehmensleitung genutzt und praktiziert werden soll.

Dr. Stefan Küppers, Geschäftsführung, Westnetz GmbH, Dortmund, stefan.kueppers@westnetz.de
David Faustmann, Senior Manager, DuPont Sustainable Solutions, Frankfurt am Main, david.faustmann@consultdss.com

Literatur
[1] Ye Li, et al.: Emotion and Decision Making. Annual Review of Psychology, 2016.
[2] Harvard Business School: Working Knowledge, The Subconscious Mind of the Consumer. 2003.
[3] Dell, T.; Berkhout, J.: Injuries at a metal foundry as a function of job classification, length of employment and drug screeing. Journal of Safety Research, 1998, 29, S. 9–14.

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