Weitere Elemente und die Folgen für die deutsche Klimapolitik

Optionen der Differenzierung

Als Mindestvoraussetzung für ihre Zustimmung zu einem Netto-Nullemissionsziel fordern Polen, Tschechien und Ungarn bereits jetzt finanzielle Unterstützung. Eine enge Verknüpfung der Entscheidung über die Langfrist-Klimastrategie mit den laufenden Verhandlungen über den kommenden Mehrjährigen Finanzrahmen der EU (2021-2027) dürfte den Beschluss über ein neues Klimaziel weiter verzögern, rechnet doch niemand mit einem Abschluss der Haushaltsverhandlungen vor Anfang 2020.

Die osteuropäischen Staaten könnten unabhängig davon auch versuchen, die bislang gültige Differenzierung der nationalen Ziele jenseits des Emissionshandels bis zur Mitte des Jahrhunderts weiter aufrecht zu erhalten, wie von Polen bereits angedeutet. Dies würde bedeuten, dass die EU als Ganzes zwar „Netto Null“ bis 2050 anstrebt, die osteuropäischen Staaten zu diesem Zeitpunkt aber noch „über Null“ lägen. Ihre höheren Emissionsniveaus könnten dadurch ausgeglichen werden, dass Vorreiterstaaten aus Nord- und Westeuropa 2050 bereits eine „netto negative“ Bilanz aufweisen, der Atmosphäre also mehr CO2 entziehen als zuführen.

Technologisch ist dies durchaus denkbar, politisch in den betroffenen Ländern aber nur schwer vermittelbar, denn es würde nicht nur bedeuten, dass Nord- und Westeuropa nach wie vor „mehr“ in den Klimaschutz investiert, sondern in der breiten Öffentlichkeit der alten EU-Staaten wohl so wahrgenommen werden, dass man die Mehremissionen Osteuropas durch eigene Negativemissionen ausgleichen muss. Eine anhaltende Differenzierung würde in Nord- und Westeuropa nicht nur massive Aufforstungsmaßnahmen erfordern, sondern auch den Einsatz spezifischer Negativemissions-Technologien. Dazu zählen etwa die Direktabscheidung von CO2 aus der Umgebungsluft samt anschließender unterirdischer Speicherung oder die energetische Verwertung von Biomasse mit Abscheidung und Speicherung des CO2.

Eine weitere Möglichkeit der Differenzierung liegt in der Nutzung von Flexibilitätsmechanismen innerhalb Europas [5]. In den 2018 verabschiedeten EU-Rechtsakten wurde festgelegt, dass ab 2021 erstmals nationale Verpflichtungen jenseits des ETS in begrenztem Umfang durch „negative Emissionen“ ausgeglichen werden können. Diese Möglichkeit ergibt sich aus einer Flexibilität zwischen der – mit der LULUCF-Verordnung neu geschaffenen – dritten Säule der EU-Klimapolitik und der Verordnung zur Lastenteilung. Sie erlaubt den Mitgliedstaaten, primär in der Forstwirtschaft generierte „Nettoabbaueinheiten“ zur Erreichung der nationalen Ziele jenseits der ETS einzusetzen [6].

Die mittel- und osteuropäischen Staaten, die sich im Laufe der Verhandlungen zur LULUCF-Verordnung für die neue Flexibilität stark machten, werden in Zukunft darauf drängen, diese Verrechnungsmöglichkeiten auszubauen. Verbündete könnten sie in Ländern finden, deren Emissionsprofil stark von der Landwirtschaft (etwa Irland) oder der Forstwirtschaft (etwa Finnland) geprägt ist.

Klimaziel 2030 und Nationally Determind Contributions (NDC)

Auch wenn es in der Debatte um ein EU-Nullemissionsziel 2050 bislang nur am Rande um die Auswirkungen auf das 2030-Ziel geht, sind beide Entscheidungen prozedural und zeitlich eng miteinander verknüpft. Es ist zwar nicht zwingend, die Anstrengungen bis 2030 zu verstärken. Bleibt dies aus, würde jedoch die klimapolitische Glaubwürdigkeit der EU beschädigt.

Erstens ist eine Reduktion um 40 % bis 2030 nicht mit dem Ziel der Treibhausgas-Neutralität bis 2050 vereinbar. Dazu müssten die Ambitionen nach 2030 enorm gesteigert werden, was kaum machbar erscheint. Zweitens sieht das Pariser Abkommen vor, dass die Vertragsstaaten neun Monate vor dem 26. VN-Klimagipfel (COP26) im Dezember 2020 ihre NDCs für 2030 einreichen oder aktualisieren. Da die EU immer als entschiedene Befürworterin einer stetigen Ambitionssteigerung unter dem Pariser Abkommen aufgetreten ist, wird von ihr ein substantieller Beitrag erwartet.

Die Option, die von der Kommission errechnete „De facto“-Reduktion von 45 % bis 2030 ins Zentrum des NDC der EU zu stellen, wäre wenig überzeugend und könnte das Paris-Abkommen insgesamt schwächen. Nicht zuletzt deshalb fordern auch Mitgliedstaaten wie Frankreich, Schweden und die Benelux-Länder eine Verschärfung des 2030-Ziels auf 55%. Die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den klimapolitisch progressiven EP-Fraktionen im Vorfeld ihrer Wahl eine Initiative zugesagt, um das Ziel auf mindestens 50 % anzuheben. Da dem „European Green Deal“ in der Aufstellung der neuen Kommission eine zentrale Rolle zukommt, dürfte diese sehr viel politisches Kapital in das Vorhaben einer Zielverschärfung investieren. Es ist aber fraglich, ob ein deutlich ehrgeizigeres Ziel im Kreis der Staats- und Regierungschefs konsensfähig ist oder ob im Rat der EU dafür eine qualifizierte Mehrheit erreicht werden kann.

Drittens kommt eine wenig beachtete Dimension des Brexit zum Tragen, wenn mit Großbritannien der zweitgrößte Emittent austritt, dessen Reduktionen bislang weit über EU-Durchschnitt liegen, mit einem rechtlich verbindlichen nationalen Klimaziel von ca. 57 % bis 2030 [7]. Zwar bestünde theoretisch die Möglichkeit, dass Großbritannien auch nach einem Austritt noch bis 2030 Teil des NDC der EU bleibt. Doch die neue britische Regierung unter Boris Johnson hat bereits angekündigt, Anfang 2020 einen eigenständigen NDC einreichen zu wollen, wohl nicht zuletzt, um als COP26-Gastgeber die klimapolitische Vorreiterrolle des Vereinigten Königreichs symbolisch zu untermauern. Die EU-27 käme auf Basis der heute rechtsverbindlichen Teilziele im Rahmen des ETS, der Lastenteilungs- und der LULUCF-Verordnung dann nur noch auf eine Minderung von etwa 37 % bis 2030, es sei denn, die Regierungen der verbleibenden Staaten würden sich zu einer Ambitionssteigerung bereit erklären.

Folgen für die deutsche Klimapolitik

In der zuletzt intensiv geführten deutschen klimapolitischen Debatte stehen eine erweiterte CO2-Bepreisung und sektorale Minderungsziele im Fokus. Das Projekt eines nationalen Klimaschutzgesetzes, in dessen Wirksamkeit Beobachter zu Beginn der Legislaturperiode große Hoffnungen setzten [8], wird zwar weiterhin verfolgt, hat seine zentrale Stellung in der klimapolitischen Debatte inzwischen jedoch verloren. Durchaus bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass die direkten und indirekten Auswirkungen des parallel laufenden EU-Prozesses bisher weitestgehend unberücksichtigt bleiben.

Für die Bundesregierung wird es den kommenden Monaten darauf ankommen, die möglichen Folgen neuer EU-Ziele zu antizipieren und in die deutsche Verhandlungsstrategie auf EU-Ebene einzubeziehen – sowohl bei den Grundsatzentscheidungen des Europäischen Rats als auch bei den anschließenden Legislativverfahren. Relevant ist dies auch vor dem Hintergrund der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020, in deren Rahmen der Gestaltungsspielraum der Bundesregierung deutlich anwächst. Das Vermeiden einer konzeptionellen Lücke zwischen den Emissionsminderungszielen für 2030 und 2050 dürfte dabei im Interesse der Bundesregierung liegen, da sie im Rahmen der Ratspräsidentschaft die EU-Staaten bei den wichtigen internationalen Klimaverhandlungen repräsentieren wird – sowohl bei der COP26 als auch in deren Vorfeld.

Mit Blick auf den langfristigen Zeithorizont muss die Bundesregierung zunächst klären, ob sie zugunsten eines innereuropäischen Kompromisses bereit wäre, auch unter einem EU-Nullemissionsziel Klimaschutz-Vorreiter zu bleiben, also für 2050 national eine „netto negative“ Emissionsbilanz anzustreben. Dies würde schon heute umfassende technologiepolitische Weichenstellungen erfordern, die über die im Regierungsentwurf zum Bundesklimaschutzgesetz genannten „natürlichen Kohlenstoffsenken“ hinausgehen.

Im mittelfristigen Zeithorizont geht es vor allem um die Folgen eines verschärften EU-2030-Ziels, zu dem auch Deutschland seinen Beitrag leisten müsste. Dies ergäbe sich nicht nur aus einem höheren jährlichen Reduktionsfaktor der Emissionsmenge im ETS. Auch bei den nationalen Zielen unter der Lastenteilungsverordnung wird ein Kompromiss nur dann möglich sein, wenn Deutschland eine Verschärfung seines Ziels akzeptiert.

Dies gilt ungeachtet dessen, dass der aktuelle Finanzplan der Bundesregierung bereits jetzt Strafzahlungen für eine prognostizierte Zielverfehlung bis 2020 einkalkuliert und der Projektionsbericht des Bundesumweltministeriums davon ausgeht, die Lücke zwischen nationalen Emissionsminderungen und europäischen Verpflichtungen werde bis 2030 weiter anwachsen. Ein Beschluss zugunsten noch ambitionierterer Klimaziele wird nur dann glaubwürdig sein, wenn sich dies auch in entsprechend ehrgeizigen Maßnahmen widerspiegelt.

Literatur/Anmerkungen

[1] Europäische Kommission: Vereint für Energieunion und Klimaschutz – die Grundlage für eine erfolgreiche Energiewende schaffen, COM(2019) 285 final.

[2] Intergovernmental Panel on Climate Change: Global Warming of 1.5 °C. Geneva, 2018.

[3] Geden, O.; Peters G.; Scott V.: Targeting carbon dioxide removal in the European Union. Climate Policy, 19 (2019), S. 487-494.

[4] Europäische Kommission: Ein sauberer Planet für alle: Eine Europäische strategische, langfristige Vision für eine wohlhabende, moderne, wettbewerbsfähige und klimaneutrale Wirtschaft, COM(2018) 773 final.

[5] Nach der noch ausstehenden Einigung über Marktmechanismen im Rahmen des Pariser Klimaabkommens dürfte auch die Diskussion über die Nutzung internationaler Offsets wieder an Fahrt gewinnen. Siehe Honegger, M.; Reiner, D.: The political economy of negative emissions technologies: consequences for international policy design. Climate Policy, 18 (2018), S. 306-321.

[6] Nach LULUCF-Verordnung (2018/841), Art. 12 (3) und Lastenteilungs-Verordnung (2018/842), Art. 7.

[7] UK Government: The Carbon Budget Order 2016, UK Statutory Instruments No. 785,

[8] Schenuit, F.; Geden, O.; Ein deutsches Klimaschutzgesetz nach britischem Vorbild: Voraussetzungen einer Realisierung. Energiewirtschaftliche Tagesfragen 68. Jg. (2018), Heft 10, S. 16-18.

Dr. Oliver Geden, Forschungsgruppenleiter, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin; Felix Schenuit, Doktorand, Centrum für Globalisierung und Governance, Universität Hamburg

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