Der Dekarbonisierungsprozess erfordert die Erforschung von Strommarktdesigns für erneuerbare Energiesysteme

Der Dekarbonisierungsprozess erfordert die Erforschung von Strommarktdesigns für erneuerbare Energiesysteme (Quelle: Adobe Stock)

Während die ersten drei Gesetzespakete zur Regulierung des europäischen Strombinnenmarktes auf die Liberalisierung und Integration der monopolistisch geprägten, nationalen Märkte abzielten, stand die letzte Reform ganz im Zeichen der Dekarbonisierung. Das gilt auch für die weiteren anstehenden Neuregelungen.

Die Dekarbonisierung stellt neue Anforderungen an die europäischen Energiemärkte

In den letzten Jahrzehnten haben sich die europäischen Strom- und Gasmärkte fundamental verändert. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden die noch nationalen europäischen Strommärkte durch die europäische Energiegesetzgebung liberalisiert, indem vertikal integrierte Versorgungsunternehmen entflochten und Strom- und Gasabsatzmärkte für den Wettbewerb geöffnet wurden. Darüber hinaus begann die EU, Regeln und technische Standards der Strom- und Gasmärkte zu harmonisieren, um sie zu einem europäischen Energiebinnenmarkt zu integrieren. Oberstes Ziel dieser stark marktlich ausgerichteten Reformen war die Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz der Energiebereitstellung durch Stärkung wettbewerblicher Prinzipien. Insgesamt führten sie zu einem grundlegenden Wandel in der europäischen Energielandschaft von getrennten nationalen Strommärkten mit einigen wenigen großen Versorgungsunternehmen hin zu einem integrierten europäischen Markt mit einer Vielzahl von Wettbewerbern [1].

Noch während der Umsetzung dieser Reformen Anfang der 2000er Jahre ergab sich mit der Dekarbonisierung des Energiesystems neben der Effizienz ein weiteres Ziel der europäischen Energiepolitik mit schrittweise zunehmender Priorität und Ambition. Spätestens nach der Ankündigung des europäischen Green Deals durch die neu angetretene EU-Kommission im Jahr 2019 rückte die Dekarbonisierung schließlich in den Mittelpunkt der europäischen Wirtschaftspolitik, die nicht weniger als die Umwandlung Europas in den ersten klimaneutralen Kontinent der Welt im Jahr 2050 anstrebt. Ende Februar 2022 wurde die Dringlichkeit dieses Ziels gleich zweifach unterstrichen. Zum einen veröffentlichte der Weltklimarat (IPCC) den zweiten Teil seines 6. Sachstandsberichts, der erneut die Notwendigkeit effektiven Klimaschutzes hervorhob. Zum anderen gewann eine von fossilen Energieträgern unabhängige, europäische Energieversorgung mit dem Angriffskrieg der russischen Regierung auf die Ukraine an ganz neuer Bedeutung.

Szenarien für ein solches Energiesystem schätzen, dass bis 2050 rund 5.000 GW neue Stromerzeugungskapazitäten, primär in Form von Solar- und Windenergieanlagen zu installieren sind. Die Schätzungen der europaweit dafür notwendigen kumulierten Investitionen bis zum Jahr 2050 belaufen sich auf fast 10 Bio. € [2]. Auch wenn aufgrund des Ukraine-Kriegs aktuell kurzfristige Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit im Vordergrund stehen, ist mittelfristig angesichts dieses enormen Investitionsbedarfs weiterhin auch das Ziel der Effizienz zu gewährleisten. Dafür ist entscheidend, das europäische Strommarktdesign so zu gestalten, dass die Investitionen unter den Nebenbedingungen der Versorgungssicherheit und der Dekarbonisierung kostenoptimal realisiert werden.

Erneuerbare und fossile Erzeugungsquellen unterscheiden sich in wesentlichen Merkmalen

Im Zentrum des europäischen Strommarktdesigns steht der grenzüberschreitende Energy-Only-Markt innerhalb der meist nationalen Preiszonen, der durch verschiedene nationale Kapazitätsmechanismen sowie Förderung für erneuerbare Energien ergänzt wird. Zentrales Element sind dabei die Kurzfrist-Strommärkte (oder Spotmärkte), deren Preissignale das kurzfristig verfügbare Stromangebot und die Nachfrage kurz vor deren Realisierung widerspiegeln. Darüber hinaus bilden die Spotpreise die Grundlage für die Preisgestaltung langfristiger Lieferverträge (Forward- und Future-Preise).

Das Marktdesign der Spotmärkte ist auf Grundlage der Eigenschaften des fossilen Energiesystems der Vergangenheit entstanden, welches aus thermischen und daher planbar einsetzbaren (disponiblen) Großkraftwerken bestand, die hohe Fixkosten für ihre Installation, aber auch hohe brennstoffabhängige variable Betriebskosten aufweisen. Durch die Auktionen in den Kurzfrist-Märkten ergeben sich die Merit-Order-Angebotskurven, die bei einer unelastischen Nachfrage zu einem kosteneffizienten Einsatz und Deckung der variablen Kosten der Kraftwerke führen, während die Fixkosten durch die marginale Preissetzung und den daraus entstehenden Renten für inframarginale Kraftwerke gedeckt werden. Die Planbarkeit ihres Einsatzes ermöglicht außerdem eine Vermarktung im Rahmen von langfristigen Verträgen. Da diese Großkraftwerke von einer eher kleinen Anzahl von Marktteilnehmern betrieben werden, konzentrierten sich die Diskussionen über das Marktdesign in der Vergangenheit hauptsächlich auf die Begrenzung der Marktmacht und die Stärkung des Wettbewerbs.

Das künftige CO2-neutrale Stromsystem wird auf einer Stromerzeugung mit anderen Merkmalen basieren als das fossile System der Vergangenheit. Der größte Teil der Energie wird von Solar- und Windkraftanlagen geliefert werden, die durch verschiedene Arten von Speichertechnologien und disponiblen Kraftwerken, wahrscheinlich auf der Basis von Wasserstoff, ergänzt werden. Erneuerbare Energien unterscheiden sich in zwei wesentlichen Aspekten von fossiler thermischer Energie: Erstens verursachen sie hauptsächlich fixe Kapitalkosten, d.h. nahezu keine variablen Kosten, und zweitens ist ihre verfügbare Kapazität zu einem bestimmten Zeitpunkt abhängig von aktuellen lokalen Wetterverhältnissen. Ihre Dispatch-Möglichkeiten werden also nicht durch den Produzenten, sondern zufällig durch das Wetter bestimmt und sind insbesondere langfristig kaum prognostizierbar. Die Kurzfristmärkte gewinnen in einer stark von Erneuerbaren dominierten Welt daher zum Ausgleich von Prognosefehlern an Bedeutung. Aufgrund ihrer niedrigen marginalen Kosten ist ein Verkauf von Erneuerbaren in diesen Märkten immer wirtschaftlich, solange die Einnahmen am Strommarkt nicht negativ sind.

Aus Sicht des Gesamtsystems führt die Installation der Erneuerbaren zusätzlich zu Integrationskosten durch den Netzausbau und -betrieb, da die aktuelle Netzstruktur auf die fossilen Kraftwerke ausgelegt ist, die sich historisch vor allem nah an industriellen Verbrauchsschwerpunkten angesiedelt haben.

Bestandsaufnahme: Marktdesign für erneuerbare und disponible Leistung

Sowohl das Erzeugungspotential als auch die Kosten für die Systemintegration erneuerbarer Energien hängen im Wesentlichen von deren Standort und Technologie inklusive der Konfiguration der Anlagen (z. B. Ausrichtung der PV-Paneele oder Schwachwindanlagen) ab. Ein optimales Marktdesign für Investitionen in erneuerbare Energien sollte daher auf diese Entscheidungsparameter abzielen.

Gegenwärtig wird der größte Teil der Einnahmen aus der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen durch technologiespezifische nationale Förderregelungen erzielt, die feste Zahlungen pro erzeugter Energieeinheit garantieren. Frühe Förderungen basierten in erster Linie auf administrativ festgelegten festen Einspeisetarifen, die vor allem Anreize für den Bau von Kraftwerken an Standorten setzten, an denen möglichst viel Energie innerhalb der nationalen Grenzen erzeugt werden kann, für die die Förderregelung relevant ist. In den letzten Jahren gingen viele Länder zum einen dazu über, die Einspeisevergütung im Rahmen von Ausschreibungsverfahren zu bestimmen. Zum anderen wurden Elemente zur Beanreizung der Marktdienlichkeit der Erneuerbaren wie Marktprämien eingeführt [3].

Die jüngste Reform des europäischen Strommarktes, das Clean Energy Package, zielte ebenfalls darauf ab, erneuerbare Energien in die Großhandelsmärkte zu integrieren, indem u. a. deren Gate Closure Times oder Produktgrößen verringert wurden. Da zum einen in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Einspeisevergütung zuletzt gesunken ist und zum anderen die Förderung erster erneuerbarer Anlagen ausläuft, gewinnen zudem langfristige Stromabnahmeverträge zwischen Erzeugern und Großkunden auf Basis fester Preise oder Preiskorridore (Power Purchasing Agreements, kurz PPAs) an Bedeutung. Dabei stellten PPAs ursprünglich eher ein Mittel zur Preissicherung für die Produzenten dar und wurden nachfrageseitig verstärkt aus ökologischen Gesichtspunkten abgeschlossen. Nach dem seit Herbst 2021 zu beobachtenden Anstieg der Strompreise wird der Abschluss von PPAs für Kunden jedoch auch aus wirtschaftlicher Sicht zunehmend interessanter.

Während aktuelle, von fossilen Kraftwerken geprägte Marktentwicklungen sich also positiv auf die Wirtschaftlichkeit von Erneuerbaren niederschlagen, wirft ein Blick in die weitere Zukunft die Frage auf, ob die Erneuerbaren langfristig ohne Förderung wirtschaftlich sein werden. Aufgrund ihrer Grenzkosten nahe null und den oben beschriebenen Anreizen der Förderregime wird üblicherweise angenommen, dass sie ihre Erzeugung am Spotmarkt zu Preisen nahe null anbieten, was die Marktpreise in Stunden mit hoher Marktdurchdringung nach unten drückt (Merit-Order-Effekt). Im Ergebnis wird ihr spezifischer Ertrag gegenüber dem durchschnittlichen Marktpreis gesenkt (Kannibalisierungs-Effekt). In einem vollständig dekarbonisierten Energiesystem mit einem hohen Anteil fluktuierender erneuerbarer Erzeugung könnten diese Effekte noch verstärkt werden [4], [5].

Eine Schlüsselrolle kommt hier jedoch verschiebbaren Lasten wie Speichern, Elektrolyseuren oder großen Industriekunden zu. Denn diese profitieren wiederum von den sich ergebenden Arbitragemöglichkeiten. Wenn sie in einer ausreichenden Anzahl von Stunden preisbestimmend werden, können solche verschiebbaren Lasten die Preise erhöhen und die Preisvolatilität glätten, was zu einer höheren Rentabilität der erneuerbaren Energien führt. Es kommt damit zu einem „umgekehrten Merit-Order-Effekt“, der die preisdämpfenden Effekte Erneuerbarer teilweise wieder kompensiert. Im Gleichgewicht sollten die Preise allerdings nicht vollständig geglättet werden, damit ausreichende Arbitragemöglichkeiten für die erforderlichen Flexibilitäten bestehen bleiben. Zudem ist zu bedenken, dass erneuerbare Energien, sobald sie nicht mehr gefördert werden und sich ausschließlich über den Markt finanzieren, in ihren Gebotsstrategien von der Abgabe von Nullpreisgeboten und der Nutzung ihrer vollen verfügbaren Kapazität abweichen könnten [6]. Solch ein Verhalten würde die sich ergebenden Preisdynamiken zusätzlich beeinflussen.

Sicher ist jedoch: der Strommarkt wird wetterabhängiger und damit in der mittleren und längeren Frist volatiler und schwerer prognostizierbar werden. Daher drängt sich neben der Beanreizung von Investitionen in erneuerbare Energien die Frage auf, ob das aktuelle Strommarktdesign hinreichend Anreize für Investitionen in sichere Versorgungskapazitäten, wie Wasserstoff oder Großspeicher, setzt. Schließlich ist es möglich, dass deren Einsatzstunden und Einnahmen von Jahr zu Jahr je nach Wetter stark variieren und Peakpreise großen Schwankungen unterliegen werden.

Auch wenn Kapazitätsmechanismen im europäischen Binnenmarkt nur nach Prüfung durch die EU-Kommision und als „measure of last resort“ implementiert werden dürfen, existieren in einigen europäischen Ländern verschiedene Mechanismen zur Finanzierung sicherer Versorgungsleistung. So werden in Deutschland mit der Netz- und Kapazitätsreserve nach §13b und f des Energiewirtschaftsgesetzes bereits Kraftwerke außerhalb des Großhandels nach Bedarf der Übertragungsnetzbetreiber finanziert, um die Systemstabilität zu garantieren. Auch in Belgien, Schweden und Finnland wurden solche strategischen Reserven eingeführt. Andere Länder wie Großbritannien und Italien hingegen führen zentrale Kapazitätsauktionen durch. Frankreich setzt auf einen dezentralen Kapazitätsmarkt, indem Stromvertriebe, die im französischen Markt agieren, verpflichtet werden, einen Teil ihrer zeitgleichen Jahreshöchstlast als Leistung zu kontrahieren [7].

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