Putins Fehlkalkulationen und die Zunahme russischer LNG-Exporte nach Europa

Abb. 3 LNG-Importe und Spotpreisentwicklung in Asien versus Europe

Abb. 3 LNG-Importe und Spotpreisentwicklung in Asien versus Europe (Quelle: GIS)

Abb. 4 Geschätzte Zunahme der LNG-Verflüssigungskapazitäten 2023-27

Abb. 4 Geschätzte Zunahme der LNG-Verflüssigungskapazitäten 2023-27 (Quelle: Eurasia Group/IEEFA 2023)

Der russische Präsident Vladimir Putin hat sich gleich mehrfach verspekuliert, dass Russlands Gaslieferstopp im August 2022 eine größere europäische Energiekrise verursachen würde, die den politischen Willen des Westens untergrabe, die Ukraine militärisch und finanziell zu unterstützen. Allerdings konnte Russland seine LNG-Produktion um 2,9 % auf 45,7 bcm im Jahr 2022 steigern. Damit ist Russland nach den USA und Katar der drittgrößte LNG-Lieferant Europas.

Doch die Steigerung der russischen LNG-Exporte in die EU-27 um bis zu 35 % von 14,22 bcm im Jahr 2021 (18 bcm nach ganz Europa) auf 19,2 bcm in 2022 (20,2 bcm nach ganz Europa) hat die Frage der politischen Glaubwürdigkeit der Energiesanktionen der EU aufgeworfen. Die größten Importeure von russischem LNG in 2022 waren Frankreich (7,4 bcm), Spanien (5,2 bcm) und Belgien (3,0 bcm). Dabei nahmen die Importe von Frankreich und Belgien um 58 % und Spanien um 50 % zu. Griechenland, Italien und die Türkei hatten 2022 erstmals russisches LNG importiert. Inzwischen hat die EU-Energiekommissarin Kadri Simson am 1. April ein neues Gesetz angekündigt, das russischen Gaskonzernen den LNG-Verkauf durch Buchung von Importkapazitäten verbieten soll (s. Abb. 5).

Russlands Anteil an den Gasimporten der EU ist bereits von zuvor 40 auf weniger als 10 % im vergangenen Jahr gesunken. Bis 2030 könnte sich der Anteil Russlands auch am weltweiten Öl- und Gashandel halbieren. Die Einnahmen aus fossilen Brennstoffen könnten parallel zu den sich beschleunigenden Dekarbonisierungsprozessen der EU und der Welt noch weiter zurückgehen. Die Wasserstoff-Ambitionen sind ohne die Zusammenarbeit mit europäischen und US-Energieunternehmen kaum realistisch. Während Moskau seine Bemühungen um die Umleitung von Öl- und Gasexporten auf die asiatischen Märkte in 2022 verstärkt hat, kann der Mangel an Gasinfrastrukturen (wie weitere Pipelines nach China und Asien) allenfalls in 5-10 Jahren überwunden werden, ohne dass allerdings die Aussicht besteht, dass Russland den Verlust der europäischen Märkte vollständig kompensieren kann und die asiatischen Gasmärkte vor dem Hintergrund weiterer Milliardeninvestitionen in neue Gasinfrastrukturen auch nur ansatzweise vergleichbar profitabel sein können.

Einschätzung der EU-Gegenmaßnahmen zur Stärkung der Gas- und Energieversorgungssicherheit

Auf Seiten der EU werden die kostspieligen Gegenmaßnahmen auf die wirtschaftlichen und energiepolitischen Auswirkungen des Ukraine-Krieges auf bis zu 800 Mrd. € für die Bewältigung der reduzierten Wirtschaftstätigkeiten, der Bekämpfung der Energiearmut und der Investitionen in neue Energieinfrastrukturen sowie der Beschleunigung des grünen Energieumbaus anwachsen. Allein der REPowerEU-Plan kostet rund 300 Mrd. €, um die Dekarbonisierung der EU-Wirtschaft zu beschleunigen und die russischen Importe fossiler Brennstoffe bis 2027 durch alternative Gas- und Ölimporte sowie den Ausbau von erneuerbaren Energien und Wasserstoffprojekten zu ersetzen. Deutschlands Ausgaben für die Energiekrise infolge der Ukraine-Krise werden allein auf fast 270 Mrd. € beziffert und stellen damit alle anderen EU-Länder in den Schatten.

In kurz- und mittelfristiger Perspektive erscheint es völlig unwahrscheinlich, dass die zerbrochenen Beziehungen zwischen Russland und Europa gekittet werden können. Darüber hinaus dürfte auch die NS-2-Gaspipeline unter keinen politischen Umständen in Betrieb genommen werden, da die EU beschlossen hat, sich bis spätestens 2027 und Deutschland bereits bis Ende 2024 von allen fossilen Energieimporten aus Russland zu befreien. Eine Wiederaufnahme und Finalisierung der NS-2-Zertifizierung ist ebenso unrealistisch, da sie der Unterstützung der Europäischen Kommission und de facto auch der EU-Mitgliedstaaten bedarf. Darüber hinaus benötigen weder Deutschland noch die EU die NS-1- und/oder NS-2-Gaspipelines für die Gasversorgungssicherheit Deutschlands und der EU, da beide über ausreichende LNG- und Pipelineimportkapazitäten verfügen und die EU-27 ihren Gasverbrauch um 30-40 % bis 2030 reduzieren will.

Die Frage ist vorerst eher, ob die bestehenden Leitungstransportkapazitäten an Land von den Importterminals an der Küste zu den einzelnen Ländern und Verbrauchszentren (wie Bayern in Deutschland, dessen Gasversorgung bis 2022 zu 90% von russischen Gaspipeline-Lieferungen abhängig war) ausreichen werden. So verfügt z.B. Spanien zwar über die größten LNG-Importkapazitäten der EU, kann aber sein LNG nicht über größere Pipelinekapazitäten nach Frankreich und damit auch nach Deutschland sowie mittelosteuropäische Staaten weiterleiten.

Da kein Gas mehr über die NS-1-Pipeline nach Deutschland fließt, ist nicht nur Deutschland von dem russischen Gasexportstopp über diese Route und einer Reduzierung des Gasexportes über die Ukraine nach Europa betroffen, sondern auch Nachbarländer Deutschlands, die bisher über die Opal-Verbindungspipeline mit russischem NS-1-Gas versorgt wurden. Dies trifft insbesondere für die „Energie- und Gasinseln“ wie Tschechien, Österreich, die Slowakei und sogar die Ukraine zu, die auch – trotz russischer Blockadeversuche – mittels der Gasumkehrflussmöglichkeiten in den letzten Jahren u.a. auch russisches NS-1-Pipelinegas von seinen westlichen EU-Nachbarn importiert hatte (rund 8 bcm in 2021) (s. Abb. 6 und Tab.).

Die von Russland seit 2021 drangsalierte Republik Moldau, die bis 2021 zu 100 % von Gazprom-Lieferungen über die Ukraine abhängig war, muss ihre Gasimporte diversifizieren, da Russland mittels seiner Gaswaffe versucht, das Land zu destabilisieren, solange sie ihr Ziel einer EU-Mitgliedschaft nicht aufgibt. Seit Herbst 2021 hat Moldawien begonnen, auch Gas aus Rumänien und der Ukraine zu importieren.

Während die russischen Gasexporte nach Europa über die Ukraine von den in 2019 vertraglich vereinbarten 42 bcm pro Jahr auf nur noch 18 bcm im Jahr 2022 reduziert wurden, sind die russischen Gasexporte über die Ukraine von Gazprom seit Januar dieses Jahres weiter gesenkt worden. Auch die IEA geht nur noch von russischen Gaslieferungen über die Ukraine in einem Umfang von nicht mehr als 10 bcm in 2023 aus. Insgesamt dürften die russischen Pipelinegasexporte nach Europa (unter Berücksichtigung der 15,75 bcm Kapazität der Turk Stream-2-Gaspipeline über die Türkei) somit nur noch rund 25 bcm erreichen.

Mit Blick auf den Vorwurf überdimensionierter deutscher LNG-Importkapazitäten muss zunächst festgehalten werden, dass hierfür der deutsche Gasbedarf allein als Bezugsgröße völlig unzureichend ist, weil Deutschland integraler Bestandteil des europäischen Gasbinnenmarktes ist und sowohl vertragliche Gaslieferverpflichtungen seitens der deutschen Gasunternehmen für die Nachbarstaaten bestehen als auch (außen-)politische Verpflichtungen innerhalb der EU. Die Vertragsverpflichtungen auf Seiten der Unternehmen enden nicht automatisch mit dem Wegfall der russischen Gaslieferungen über NS-1- und die Opal-Pipelines.

Darüber hinaus ist die Bundesregierung (außen-)politisch und auch verfassungsrechtlich an das EU-Kernprinzip der „Energiesolidarität“ gebunden, welches im Lissabon-Protokoll und im Dokument zur Energieunion sowie in zahlreichen Energieregularien verankert ist, wie der Gerichtshof der Euro¬päischen Union (EuGH) im Jahr 2021 in seiner Opal-Entscheidung klargestellt hat. Wenn Deutschland dieser Verfassungsnorm nicht gerecht wird, können die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedstaaten Deutschland vor dem EuGH verklagen, gegen dieses verfassungsrechtliche Kernprinzip erneut verstoßen zu haben. Dies aber kann sich künftig keine Regierung des größten EU-Mitgliedslandes mehr leisten. Daher muss auf Seiten der Bundesregierung auch der Gasbedarf und die Gasversorgungssicherheit der Nachbarstaaten sowie der EU-27 als Ganzes stets mitbedacht werden.

So geht die Bundesregierung gegenwärtig von einem Mindestimportbedarf von jährlich durchschnittlich 6-7 bcm in den Nachbarstaaten Tschechei, Österreich, der Slowakei, aber auch der Ukraine und sogar Moldawiens aus, der über die deutschen LNG-Importterminals (zusätzlich zu den anderen Importrouten) mit sichergestellt sein muss [5]. In kälteren Wintertagen und bei Ausfall von Importmengen über andere Routen (was für die Gasversorgungssicherheit ebenfalls stets mitbedacht werden muss, da Versorgungssicherheit niemals auf Best-Case-Szenarien basieren darf) könnte sich dieser Durchschnittswert von jährlich 6-7 bcm saisonal aber auch verdoppeln. Zudem befürchten sowohl die norwegische als auch die deutsche Regierung, EU und NATO, dass Russland in einer weiteren Eskalation des Ukraine-Krieges norwegische Offshore-Gasinfrastrukturen angreifen und sabotieren könnte, zumal die russische Spionage der kritischen Offshore-Gasinfrastrukturen in 2022 stark zugenommen hat.

So ist Norwegen zusammen mit den USA zum größten Gaslieferanten Europas aufgestiegen und hat seine Gasexporte infolge des russischen Gasstopps in 2022 noch einmal bis an das maximale Exportniveau erhöht. Ab 2027 droht jedoch ein Rückgang der Gasexporte, die dann nicht mehr in einem weiteren Krisenfall gesteigert werden können. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregierung für die gesamte europäische Gasversorgung einen solidarischen Kapazitätssicherheitspuffer von rund 30 bcm pro Jahr eingeplant und wird somit auch ihrer Rolle als Gashub mit dem größten nationalen Gasmarkt in der EU ihrer besonderen energiewirtschaftlichen und geopolitischen Rolle für die europäische Gasversorgungssicherheit gerecht. Insofern sind dann auch die deutschen LNG-Importterminalkapazitäten keineswegs überdimensioniert. Zudem sollten die festen Onshore-LNG-Importterminals auch kurzfristig umrüstbar auf Wasserstoffimporte sein, während die deutschen Gasimporteure sich in ihren neuen LNG-Importverträgen die Möglichkeit offenhalten, nicht mehr benötigte Vertragsmengen auf den globalen Spotmärkten kurzfristig verkaufen zu können, wie dies weltweit inzwischen üblich geworden ist.

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