Um den künftigen Strombedarf zu decken, muss sich die Ausbaugeschwindigkeit von Windparks verdoppeln und die von Solaranlagen vervierfachen – eine Mammutaufgabe

Um den künftigen Strombedarf zu decken, muss sich die Ausbaugeschwindigkeit von Windparks verdoppeln und die von Solaranlagen vervierfachen – eine Mammutaufgabe (Quelle: Adobe Stock)

Die Zukunft der Energiewende in Deutschland hängt vor allem von einer Größe ab: Strom. Über viele Jahre wurde die Entwicklung des Strombedarfs von den jeweiligen Bundesregierungen massiv unterschätzt. Seit 2010 haben die Regierungsverantwortlichen ihre Bedarfsprognose für 2030 von ursprünglich 520 TWh auf 715 TWh angehoben – um sage und schreibe 38 %.

Diese massive Fehleinschätzung, gepaart mit den rigorosen Ausstiegsbeschlüssen für Kohle und Kernkraft, führt jetzt zu einer Bedarfslücke von mehr als 200 GW an Wind- und Solarenergie sowie zu einem deutlichen Mehrbedarf an flexiblen Kraftwerken bis 2030. Das bedeutet konkret: Um den künftigen Strombedarf zu decken, muss sich die Ausbaugeschwindigkeit von Windparks verdoppeln und die von Solaranlagen vervierfachen. Zusätzlich nötig wird der Zubau von zwei bis drei neuen Gaskraftwerken pro Jahr.

Künftiger Stromverbrauch lange drastisch unterschätzt

Wie kam es zu dieser massiven Unterschätzung des Strombedarfs von morgen? Tatsächlich vollzog sich die Entwicklung der Bedarfsprognosen in Etappen:

2010 schätzte die Bundesregierung in ihrem Energiekonzept, dass der Stromverbrauch im Vergleich zum Basisjahr 2008 bis 2020 um 10 % und bis 2050 sogar um 25 % zurückgehen würde. Für 2030 ergab sich daraus eine geschätzte Reduzierung um rund 15 % auf 520 TWh. Der Prognose zugrunde lag eine angenommene Steigerung der Energieproduktivität von 2,1 %. Der Bundesverband der deutschen Industrie warnte bereits früh, dass dies zu hoch angesetzt sein dürfte. Tatsächlich stieg die Energieproduktivität zwischen 2008 und 2020 nur um 1,4 %.

2016 schätzte die Bundesnetzagentur in ihren Szenarien für den Netzentwicklungsplan den Stromverbrauch in 2030 bereits auf 570 bis 600 TWh. Damit lag sie 10 % bis 15 % höher als die Prognose von 2010.

2020 bekräftigte das Bundeswirtschaftsministerium, dass für 2030 von einem Bruttostromverbrauch von rund 580 TWh auszugehen sei.

2021 – kurz vor der letzten Bundestagswahl – korrigierte das Bundeswirtschaftsministerium die Schätzung aus dem Vorjahr um weitere 13 % nach oben, auf 655 TWh.

2022 legte die neue Bunderegierung nochmals nach: Sie schätzt den Strombedarf 2030 inzwischen auf 715 TWh. Damit wurde die Bedarfsprognose innerhalb von zwölf Jahren um 38 % angehoben. Die neue Zahl deckt sich mit aktuellen Analysen der McKinsey-Studie „Global Energy Perspective“, nach denen die künftige Nachfrage im Bereich 715 bis 740 TWh liegen wird.

Gleichzeitig erhöht die Bundesregierung das Ziel für den Anteil der erneuerbaren Energien (EE) an der Stromerzeugung von 65 % auf 80 %. Welche Herausforderung dieses Ziel darstellt, zeigt die Indikatorentwicklung im Energiewende-Index: Danach ist der EE-Anteil am Stromverbrauch gegenüber dem Vorjahr um 3 % zurückgegangen – auf jetzt 42 % (siehe unten, Kapitel „Die Indikatoren im Überblick“).

Wirtschaftssektoren treiben die Nachfrage

Die neuen Klimaziele erhöhen auch den Strombedarf in den Sektoren. Dekarbonisierung und Nachhaltigkeit stehen inzwischen ganz oben auf der Agenda der Wirtschaft. 2021 haben sich 67 deutsche Unternehmen – so viele wie nie zuvor – der Sciene-Based-Targets-Initiative angeschlossen, die sie verpflichtet, wissenschaftlich fundierte Ziele für die Emissionsreduktion festzulegen. Von den 40 im DAX gelisteten Unternehmen sind bereits 23 dabei. Zum ersten Mal entsteht der Eindruck, dass die eigentlichen Impulse der Energiewende stärker aus der Wirtschaft kommen als von Politik und Umweltverbänden. Verkehr, Wärme und Industrie sind dabei die Sektoren mit dem größten zusätzlichen Strombedarf in diesem Jahrzehnt.

Verkehr: Die meisten deutschen Automobilhersteller haben den Ausstieg aus der Verbrennertechnologie angekündigt. Die Zulassungszahlen von Autos mit Elektroantrieb erreichten 2021 mit rund 356.000 Fahrzeugen einen neuen Rekordstand. Ihr Anteil an den Neuzulassungen liegt inzwischen bei rund 13,5 %.". Und der Trend soll sich fortsetzen: Bis 2030 strebt die Bundesregierung 15 Mio. vollelektrische Pkw an. Damit kommt der Sektor auf einen zusätzlichen Strombedarf von über 40 TWh (plus 7 % gegenüber 2021).

Wärme: Die Hälfte des Wärmebedarfs soll nach den Plänen der Politik bis 2030 mit erneuerbaren Energien gedeckt werden – ein ehrgeiziges Ziel angesichts der geringen Fortschritte der letzten Jahre. Der Anteil der Erneuerbaren am ⁠Endenergieverbrauch⁠ im Bereich Wärme stieg 2020 gegenüber dem Vorjahr um gerade einmal 0,2 Prozentpunkte auf 15,2 %. Um die Lücke zu den geplanten 50 % zu schließen, müssten mehr Gebäude saniert und mit Wärmepumpen ausgestattet werden. Für das Jahr 2021 meldet der Bundesverband Wärmepumpe einen Absatz von 154.000 Stück, was bereits ein Plus von 28 % gegenüber dem Vorjahr darstellt. Der Verkauf müsste jedoch auf jährlich fast eine halbe Million ansteigen, wenn das Ziel des Bundeswirtschaftsministeriums von 4,1 bis 6 Mio. Wärmepumpen in 2030 erreicht werden soll. Das bedeutet eine Verdrei- bis Verfünffachung gegenüber dem aktuellen Bestand. Um das Ziel von 6 Mio. Wärmepumpen zu erreichen, müssten in jedem der rund 350.000 jährlichen Neubauten sowie bei allen Gebäudesanierungen (bei einer Sanierungsquote von 1 %) Wärmepumpen verbaut werden. Der zusätzliche Strombedarf, der hierdurch entsteht, läge nach ersten Schätzungen bei über 20 TWh (plus 4 % gegenüber 2021).

Industrie: Ob Stahl, Zement, Kalk oder Chemie: Die energieintensiven Industrien stehen angesichts der Klimazielvorgaben vor einer tiefgreifenden Transformation. Zentrale Produktionsprozesse müssen umgestellt werden. Die Kernherausforderung: Während der Kostendruck durch die steigende CO2-Bepreisung zunimmt, müssen Produktionsanlagen teuer modernisiert und deutlich größere Mengen von CO2-freien Energieträgern beschafft werden. Die Auswirkungen auf den Stromverbrauch sind allerdings – anders als bei Verkehr und Wärme – im Industriesektor relativ schwer abzuschätzen, hauptsächlich aufgrund seiner heterogenen Struktur und unterschiedlicher Dekarbonisierungspfade in den einzelnen Branchen. Tatsächlich könnte die Dynamik des Sektors und der damit verbundene Strombedarf noch deutlich größer ausfallen als aktuell angenommen.
 
Ein Beispiel: Der weltgrößte Chemiekonzern BASF geht bereits fest davon aus, dass die Umstellung auf klimaneutrale Produktion zu einem deutlichen Anstieg seiner Stromnachfrage führen wird. Bereits 2035, so die Schätzung des Konzerns, dürfte der Strombedarf der größten Produktionsstätten dreimal so hoch sein wie heute. Doch das ist erst der Anfang: Der Verband der Chemischen Industrie geht davon aus, dass der Verbrauch seiner Mitglieder von aktuell 54 TWh auf über 600 TWh in 2050 steigen wird – ein Plus von 1.100 %. Allein die chemische Industrie verbraucht dann mehr Strom als Deutschland gegenwärtig insgesamt.

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