Die aktuelle Entwicklung der Energiewende macht trotz guter Zwischenergebnisse deutlich, dass Deutschland zukünftig auf dekarbonisierte Gase als zusätzlichen Energieträger angewiesen sein wird

Die aktuelle Entwicklung der Energiewende macht trotz guter Zwischenergebnisse deutlich, dass Deutschland zukünftig auf dekarbonisierte Gase als zusätzlichen Energieträger angewiesen sein wird (Quelle: Adobe Stock)

Wie kann die dafür notwendige Infrastruktur möglichst rasch und effektiv aufgebaut werden? Eine von McKinsey erstellte Wasserstoffkarte gibt in drei Modellszenarien Aufschluss über den künftigen Bedarf in unserem Land. Diese sowie die neuesten Ergebnisse aus dem Energiewende-Index 2030 werden im Folgenden erläutert.

Seit der letzten Index-Veröffentlichung im vergangenen März sind die Erwartungen an die Energiewende noch einmal deutlich gestiegen: Mit Inkrafttreten des neuen Klimaschutzgesetzes soll Deutschland nun bereits 2045 klimaneutral werden – fünf Jahre früher als geplant. Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, das Nachbesserungen an dem Gesetz gefordert hat, werden die Emissionen nun ebenfalls schneller sinken müssen: Bis 2030 soll sich der Treibhausgasausstoß gegenüber 1990 um 65 % statt bisher 55 % reduzieren.

Mit dem „Fit for 55“-Paket hat auch die EU-Kommission im Juli konkretisiert, wie die Energiewende in Europa gelingen soll: Ab 2035 sollen nur noch emissionsfreie Neuwagen zugelassen werden. Im Luft- und Schiffsverkehr will man den Schadstoffausstoß über eine CO2-Bepreisung und durch die verpflichtende Beimischung von nachhaltigen Kraftstoffen senken. Im Gebäudesektor soll durch die Sanierung von 35 Mio. Gebäuden weniger Energie verbraucht und damit die Emissionsbelastung reduziert werden. Als übergreifendes Ziel hat die EU-Kommission zudem ausgegeben, bis 2030 den Anteil der erneuerbaren Energien (EE) am Energiemix auf 40 % zu erhöhen und den Primärenergieverbrauch um 36 % bis 39 % zu verringern.


Aktueller Stand Energiewende-Index 2030

Effekte aus dem Corona-Jahr wirken noch nach

Weniger Emissionen, geringerer Primär- und Endenergieverbrauch: Der Fortschritt der Energiewende im Jahr 2020 kann sich sehen lassen – allerdings haben in erster Linie die Wirkungen der Corona-Schutzmaßnahmen dazu beigetragen, dass einige Kernziele der Energiewende erreicht oder sogar übertroffen wurden. Bereits im letzten Energiewende-Index wurde der „Corona-Effekt“ auf die Indikatorergebnisse sichtbar, und er schlägt sich auch weiterhin in den aktuellen Resultaten nieder: Insgesamt weist der Energiewende-Index unverändert vier Indikatoren mit stabil realistischer Zielerreichung aus. Ebenfalls unverändert befinden sich sechs Indikatoren auf der Kippe zu einer Verschlechterung, während die Anzahl der Indikatoren mit unrealistischer Zielerreichung von vier auf fünf angestiegen ist. Grund: Der Indikator Industriestrompreis blieb in der letzten Veröffentlichung ohne Wertung, da die Datenerhebung vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) auf das Statistische Bundesamt überging. Nach Anpassung der Berechnung auf die neue Erhebungsmethodik fällt der Indikaktor nun in die Kategorie „unrealistisch“.

Alles in allem allerdings, so spiegeln die Index-Resultate, haben die Corona-Effekte keine nachhaltige Trendwende eingeleitet, im Gegenteil. Vieles deutet darauf hin, dass die für die Energiewende positiven Rekordergebnisse aus dem Jahr 2020 mit der Wiederbelebung der Wirtschaft nach dem Ende der Schutzmaßnahmen wieder passé sein werden.

Vier Indikatoren mit stabil realistischer Zielerreichung

Der EE-Anteil am Bruttostromverbrauch übersteigt auch im ersten Halbjahr 2021 mit 43 % deutlich den Zielwert von 37 % (Abb. 1). Ungünstige Witterungsverhältnisse zum Jahresbeginn bei zeitgleichem Anstieg des Stromverbrauchs (4,7 % über dem Vorjahreswert) sorgten hier für einen leichten Rückgang gegenüber 2020, als über das Gesamtjahr hinweg bereits ein Anteil von 45 % erreicht wurde. Aktuell also ist es um den EE-Anteil in Deutschland gut bestellt.
Doch der Ausbau der Erneuerbaren stockt. 2020 wurden Windenergieanlagen mit einer Kapazität von 1,4 GW errichtet, von denen circa 24 % auf den Ersatz von Altanlagen entfallen (Repowering). Zwar stellt dies eine Steigerung um fast die Hälfte gegenüber dem Vorjahr dar, in der Langfristperspektive aber ist es der zweitniedrigste Wert seit 2000. Nichtsdestotrotz plant das Bundesumweltministerium, das Ausbauziel für 2030 von 71 GW auf 95 GW anzuheben – das entspräche einer jährlichen Zubaurate von 4 GW. Besser lief der Ausbau der Photovoltaik auf jetzt knapp 4,9 GW – ein Plus von 22 % gegenüber dem Vorjahr.

In Summe wurden 2020 rund 10 TWh mehr Strom aus Erneuerbaren produziert als im Vorjahr – bei gleichbleibendem Stromverbrauch würde diese Steigerungsrate pro Jahr ausreichen, um das Ziel von 65 % EE-Anteil 2030 zu erreichen. Doch von einem gleichbleibenden oder gar sinkenden Verbrauch, wie von der Politik über Jahre angenommen, kann schon lange nicht mehr ausgegangen werden. Die Bundesregierung korrigierte daher im Juli ihre Prognosen dahingehend, dass der Strombedarf 2030 um rund 11 % (64 TWh) höher liegen wird, als ursprünglich geschätzt. Ein überfälliger Schritt: Eine Überarbeitung der Stromverbrauchsprognose war von McKinsey bereits in der ersten Index-Veröffentlichung 2012 angemahnt worden, da sich der Anstieg des Stromverbrauchs schon damals abzeichnete.
Der Anteil der Gesamtenergiekosten Haushalte am Gesamtwarenkorb der Verbraucher stieg zuletzt leicht von 9,6 % auf 9,8 %, verbleibt jedoch unterhalb der Zielmarke von 10,1 % (Abb. 2). Damit sinkt die Zielerreichung geringfügig von 110 % auf 107 %.

Der Indikator Verfügbare Kapazität für Import aus Nachbarländern liegt mit 209 % sehr deutlich im realistischen Bereich (Abb. 3).

Für den Indikator Ausfall Stromversorgung liegen noch keine neuen Daten vor. Nach derzeitigem Stand liegt er mit 12,2 Minuten pro Jahr bei einer Zielerreichung von 113 %.

Sechs Indikatoren realistisch, aber weiterhin auf der Kippe

CO2e-Ausstoß: Die Treibhausgasemissionen sanken um rund 70 Mio. t – eine Verbesserung von 8,7 % gegenüber dem Vorjahr. Das 2020-Ziel von 750 Mio. t wurde mit den inzwischen erreichten 739 Mio. t sogar übererfüllt. Dies entspricht einem Zielerreichungsgrad von 104 %. Zu einem guten Drittel ist der geringere CO2e-Ausstoß laut Bundesumweltamt auf den eingeschränkten Verkehr und Energieverbrauch während der Pandemie zurückzuführen. Die Emissionen im Luftverkehr sanken infolge wiederholter Reisewarnungen und Beförderungsverbote zeitweise massiv. Gleichwohl waren die Emissionen im Corona-Jahr höher als ursprünglich von Agora Energiewende geschätzt: Diese ging von lediglich 720 Mio. t aus. Dass der tatsächliche Wert nun deutlich darüber liegt, lässt auf einen „Rebound“-Effekt in der zweiten Jahreshälfte schließen, der sich durch die Entwicklung im ersten Quartal 2021 noch einmal bestätigt: Agora Energiewende zufolge sind die Emissionen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 2 % angestiegen. Durch die jüngst beschlossene Anhebung des Emissionsziels auf -65 % wird der Reduktionspfad bis 2030 noch steiler: Von nun an müssen pro Jahr 30 Mio. t CO2 eingespart werden. Dies wird zusätzliche einschneidende Maßnahmen erfordern, denn in den vergangenen zehn Jahren gingen die Emissionen im Schnitt lediglich um 20 Mio. t zurück.

Auch der Primärenergieverbrauch ist 2020 statt auf die zunächst geschätzten 11.691 PJ nur auf 11.784 PJ zurückgegangen. Die Zielerreichung liegt daher bei 90 %. Der gleichwohl immer noch gute Wert lässt sich ebenfalls auf die geringere wirtschaftliche Aktivität im Zuge der Pandemiebekämpfung zurückführen. Daher ist nach Abklingen der Corona-Effekte auch hier eine Verschlechterung der Verbrauchsbilanz zu erwarten.

Der EE-Anteil am Bruttoendenergieverbrauch stieg von 17 % im Vorjahr auf knapp 20 % im Jahr 2020 an, wodurch die Zielerreichung auf 125 % klettert. Haupttreiber ist neben dem insgesamt geringeren Bruttoendenergieverbrauch während der Pandemie vor allem der EE-Ausbau im Stromsektor.

Sektorkopplung Wärme: Bei der Sektorkopplung kommt Deutschland kaum voran. Der Anteil der Erneuerbaren am ⁠Endenergieverbrauch⁠ im Bereich Wärme und Kälte stieg 2020 gegenüber dem Vorjahr nur um 0,2 Prozentpunkte auf 15,2 %. Zwar wird das Ziel damit derzeit noch deutlich übererfüllt. Doch bleibt es beim bisherigen Tempo, wird Deutschland voraussichtlich schon ab kommendem Jahr hinter den geplanten Ausbaupfad zurückfallen.

Für die Arbeitsplätze in erneuerbaren Energien liegen keine neuen Daten vor, damit verharrt der Indikator in seiner Zielerreichung bei 96 %. Da die Daten immer eine gewisse Nachlaufzeit haben, bleibt abzuwarten, wie stark die Beschäftigungslage durch Pandemiefolgen und die wirtschaftlichen Schieflagen von EE-Unternehmen beeinflusst wird.

Ebenfalls unverändert bleibt die gesicherte Reservemarge bei einem Zielerreichungsgrad von 109 %. In den kommenden Jahren aber wird die gesicherte Kapazität aufgrund des geplanten Kohle- und Atomausstieges sukzessive schrumpfen. Mit den bereits eingeleiteten Verfahren zur Stilllegung von Steinkohlekraftwerken durch die Bundesnetzagentur ist der Ausstieg in vollem Gange: In der ersten Ausschreibungsrunde 2020 wurden insgesamt 11 Kraftwerke mit einer Kapazität von rund 4,8 GW zur Stilllegung vorgesehen. Anfang 2021 folgten weitere 1,4 GW. Zusammen mit weiteren geplanten Stilllegungen reduziert sich die Leistung fossiler Kraftwerke nach dem jüngsten Leistungsbericht der Übertragungsnetzbetreiber zwischen 2019 und 2022 von 95,2 GW auf 82,7 GW. Infolgedessen weisen die Betreiber für das Jahr 2022 erstmals eine negative verbleibende Leistung von -7,2 GW aus. Das entspricht einer negativen Reservemarge von -9 % – ein Novum in der jüngeren Geschichte der deutschen Stromversorgung: Zuletzt gab es ernsthafte Engpässe bei der Kraftwerkskapazität in den Wirtschaftswunderjahren. Zwar stünde zum Lastausgleich laut Leistungsbericht aktuell genügend Kapazität im Ausland zur Verfügung – die Frage ist allerdings, wie lange noch.

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