Dr. Thorsten Diercks, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Braunkohlen-Industrie-Vereins (DEBRIV), Berlin

Dr. Thorsten Diercks, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Braunkohlen-Industrie-Vereins (DEBRIV), Berlin (Quelle: DEBRIV)

„et“: Warum trägt die Braunkohleindustrie die Ergebnisse der Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung (KWSB) mit und unterstützt die aus diesem Kompromiss resultierende Gesetzgebung, obwohl die Beschlüsse und Maßnahmen zu erheblichen Eingriffen in die Planungen in allen drei Revieren führen?

Diercks: Der wichtigste Grund ist sicherlich, dass der gesamtgesellschaftliche Kompromiss das Ziel, jederzeit und unterbrechungsfrei Strom zur Verfügung zu haben, mit den Klimaschutzzielen zusammenbringen kann. Der Kompromiss zeigt deutlich, dass Braunkohle dazu noch für viele Jahre gebraucht wird. Notwendig für unsere Zustimmung war und ist zudem die Perspektive für die Reviere Rheinland, Lausitz und Mitteldeutschland. Die festgelegten Zeiträume geben den vom Kohleausstieg betroffenen Revieren eine faire Chance, sich an die gesellschaftlich gewünschten Entwicklungen anzupassen und eine sozialverträgliche Ausgestaltung zu ermöglichen. Die KWSB-Empfehlungen setzen weiteren Zielverschärfungen und Eingriffen klare Grenzen und zeigen auf, unter welchen Umständen Strukturbrüche unvermeidlich werden.

Die Empfehlungen wurden zudem nach langer, intensiver und sachlicher Diskussion formuliert und verabschiedet. Zu keinem anderen politischen Thema hat in den vergangenen Jahrzehnten ein ähnlich umfassender Dialog unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen mit erfolgreichem Abschluss stattgefunden. Wir können damit sogar das bewährte Zieledreieck einer sicheren, bezahlbaren und umweltgerechten Energieversorgung um einen vierten Aspekt ergänzen: die demokratisch herbeigeführte Akzeptanz.

„et“: Warum bleibt denn die Kohleverstromung bis 2038 erforderlich?

Diercks: Unser Stromsystem ist ab 2023 „auf Kante genäht“. Eine Spitzenlast von heute 81 GW, die sich durch die fortschreitende Sektorkopplung auf rund 100 GW erhöhen könnte, ist auf entsprechende gesicherte Leistung angewiesen. In den ersten Monaten des laufenden Jahres haben wir gesehen, dass immer wieder Dunkelflauten auftreten, die eine Absicherung mit konventionellen Kraftwerken erfordern.

Mit dem vereinbarten stufenweisen Abschaltplan können die Braunkohlekraftwerke noch über einen längeren Zeitraum die dringend benötigte gesicherte Leistung bereitstellen. Niemand weiß heute, wann die Stromversorgung auf Basis erneuerbarer Energieträger nach dem erforderlichen deutlichen Ausbau von Netzen und Stromspeichern so weit ist, dass die Erneuerbaren in einem angepassten Stromsystem – Netze, Speicher, Sektorkopplung – die Stromversorgungssicherheit wirklich und nicht nur rechnerisch garantieren können. Wir meinen, dass wir – so lange die Erneuerbaren noch nicht so weit sind – auf die Braunkohle nicht verzichten können. Offensichtlich hat dies auch die KWSB so gesehen.

„et“: Forderungen, die Abschaltung von Kraftwerken vorzuziehen, erteilen Sie also eine Absage?

Diercks: Ja! Neben der Versorgungssicherheit geht es auch um die Anpassungsfähigkeit aller drei Reviere. Wir erwarten im Interesse unserer Beschäftigten und aus Verantwortung gegenüber den Regionen von der Politik und der Gesellschaft ein hohes Maß an Verlässlichkeit für den weiteren Betrieb der Tagebaue und Kraftwerke. Der Kohleausstieg ist mit großen Investitionen verbunden, die sich nur stemmen lassen, wenn über eine ausreichende Zeitspanne geplant und realisiert werden kann.

Der neue Rechtsrahmen bietet Sicherheit

„et“: Wieviel Sicherheit gibt der neue Rechtsrahmen den Regionen?

Diercks: Gleichzeitig mit dem Gesetz zur Reduzierung und zur Beendigung der Kohleverstromung (KVBG) hat der Bund das Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen beschlossen. Es schafft neben dem schrittweisen Ausstieg aus der Kohleverstromung in Deutschland gleichzeitig Perspektiven für die betroffenen Regionen. Das Strukturstärkungsgesetz definiert den Rechtsrahmen für die strukturpolitische Unterstützung der vom vorzeitigen Ausstieg aus der Kohleverstromung betroffenen Regionen und ist somit zentral für das Gelingen des Strukturwandels. Rund 2 Mrd. € jährlich oder insgesamt 40 Mrd. € bis 2038 sollen in den Regionen u.a. für Investitionen in wirtschaftsnahe Infrastruktur, in den öffentlichen Personennahverkehr, die Breitband- und Mobilfunkinfrastruktur sowie den Umweltschutz und die Landschaftspflege eingesetzt werden. Zu begrüßen ist auch, dass die Bundesregierung sich zum Ziel gesetzt hat, Einrichtungen des Bundes in den betroffenen Regionen anzusiedeln und so bis zu 5.000 Arbeitsplätze zu schaffen.

„et“: Dies dürfte also überwiegend den Regionen und nicht den Unternehmen helfen. Welche Sicherheit besteht denn für die Braunkohleindustrie?

Diercks: Im KVBG wird die Bundesregierung ermächtigt, einen öffentlich-rechtlichen Vertrag mit den Betreibern von Braunkohleanlagen und weiteren von der Reduzierung und Beendigung der Braunkohleverstromung unmittelbar betroffenen Unternehmen zu schließen. Dies ist geschehen; der Bundestag hat dem schon 2020 ausgehandelten Vertrag im Januar 2021 zugestimmt. Der Vertrag ist für die Sicherung der Braunkohleindustrie wichtig, denn Kraftwerke, Tagebaue und Rekultivierung bilden ein komplexes Gefüge.

Durch den Vertrag werden Regelungen zur Verwendung der Entschädigung getroffen, insbesondere zur Rekultivierung der Tagebaue, aber auch Rechtstreue von Seiten der Braunkohleunternehmen verpflichtend vereinbart. Eine einvernehmliche Lösung auf dem Vertragswege ist die beste Möglichkeit, die bestehenden Rahmenbedingungen und den Wunsch nach einem vorzeitigen Kohleausstieg in Einklang zu bringen. Eine weitere wichtige Begleitmaßnahme ist die soziale Abfederung des Ausstiegs aus der Kohleverstromung für ältere Beschäftigte. Hierzu wurde bereits im Gesetz die Zahlung eines umfassenden Anpassungsgeldes (APG) geregelt.

„et“: Wie groß sind die Risiken, dass das komplexe System der gesetzlichen Regelungen und der Übereinkünfte zum anstehenden Strukturwandel in den Revieren durch neue klimapolitische Beschlüsse konterkariert wird?

Diercks: Die gesamtgesellschaftliche Verständigung zum Kohleausstieg in Deutschland ist mit den Vorgaben des Pariser Klimaschutzabkommens voll vereinbar. Die Treibhausgasemissionen der Braunkohleindustrie haben sich von 1990 bis 2019 um 60 % vermindert. Wir liegen damit an der Spitze der inländischen Industriebranchen. Für das Jahr 2023 erwarten wir ein Minus von gut 70 % gegenüber 1990 und bis 2030 einen Rückgang um 80 %. Die Braunkohle hat also klimapolitisch geliefert und steht der für 2045 geplanten Dekarbonisierung nicht entgegen.

„et“: Trotzdem verstummen nicht die Stimmen, die den Kohlekompromiss in Frage stellen und fordern, das Ende der Kohlenutzung vorzuziehen. Nach dem jüngsten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wird dies sogar aus Gründen der Generationengerechtigkeit gefordert.

Diercks: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes vom 24.03.2021 hat einen Überbietungswettbewerb für neue Klimaziele und Maßnahmen entfesselt, obwohl das Gericht dies gar nicht gefordert hatte. Für den Kohleausstieg gibt es bereits heute einen sehr konkreten Ausstiegspfad, der auch die Jahre nach 2030 umfasst. Die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Verbindlichkeit der CO2-Reduktion nach 2030 ist für die Kohleverstromung also bereits Realität.

„et“: Bleibt Deutschland Vordenker beim Kohleausstieg und Vorreiter in der Klimapolitik?

Diercks: Politisch ist das sicherlich derzeit gewollt. Das Treibhausgasneutralitätsziel 2045 spricht eine deutliche Sprache: Deutschland ist nicht nur Vordenker, sondern auch Vorreiter in der Klimapolitik, und dies trotz seines Anteils von nur rund 2 % der globalen Treibhausgasemissionen. Aus Sicht der deutschen Industrie ist zu begrüßen, dass sowohl die USA wie auch China als die mit Abstand größten Emittenten sich wieder stärker den Fragen des globalen Klimaschutzes öffnen.

In der EU hat der deutsche Kohleausstieg übrigens große Beachtung gefunden, vor allem wegen der eingangs erwähnten gesamtgesellschaftlich angelegten Kompromiss-Strategie der Kohle-Kommission. Damit ist Deutschland Vorbild für andere kohleintensive Länder Europas geworden. Tschechien hat ebenfalls eine Kohlekommission eingerichtet. Wahrscheinlich wird auch hier 2038 die Nutzung der Kohle beendet. Polen hat sich auf das Jahr 2049 festgelegt. Andere Länder wie Slowenien oder Rumänien diskutieren noch. Obwohl diese Entscheidungen nationalen Charakter haben, bestimmen sie doch das energiepolitische Bild der EU in der Welt.

„et“: Die Bundesregierung hat eine Novelle des Bergrechts auf den Weg gebracht, um rechtliche Hindernisse bei den Anpassungsplanungen in den Tagebauen abzubauen ....

Diercks: ... ein Thema, das auch aufzeigt, wie wichtig es ist, Planungs- und Umweltrecht an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen. Die zeitliche Begrenzung des Betriebs der deutschen Braunkohlekraftwerke hat unmittelbare Auswirkungen auf die Gewinnung des wichtigsten heimischen fossilen Energieträgers.

Bei der Braunkohle bilden Kraftwerke und Tagebaue das bereits erwähnte enge Verbundsystem. Nun soll die Verstromung von Braunkohle früher und anders beendet werden als bisher in den Plänen der Unternehmen, in den Raumordnungsplänen sowie den bergrechtlichen Genehmigungen vorgesehen. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, einige der bestehenden Tagebaue entsprechend der verbliebenen Nutzungszeiten umzuplanen.

In ihrem Abschlussbericht hatte die KWSB gefordert, dass im Rahmen der Stilllegung die Verfahren zu Anpassungen von Genehmigungen unter Ausnutzung möglicher Beschleunigungen so zu führen sind, dass ein Stillstand der Tagebaue einschließlich der Wiedernutzbarmachung vermieden wird und durchgehende Planungssicherheit besteht. Alle Um- oder Neuplanungen unterfallen dem Bundesberggesetz (BBergG), das in seiner jetzigen Fassung durch ein mehrstufiges Verfahren mit wiederkehrenden Zulassungen gekennzeichnet ist. In den bergrechtlichen Verfahren wird das gesamte und durchaus komplexe materielle Umweltrecht mit geprüft. Die Folge sind häufig Verfahrensdauern von vielen Jahren, die dem neuen Zeitrahmen nicht mehr angemessen sind. Durch den gesetzlich geregelten Ausstieg aus der Nutzung der Braunkohle in Deutschland erfolgt der Abbau nicht mehr nur wie bisher dynamisch fortschreitend, sondern ist auf ein zeitlich definiertes Ende ausgerichtet.

Mit der Novelle des Bergrechts hat der Gesetzgeber Möglichkeiten zur Verlängerung der Regeldauer von Hauptbetriebsplänen geschaffen. Noch wichtiger für eine Beschleunigung ist, dass durch eine Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung für Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Umplanung von Braunkohletagebauen erstinstanzlich die Oberverwaltungsgerichte zuständig sind. Der Wegfall der Instanz „Verwaltungsgericht“ dürfte dazu führen, dass in etwaigen Klageverfahren schneller Rechtssicherheit für die Genehmigungen eintritt.

Kein Kohleausstieg durch die Hintertür

„et“: Gelegentlich ist vom „Kohleausstieg durch die Hintertür“ die Rede. Was hat es damit auf sich?

Diercks: Natürlich darf die Politik den gesamtgesellschaftlichen Kompromiss zur Kohle nicht dadurch umgehen, dass sie Gesetze beschließt, die – de facto gegen die Braunkohle gerichtet – technologisch, ökonomisch oder ökologisch unerfüllbare Vorgaben machen. Es geht, korrekt: es ging, um die Neufassung der 13. und 17. BImSchV, im Wesentlichen der Großfeuerungsanlagen-Verordnung. Die Verordnungsentwürfe wurden bereits Anfang Dezember 2020 von der Bundesregierung verabschiedet und setzen Vorgaben der EU-Kommission aus dem Jahre 2017 um. Vorgesehen sind verbindlich einzuhaltende Emissionsbandbreiten für bestimmte Luftschadstoffe.

Nach intensiver Diskussion wurden Grenzwertverschärfungen beschlossen, die für große Braunkohlekraftwerke nach Expertenmeinung technisch gerade noch erreichbar und wirtschaftlich noch verhältnismäßig sind. Sie führen so zu keinem „Kohleausstieg durch die Hintertür“. In Verbindung mit dem Kohleausstieg führt die Umsetzung der neuen Grenzwerte zu einem Rückgang der Schadstofffracht aus Braunkohleanlagen bis 2030 um etwa 60 %. Ein kritischer Punkt bleibt allerdings die kurze Zeitspanne zur Umsetzung der technischen Nachrüstungen durch die Unternehmen.

„et“: In diesem Zusammenhang zum Stichwort Wirtschaftlichkeit noch eine Frage: Wie stark bedrohen die stark steigenden Preise für CO2-Emissionszertifikate die Wettbewerbsfähigkeit der Braunkohleanlagen?

Diercks: Die deutsche Braunkohle war und ist ein zumeist sehr wettbewerbsfähiger Energieträger. Natürlich ist ein hoher CO2-Preis auch in Deutschland ein Nachteil für Braunkohlekraftwerke. Deren Wettbewerbsfähigkeit hängt aber auch von anderen Faktoren wie etwa den internationalen Gaspreisen und der Höhe der Strompreise ab.

„et“: Wird denn nicht der aktuelle Vorschlag der EU-Kommission etwas an der Wettbewerbsfähigkeit ändern?

Diercks: Inwieweit die CO2-Preise auf die weiteren Beratungen in Brüssel nochmals reagieren, bleibt abzuwarten. Die EU sollte aber zur Kenntnis nehmen, dass der ETS-Sektor in den zurückliegenden 15 Jahren EU-weit bereits zu einer Emissionsreduktion von 35 % geführt hat, und der ETS-Sektor damit die Hauptlast bei der Emissionsminderung getragen hat. Jetzt gilt es, die Lasten für die Emissionsminderung bis 2030 neu und gerecht zu verteilen.

Für die angekündigte Änderung des europäischen Emissionshandelssystems ist wichtig, dass der ETS-Sektor im Vergleich zum Nicht-ETS-Sektor nicht nochmals härteren oder überproportionalen Anforderungen unterworfen wird. Auch nach 2040 müssen noch genügend Zertifikate zur Verfügung stehen, um einerseits eine wettbewerbsfähige europäische Industrie zu haben und andererseits eine versorgungssichere und kostengünstige Stromversorgung zu gewährleisten. Daher ist zu unterstützen, wenn Bereiche mit derzeit noch hohen Vermeidungskosten, wie Verkehr und Gebäude, zunächst außerhalb des bestehenden EU-ETS bleiben. Es besteht sonst die Gefahr, dass es zu einer Sektorverrechnung kommt, über die die Energiewirtschaft zusätzlich auch die Einsparungen der anderen Sektoren erbringen müsste.

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