Leistungsbilanz-Prognose: Krisenreaktion der EU auf die Corona-Pandemie

Krisenreaktion der EU auf die Corona-Pandemie (Bildquelle: Klaus Stuttmann)

Die Übertragungsnetzbetreiber untersuchen jährlich, ob die Stabilität des deutschen Stromversorgungssystems für die nächsten Jahre auch in kritischen Situationen gewährleistet werden kann. Im Bericht zur Leistungsbilanz 2018-2022 (Stand 18.02.2020) [1] wird für eine kritische Situation, in der die Einspeisungen aus Wind- und Photovoltaikanlagen ihren voraussichtlich geringsten und die zu deckende Last ihren voraussichtlich höchsten Wert annehmen, untersucht, ob mit den in Deutschland verfügbaren Stromerzeugungsanlagen die Last in Deutschland gedeckt werden kann. Dabei wird gleichzeitig eine hohe Nichtverfügbarkeit konventioneller Kraftwerkskapazitäten angenommen [2]. Als Referenzzeitpunkt des Berichts wurde daher ein Abend eines Winterwerktages gewählt [3].

Solche Situationen sind nicht etwa rein theoretisch, sondern vergleichbar bereits aufgetreten, so in der Kältephase im Januar 2017. Neben hoher Nichtverfügbarkeiten von Kern- und Steinkohlekraftwerken in Deutschland [4] waren zusätzlich französische Kernkraftwerke in hohem Maße nicht einsatzbereit. Diese Kältewelle betraf ganz Europa. Wegen der räumlichen Ausdehnung solcher Wetterverhältnisse wird das Potenzial überregionaler Ausgleichseffekte von den Übertragungsnetzbetreibern grundsätzlich als gering eingeschätzt [5].

Verbleibende Leistung im Januar 2021 noch positiv, im Januar 2022 negativ

Ergebnis der Untersuchung ist, dass die verbleibende Leistung [6] (mit Berücksichtigung der Reservekraftwerke) im Januar 2021 noch positiv (2,9 GW), im Januar 2022, auf Grund der Stilllegung von 4,1 GW Kernkraftwerksleistung, allerdings negativ (-1,5 GW) wäre. Deutschland kann demnach ab 2022 in kritischen Situationen die Sicherheit der Stromversorgung nicht mehr aus eigener Kraft gewährleisten, sondern wird von Importen aus dem Ausland abhängig sein.

Die errechnete Importabhängigkeit erhöht sich deutlich, wenn neben dem Kernenergieausstieg auch die Auswirkungen des geplanten Kohleausstiegs berücksichtigt werden. In einem zusätzlichen Szenario haben die Übertragungsnetzbetreiber dies erstmals untersucht: Im Januar 2021 ist die Abweichung gering. Die verbleibende Leistung beträgt dann 2,6 GW im Vergleich zu 2,9 GW im Szenario ohne Kohlausstieg, da lediglich ein Braunkohle-Kraftwerksblock mit ca. 0,3 GW Leistung außer Betrieb genommen wird. Zum Ende des Jahres 2021 gehen weitere 0,9 GW Braun- und ca. 5,3 GW Steinkohleleistung vom Netz, sodass im Januar 2022 die verbleibende Leistungsunterdeckung auf -7,2 GW gegenüber -1,5 GW aus dem ersten Szenario steigt [7]. Die Höhe der Versorgungslücke entspricht dabei in etwa den Kohlekapazitäten, die außer Betrieb genommen werden.

Da der Referenz- bzw. Stichtag der Untersuchung im Januar 2022 liegt, bleibt die Stilllegung weiterer 1,6 GW Braunkohlekraftwerksleistung unberücksichtigt, da diese zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr vorgesehen sind. Demzufolge sinkt die gesicherte Stromerzeugungsleistung im Laufe des Jahres 2022 noch weiter ab.

Noch liegt der Importbedarf damit unterhalb der maximalen Kapazität von 18,5 GW, für die es Übertragungsleitungen und Netzkopplungsstellen zum benachbarten Ausland gibt. Allerdings sollen zwischen 2023 und 2030 in Deutschland nochmals etwa 13 GW Kohlekraftwerksleistung vom Netz gehen.

Außerdem lassen die Übertragungsnetzbetreiber in ihrem Bericht offen, ob bei genügend Erzeugungsleistung das Stromnetz die Leistung zwischen Erzeugern und Verbrauchern auch übertragen kann und ob der ausländische Versorgungsbeitrag tatsächlich zur Verfügung steht. Zur vollständigen Bewertung der Versorgungssicherheit wäre eine solche Analyse laut der vier Übertragungsnetzbetreiber jedoch ebenfalls notwendig.

Risiko-Bewertung wäre wesentlich

Eine Risiko-Bewertung des (gesicherten) ausländischen Versorgungsbeitrags wäre, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Deutschland ab 2022 in kritischen Situationen von Stromimporten aus dem Ausland angewiesen sein dürfte, wesentlich.

Ob und in welcher Höhe die Nachbarländer Deutschland in einer kritischen Lage versorgen können, hängt nicht nur von der technischen Verfügbarkeit von Kraftwerksleistung ab. Es stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang andere Länder bereit sind, jederzeit (auch bei enger Versorgung im eigenen Land) Kapazitäten für den deutschen Strommarkt zur Verfügung zu stellen.

Dass diese Bereitschaft nicht selbstverständlich ist, zeigt die Krisenreaktion vieler EU-Staaten auf die Corona-Pandemie. Neben den Schließungen der Grenzen sind hier vor allem (die inzwischen aufgehobenen) Exportverbote ein warnendes Beispiel dafür, das in Krisensituationen nationale Bedürfnisse Vorrang haben vor dem europäischen Binnenmarkt.

Anmerkungen

[1] https://www.netztransparenz.de/portals/1/Bericht_zur_Leistungsbilanz_2019.pdf

[2] Bei Nichtverfügbarkeit können Kraftwerke, z.B. aufgrund von Revisionen, brennstoff- oder wetterabhängigen Nichtverfügbarkeiten, ungeplanten Ausfällen sowie Reservevorhaltungen für Systemdienstleistungen nicht zur Lastdeckung eingesetzt werden.

[3] Neben den beschriebenen Wetterbedingungen ist auch das Eintreten der Jahreshöchstlast an einem Winterwerktag wahrscheinlich. Im Jahr 2018 z.B. trat die Jahreshöchstlast am 28. Februar auf.

[4] Nichtverfügbarkeiten u.a. auf Grund verschobener Revisionen zum Austausch der Brennelemente wegen des Wegfalls der Kernbrennstoffsteuer und Transportproblemen bei Steinkohle u.a. aufgrund von Niedrigwasser in den Flüssen.

[5] Siehe auch „Europas Stromversorgung verliert sichere Basis“ in Energiewirtschaftliche Tagesfragen, 70. Jg. (2020), Heft 1/2, S. 40 f.

[6] Saldo aus der verfügbaren Leistung und der zu deckenden Last.

[7] Der kraftwerksscharfe Stilllegungspfad von Steinkohlekraftwerken ist gemäß Entwurf zum Kohleausstiegsgesetz vom 29.01.2020 zum Zeitpunkt der Berichtserstellung nicht vollständig absehbar, sodass für diesen Bericht Annahmen getroffen werden mussten. Laut Gesetz finden in den Jahren 2020 und 2021 in einem verkürzten Verfahren Ausschreibungen über 4 bzw. 1,5 GW Netto-Nennleistung zur Ermittlung stillzulegender Steinkohlekapazitäten statt. Mit Eintritt des Kohleverfeuerungsverbots wird die endgültige Stilllegung der Anlagen zum Stichzeitpunkt im Jahr 2022 angenommen.

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et-Redaktion

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