Mammutaufgaben für die Politik

Abb. 3: Wirtschaftlichkeit, Wertung H1 2021 und H2 2021
Doch die Zeit drängt. Die neu gesteckten Zielmarken reflektieren zwar das erforderliche Ambitionsniveau, damit die Energiewende gelingt. Aber ehrgeizige Ziele allein werden es nicht richten. Vor allem drei Themen gilt es, schnellstmöglich anzugehen:
- EE-Ausbau vereinfachen. Für die Windkrafterzeugung an Land und auf See müssen ausreichend Flächen ausgewiesen sowie Genehmigungsverfahren drastisch verkürzt und rechtssicher entschieden werden, um Planungssicherheit zu gewährleisten. Zusätzlich braucht es Anreize für Hauseigentümer, auf Neu- wie auch auf Bestandsgebäuden Solaranlagen zu errichten.
- Heute schon die bezahlbare Versorgung von morgen sichern. Um den Wegfall der auslaufenden Kohle- und Atomkraftwerke zu kompensieren, muss Deutschland bereits jetzt den Ausbau von neuen, wasserstofffähigen Gaskraftwerken vorantreiben, z.B. durch die frühzeitige Suche nach geeigneten Standorten. Ein weiterer Hebel zur Sicherstellung der Versorgung wäre ein intelligentes Lastmanagement, das die Möglichkeit schafft, Strom von Elektroautos bei Bedarf wieder ins Netz zu speisen. Zur Gewährleistung einer langfristig stabilen Versorgung sollte parallel eine Strategie für Stromimporte entwickelt werden.
- Die Kosten nicht aus dem Ruder laufen lassen: Damit die Bevölkerung die Energiewende auch weiterhin unterstützt, muss Energie bezahlbar bleiben. Wenn allerdings Erdgas der einzige verbliebene Brennstoff ist, wird der Strompreis noch stärker von Preisschwankungen und Knappheitssituationen auf dem internationalen Erdgasmarkt abhängig sein. Schon heute ist die Abhängigkeit vom Gaspreis enorm, wie sich an den aktuellen Preisentwicklungen ablesen lässt: Innerhalb eines Jahres stiegen die Großhandelstrompreise in Deutschland von 50 € auf zuletzt über 200 € pro MWh.
Die vom Bundeswirtschaftsministerium im Januar veröffentlichte „Eröffnungsbilanz Klimaschutz“ macht deutlich, dass sich die Politik des Handlungsdrucks bewusst ist. Das vorgelegte Paket enthält bereits zielgerichtete Maßnahmen für die beschriebenen Handlungsfelder. Jetzt kommt es darauf an, die ambitionierten Pläne auch möglichst schnell und vollständig in die Tat umzusetzen.
Energiewende-Index: Die Indikatoren im Überblick
Die jüngste Entwicklung der 15 Indikatoren legt offen, wie wenig die Energiewende derzeit vorankommt. Der Primärenergieverbrauch steigt ebenso wie die Emissionen, der Anteil der Erneuerbaren am Stromverbrauch ist rückläufig. Zusätzlich sorgen die neu formulierten Ziele der Bundesregierung dafür, dass die angestrebten Zielmarken der Energiewende in noch weitere Ferne rücken: So schrumpft die Zahl der Indikatoren mit stabil realistischer Zielerreichung auf nur noch drei, da der Indikator EE-Anteil am Bruttostromverbrauch nun auf der Kippe steht. Gleiches gilt für den CO2e-Ausstoß, bei dem die emissionssenkenden Corona-Effekte inzwischen aufgehoben sind. Die Sektorkopplung Wärme rutscht ab in die Kategorie „unrealistisch“. Allein der Indikator Haushaltsstrompreis, der die hiesige Preisentwicklung im europäischen Vergleich abbildet, rückt überraschend um gleich zwei Kategorien nach oben – doch nur, weil die Strompreise im Ausland im vergangenen Jahr noch deutlich stärker gestiegen sind als hierzulande. Insgesamt befinden sich aktuell sieben Indikatoren auf der Kippe und fünf weitere gelten in ihrer Zielerreichung als unrealistisch.
Zielerreichung für fünf Indikatoren unrealistisch
Sektorkopplung Wärme: Der Anteil der Erneuerbaren am Endenergieverbrauch im Bereich Wärme und Kälte lag 2021 bei 14,8 % und hat sich damit seit 2015 um weniger als einen Prozentpunkt verbessert. Bisher befand sich der Indikator trotzdem noch auf dem Zielpfad, da für 2030 lediglich 27 % EE-Anteil vorgegeben wurden. Mit der Anhebung des Ziels auf 50 % fällt der Erreichungsgrad nun aber auf 58 % und damit in die Kategorie „unrealistisch“ (Abb. 1).
Der Indikator Sektorkopplung Verkehr sinkt von 46 % auf 44 %. Denn auch hier gibt die Bundesregierung neue Ziele vor: Statt wie bisher 7 Mio. Elektrofahrzeuge sollen es nun 2030 bereits 15 Mio. sein. Zwar übersprang die Zahl der Zulassungen 2021 erstmals die Millionenmarke – ein Plus von 140 % im Vergleich zum Vorjahr. Um aber auf dem Zielpfad zu bleiben, müssten schon jetzt rund 2,1 Mio. Fahrzeuge auf deutschen Straßen fahren. Ganz unerreichbar ist das 2030er-Ziel dennoch nicht, da die E-Mobilität derzeit exponentiell wächst, während der Energiewende-Index in seiner Berechnung von einer linearen Entwicklung ausgeht.
Die Kosten für Netzeingriffe sind mit aktuell 9,6 € pro MWh weiter denn je von ihrem 1-€-Ziel entfernt. Gegenüber 2020 hat sich dieser Wert aufgrund gestiegener Redispatch-Maßnahmen noch einmal deutlich verschlechtert: Die Gesamtkosten für Netzengpassmaßnahmen lagen allein im ersten Halbjahr 2021 bei über 800 Mio. €. Der Zielerreichungsgrad sinkt von 53 % auf 39 % (Abb. 2).
Kaum weitere Fortschritte gab es beim Indikator Ausbau Transportnetze: Zwar wurden in den vergangenen beiden Quartalen rund 150 km fertiggestellt; die Gesamtlänge beträgt jetzt 1.848 km. Allerdings bleibt der Ausbau weit hinter dem Zielwert von 4.400 km zurück. Die Zielerreichung des Indikators verharrt bei 38 %.
Der Industriestrompreis ist im ersten Halbjahr 2021 in Deutschland weniger stark gestiegen als im Ausland und liegt jetzt nur noch 37 % über dem europäischen Durchschnitt (Vorhalbjahr: 44 %). Somit bleibt der Indikator zwar weiterhin unrealistisch, springt aber in seiner Zielerreichung von zuletzt gerade einmal 3 % auf 35 % (Abb. 3).
Sieben Indikatoren realistisch, aber auf der Kippe
CO2e-Ausstoß: Die Treibhausgasemissionen stiegen nach ersten Hochrechnungen 2021 um rund 33 Mio. t auf 772 Mio. t CO2e – eine Verschlechterung von 4,5 % gegenüber dem ersten Corona-Jahr 2020. Der Zielerreichungsgrad fällt damit von realistischen 104 % zurück auf 81 %. Laut Agora Energiewende ist der Emissionsanstieg vor allem auf vermehrte Kohleverstromung und wieder höheren CO2-Ausstoß in der Industrie zurückzuführen. Beide Faktoren gehen auf die gesamtwirtschaftliche Erholung zurück. Damit wird das 2020er-Ziel von 750 Mio. t, das im Pandemiejahr 2020 noch erreicht wurde, wieder deutlich verfehlt. Um auf den Reduktionspfad bis 2030 zurückzukehren, müssten von nun an pro Jahr 37 Mio. t CO2 eingespart werden. Dazu braucht es allerdings entschlossene Zusatzmaßnahmen – in den vergangenen zehn Jahren gingen die Emissionen im Schnitt um weniger als 15 Mio. t pro Jahr zurück.
Der Primärenergieverbrauch ist 2021 gegenüber dem Vorjahr stark gestiegen – von 11.890 PJ auf 12.193 PJ. Die Zielerreichung fällt von 87 % auf 72 %. Auch dieser Anstieg lässt sich auf die wirtschaftliche Erholung und die nachlassenden Corona-Effekte zurückführen.
Der EE-Anteil am Bruttostromverbrauch sinkt von 45 % in 2020 auf nur noch 42 % in 2021. Der Rückgang ist vor allem auf einen gestiegenen Strombedarf und ungünstige Witterungsverhältnisse zu Beginn des Jahres 2021 zurückzuführen. Obwohl der Ausbau der Erneuerbaren bereits seit Längerem stockt, war die Zielerreichung des Indikators bisher nicht in Gefahr. Mit dem neuen Ziel der Bundesregierung, den EE-Anteil bis 2030 auf 80 % zu erhöhen, wird es jedoch zunehmend unwahrscheinlich, dass Deutschland auf dem Zielpfad bleibt. Der Indikator sinkt von 133 % auf 114 %.
Der Anteil der Gesamtenergiekosten Haushalte am Gesamtwarenkorb der Verbraucher stieg zuletzt von 9,8 % auf 10,3 % und durchbricht damit die angepeilte Grenze von 10,1 %. Damit sinkt die Zielerreichung erneut von 107 % auf jetzt 96 %. Grund hierfür sind gestiegene Preise für Kraftstoff, aber auch für Erdgas: Letzteres wurde im Dezember an der Börse mit mehr als 190 € pro MWh gehandelt – ein Preisanstieg von 927 % gegenüber dem Jahresbeginn. Im Schnitt zahlte ein vierköpfiger Haushalt 2021 rund 260 € mehr für Energie als im Jahr zuvor.
Für den Indiktor Arbeitsplätze in erneuerbaren Energien liegen noch keine neuen Daten vor. Er verharrt bei einer Zielerreichung von 96 %.
Weiterhin keine neuen Daten gibt es auch zum EE-Anteil am Bruttoendenergieverbrauch. Er kam zuletzt auf 125 % Zielerreichung. Doch wie bei den übrigen Umweltindikatoren kann davon ausgegangen werden, dass auch er sich 2021 infolge wirtschaftlicher Erholung und steigenden Energieverbrauchs bei zugleich schleppendem Ausbau der Erneuerbaren verschlechtert haben wird.
Ebenfalls unverändert bleibt die gesicherte Reservemarge bei 109 % Zielerreichung. Der geplante Kohle- und Atomausstieg jedoch wird die gesicherte Kapazität in den kommenden Jahren sukzessive schrumpfen lassen. Bis 2030 werden voraussichtlich rund 25 GW Leistung vom Netz gehen – bei einem früheren Kohleausstieg zum Ende dieses Jahrzehnts stünden sogar 52 GW weniger zur Verfügung als 2021. Zusätzlich führt die Anhebung der EE-Ziele dazu, dass immer mehr konventionelle Kraftwerke unrentabel werden und die Betreiber sich gezwungen sehen, die Anlagen früher als geplant zu schließen. Das würde die gesicherte Reservemarge weiter unter Druck setzen.
Drei Indikatoren mit stabil realistischer Zielerreichung
Der Indikator Ausfall Stromversorgung hat sich leicht von 12,2 auf 10,7 Minuten pro Jahr verbessert. Damit steigt die Zielerreichung auf 117 %.
Der deutsche Haushaltsstrompreis ist mit einem Sprung von 11 % auf 111 % Zielerreichung erstmals seit Jahren wieder im realistischen Zielkorridor – eine überraschende Entwicklung und eigentlich gegen den aktuellen Trend rapide steigender Strompreise. Grund ist jedoch der Vergleich zur Preisentwicklung in den europäischen Ländern, den der Indikator abbildet: Demnach lag der hiesige Haushaltsstrompreis Ende 2021 nur noch 22,7 % über dem europäischen Durchschnitt; ein Jahr zuvor betrug die Differenz noch 48 %. Dass sich die Schere nun schneller schließt als erwartet, liegt am massiven Preisanstieg von 38 % im Ausland, während der Strom in Deutschland 2021 nur um 10 % teurer wurde. Ob der Indikator in seiner Zielerreichung realistisch bleibt, ist jedoch fraglich: Höhere Erdgaspreise dürften den Haushaltsstrompreis 2022 erneut nach oben treiben. Allerdings könnte der geplante Wegfall der EEG-Umlage mittelfristig zumindest teilweise wieder entlastend wirken.
Für den Indikator Verfügbare Kapazität für Import aus Nachbarländern wurden bislang keine neuen Daten vorgelegt. Damit verbleibt dieser Indikator mit einer Zielerreichung von 208 % im realistischen Bereich.
Dr. T. Vahlenkamp, Senior Partner, McKinsey & Company, Düsseldorf; S. Overlack, Partner, McKinsey & Company, Frankfurt; Dr. F. Pflugmann, Engagement Manager, McKinsey & Company, Frankfurt; F. Stockhausen, Solution Associate, McKinsey & Company, München; E. Hosius, Junior Capabilities and Insights Analyst, McKinsey & Company, Düsseldorf, thomas_vahlenkamp@mckinsey.com
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