Abbildung zum Thema: Konfliktfeld Klimaneutralität

In der politischen Debatte hat das Ziel der „Klimaneutralität“ seit der Verabschiedung des Paris-Abkommens und insbesondere nach der Veröffentlichung des IPCC-Sonderberichtes zu einer Erwärmung von 1,5 Grad viel Aufmerksamkeit erfahren (Bildquelle: Adobe Stock)

Seit 1990 hat die EU ihre Treibhausgas-Emissionen um 23 % gesenkt. Damit liegt sie im Vergleich der westlichen Industriestaaten weit vorne. Auch das im Rahmen des Paris-Abkommens für 2030 eingereichte EU-Reduktionsziel von mindestens 40 % ist vergleichsweise ambitioniert. 2018 wurden mehrere einschlägige Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen – für den EU-weiten Emissionshandel (ETS-Richtlinie), für die mitgliedstaatlichen Ziele bei nicht vom ETS abgedeckten Sektoren wie Verkehr, Gebäude und Landwirtschaft (Lastenteilungs-Verordnung) und für die Neuregelung bei Emissionen aus Landnutzung und Forstwirtschaft (LULUCF-Verordnung).

Angesichts dieser Schritte ist es sehr wahrscheinlich, dass das EU-Klimaziel 2030 erreicht wird. Sollten auch die nur bedingt verbindlichen Ziele bei der Verbesserung der Energieeffizienz und beim Anteil der erneuerbaren Energien verwirklicht werden, ließe sich nach Berechnungen der Europäischen Kommission bis 2030 sogar eine Reduktion von etwa 45 % schaffen [1].

Globaler Kontext

Die EU hat sich 2015 in Paris verpflichtet, bis 2020 eine langfristige Emissionsminderungsstrategie vorzulegen. Zugleich besteht die Erwartung, dass die EU das im Paris-Abkommen angelegte Versprechen mit Leben erfüllt, die nationalen Beiträge zum globalen Klimaschutz (Nationally Determined Contributions, NDC) sukzessive zu erhöhen. Nur so kann die Hoffnung aufrechterhalten werden, dass sich die Welt von ihrem derzeitigen Kurs auf einen Temperaturanstieg von 3 bis 3,5 Grad Celsius (°C) bis zum Jahr 2100 in Richtung des in Paris vereinbarten Zielkorridors von 1,5 bis 2 °C bewegt. Folgt man dem 2018 erschienenen 1,5-Grad-Sonderbericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC SR1.5), so müssen die weltweiten Emissionen in den kommenden Jahrzehnten rechnerisch auf null sinken [2].

Dabei würden Restemissionen, die sich nicht oder nur sehr schwer eliminieren lassen (etwa aus der Landwirtschaft, der Stahl- und Zementindustrie oder dem Luftverkehr) durch „negative Emissionen“ ausgeglichen, sei es mit biologischen oder mit technischen Methoden [3]. Betrachtet man nur die Emissionen von Kohlendioxid (CO2), so müssten diese weltweit bis 2050 auf „Netto-Null“ reduziert werden. Für die wesentlich anspruchsvollere Senkung aller Treibhausgase (THG) auf Netto-Null gibt der IPCC SR1.5 das Zieljahr 2067 an (siehe Tab.). Dies erklärt sich dadurch, dass Methan- und Lachgasemissionen aus der Landwirtschaft nicht eliminiert werden können, sondern durch negative Emissionen ausbalanciert werden müssen, was aufgrund der sehr hohen Volumina mehr Zeit in Anspruch nehmen wird.

In der politischen Debatte hat das Ziel der „Klimaneutralität“ seit der Verabschiedung des Paris-Abkommens und insbesondere nach der Veröffentlichung des IPCC SR1.5 viel Aufmerksamkeit erfahren. Zivilgesellschaftliche Akteure wie z.B. Fridays fot Future und Umweltverbände fordern seitdem öffentlichkeitswirksam Klimaneutralitätsziele. Einige Staaten, Unternehmen und öffentliche Institutionen haben sich zuletzt bereits derartige Neutralitätsziele gesetzt. Häufig bleibt dabei jedoch im Unklaren, wofür Klimaneutralität genau steht und welche Annahmen den entsprechenden Zielformulierungen jeweils zugrundeliegen. Nicht nur der Unterschied zwischen Treibhausgas- bzw. CO2-Neutralität spielt hier eine Rolle. Auch die Frage, inwieweit Zertifikate für Emissionseinsparungen aus anderen Ländern oder Sektoren angerechnet werden können, wird unterschiedlich oder gar nicht beantwortet. Zudem bleibt häufig unklar, in welchem Umfang negative Emissionen nötig sein werden, um verbleibende fossile Restemissionen auszugleichen.

Eröffnet wurde die europäische Debatte Ende 2018, mit einem Entwurf der Juncker-Kommission für eine langfristige Klimastrategie [4]. Darin schlägt sie vor, das europäische Treibhausgas(THG)-Reduktionsziel 2050 von derzeit 80-95 % auf netto 100 % zu erhöhen, also „treibhausgasneutral“ bzw. „klimaneutral“ zu werden. Die Kommission achtete hier in dreifacher Weise darauf, politische Widerstände zu minimieren. Anders als bei den 2011 vorgelegten klima- und energiepolitischen „Roadmaps“ für das Jahr 2050, die Polen durch ein Veto blockierte, werden die Mitgliedstaaten nicht formell über die Mitteilung der Kommission abstimmen. Das Kommissionsdokument gilt nur als Strategie-Entwurf, auf dessen Basis der Rat der EU seine eigenen Vorstellungen entwickeln und schließlich an die Vereinten Nationen (VN) melden soll.

Ferner spricht sich die Kommission zwar für ein „Nullemissionsziel“ 2050 aus, erklärt aber auch den derzeit gültigen Zielkorridor von 80-95 % für Paris-kompatibel. Nach Auffassung der Kommission entspricht das bisherige Ziel einem fairen Beitrag der EU, um den oberen Rand des globalen Zielkorridors von 1,5–2 °C zu erreichen, während das vorgeschlagene Nullemissionsziel bis 2050 den unteren Rand anvisiert (siehe Tabelle). Zudem vermeidet es der Vorschlag der Juncker-Kommission, aus der Präferenz für eine Netto-Reduktion von 100 % bis 2050 den naheliegenden Schluss abzuleiten, dass dann auch das EU-Klimaziel für 2030 verschärft werden müsste.

Tab.: Paris-kompatible Zieljahre für das Erreichen von netto Null-Emissionen

 

nur CO2
(global, IPCC SR 1.51))

alle THG
(global, IPCC SR 1.51))

alle THG
(EU, Kommission2))

1,5 °C

2050

2067

2050

2 °C

2070 - 2085

nach 2100

etwa 20603)

1) IPCC, Special Report "Global Warming" of 1.5 °C", Tabelle 2.4
2) European Commission, "In-Depth Analysis in Support of the Commission Communication COM(2018) 773"
3) Wert basiert auf Fortschreibung des Emissionsminderungspfads von 80-95 % bis 2050

Europäischer Rat als Weichensteller

Auch wenn das Europäische Parlament (EP) schon Anfang 2018 ein Nullemissionsziel für 2050 gefordert hat, bleiben die Abgeordneten bei der nun anstehenden Grundsatzentscheidung erst einmal außen vor. Weitreichende strategische Weichenstellungen wie jene über ein EU-Klimaziel werden im Europäischen Rat vorgenommen, im Konsens der Staats- und Regierungschefs. Auch über das bei den VN einzureichende Strategiedokument entscheiden allein die Mitgliedstaaten. Erst bei Gesetzgebungsverfahren zur Anpassung der klimapolitisch zentralen Richtlinien und Verordnungen bis 2030 kommt das EP ins Spiel, und zwar als gleichberechtigter Ko-Gesetzgeber. Im Rat der EU würden die Mitgliedstaaten zudem nicht im Konsens, sondern mit qualifizierter Mehrheit entscheiden.

Beim Treffen des Europäischen Rats im Juni 2019 ist ein Konsens vor allem am Widerstand von Polen, Tschechien und Ungarn gescheitert. Sie fordern unter anderem mehr Zeit für eingehende nationale Wirkungsanalysen und drängen auf politische Zugeständnisse seitens der EU bzw. der klimapolitisch progressiveren Mitgliedstaaten. Allerdings haben sich im Juni bereits die allermeisten Regierungen explizit hinter den Vorschlag der Kommission gestellt, und in einigen Mitgliedstaaten – etwa Schweden, Großbritannien und Frankreich – sind bereits nationale Nullemissionsziele für spätestens 2050 verabschiedet worden. Insofern ist davon auszugehen, dass der Europäische Rat bei einem seiner regulären Gipfel Ende 2019 oder Anfang 2020 zu einer Einigung kommen wird. Dafür spricht auch, dass sich in Paris alle EU-Staaten zu dem Ziel bekannten, „in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts“ netto Nullemissionen zu erreichen.

Elemente des Verhandlungspakets

Der Europäische Rat muss im Kern nur ein neues Langfrist-Klimaziel beschließen. Die Ausarbeitung und Verabschiedung der 2020 an die VN zu meldenden Strategie bleibt dem Rat der Umweltminister überlassen. Für die dabei entstehenden Dokumente gibt es kein vorgegebenes Format. Den Mitgliedstaaten eröffnen sich so Spielräume, um politische Schwerpunkte zu setzen und bei vorläufig unüberwindbaren Dissenspunkten bewusste Auslassungen vorzunehmen. Politisch weitaus gewichtiger ist der Prozess im Europäischen Rat. Dort wird es nicht nur darauf ankommen, für welches konkrete Zieljahr sich die Staats- und Regierungschefs entscheiden, sondern auch, was sie ergänzend zur künftigen Umsetzung festlegen.

Im Zentrum werden zwei Grundsatzfragen stehen. Welches Maß an Differenzierung zwischen Mitgliedstaaten ist langfristig noch möglich und vertretbar (Konvergenz)? Wie verhalten sich politisch attraktive und klimawissenschaftlich gebotene Langfristziele zur immer noch wenig ausgeprägten Bereitschaft, kurz- bis mittelfristig auch entsprechende Maßnahmen umzusetzen (Konsistenz)?

Zieljahr

Nach dem Verlauf der bisherigen Debatte scheint eine Einigung auf ein Nullemissionsziel für 2050 naheliegend. Ein späteres Zieljahr oder ein Zielkorridor (etwa 2050–2060) ist von Polen und seinen Verbündeten noch nicht ins Spiel gebracht worden, obgleich 2055 oder 2060 laut Kommission noch als „Paris-kompatibel“ gelten könnte. Dieser Einschätzung wird von Umweltverbänden energisch widersprochen; sie fordern meist ein Zieljahr 2040. Dass die EU aufgrund ihrer historischen Verantwortung und ihrer ökonomischen Kapazitäten den Status der THG-Neutralität früher erreichen muss als der globale Durchschnitt, ist unter den klimapolitischen Akteuren in Europa unbestritten.

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