Frequenzabweichungen
Dies führte dazu, dass die Frequenz im nordwestlichen Netzteil abfiel, während sie im südöstlichen Teil sprunghaft anstieg: Um 14:05 Uhr fiel die Frequenz im nordwestlichen Netzteil zunächst auf 49,74 Hertz. Nach rund 15 Sekunden stabilisierte sich die Frequenz bei 49,84 Hertz – also innerhalb des zulässigen Bandes für Frequenzabweichungen (+/-0,2 Hertz). Gleichzeitig sprang die Frequenz im südöstlichen Netzteil auf 50,6 Hertz, bevor sie sich bei einem Wert zwischen 50,2 und 50,3 Hertz stabilisierte (Abb. 2).
Aufgrund der Unterfrequenz gingen im nordwestlichen Teilnetz vertraglich gesicherte Kapazitäten mit einer Leistung von 1,7 GW in Frankreich und Italien vom Netz. Die Betreiber dieser Anlagen der energieintensiven Industrie hatten im Vorfeld mit den zuständigen Übertragungsnetzbetreibern Verträge darüber abgeschlossen, dass ihre Anlagen bei einer bestimmten Unterfrequenz automatisch abschalten, um das Netz zu stützen. Zusätzlich wurden 420 MW Leistung aus dem skandinavischen (Nordic) und 60 MW aus dem britischen Synchrongebiet automatisiert eingespeist. Diese Maßnahmen sorgten dafür, dass die Frequenz um 14:09 Uhr nur noch rund 0,1 Hertz unter der normalen Frequenz von 50 Hertz lag und sukzessive weiter zurückgeführt wurde.
Gegenmaßnahmen
Aufgrund der erhöhten Frequenz wurden im südöstlichen Teil des Netzes automatische und manuelle Gegenmaßnahmen aktiviert, um den Leistungsüberschuss zu reduzieren. Unter anderem reduzierten Erzeugungsanlagen ihre Einspeisung – so ging ein Kraftwerk mit einer Leistung von 975 MW in der Türkei um 14:04:57 Uhr automatisch vom Netz. Folglich lag um 14:29 Uhr in diesem Teilnetz die Frequenz nur noch bei 50,2 Hertz und bewegte sich bis zur Resynchronisierung um 15:07 Uhr mit dem nordwestlichen Netzteil im Bereich zwischen 50,2 und 49,9 Hertz. Die anhaltenden Frequenzschwankungen zwischen 14:30 und 15:06 Uhr wurden verursacht, weil das abgetrennte südöstliche Teilnetz vergleichsweise klein war und einige Erzeugungsanlagen aufgrund der Überfrequenz nicht mehr am Netz waren (Abb. 3).
Die automatisierten Reaktionen und koordinierten Maßnahmen der kontinentaleuropäischen Übertragungsnetzbetreiber sorgten dafür, dass der Normalbetrieb im Netz wiederhergestellt werden konnte. Um 14:47 Uhr und 14:48 Uhr konnten die Industrieanlagen in Italien und Frankreich wieder ans Netz gehen. Um 15:07 Uhr synchronisierten die Netzbetreiber die beiden Teilnetze wieder.
Von der Netzabtrennung waren die Länder Griechenland, Nord-Mazedonien, Bulgarien, Serbien, Rumänien, Bosnien und Herzegowina sowie die Türkei und Kroatien betroffen. Im südöstlichen Netzteil erfolgte eine auf Teile Rumäniens beschränkte Abkopplung von Endverbrauchern mit einer Gesamtleistung von 225 MW. In Deutschland hatte die Maßnahme keine Auswirkungen. Hier lag der Stromverbrauch zum Zeitpunkt des Eintretens der Störung mit rund 62.000 MWh allerdings um knapp 2.000 MWh höher als die inländische Erzeugung, so dass Stromimporte aus den Nachbarländern notwendig waren. Über eine Inanspruchnahme von vertraglich vereinbarten Lastabwürfen bei industriellen Großverbrauchern in Deutschland wurde nichts bekannt. Da zu diesem Zeitpunkt nur 4,2 GW Windleistung und 0,5 GW Photovoltaikleistung in Deutschland verfügbar waren, wurde die Versorgungssicherheit durch regelbare konventionelle Kraftwerke (Kohle, Erdgas, Kernenergie) sichergestellt. Der Spotmarktpreis für Strom lag bei 95 €/MWh [2].
Die Übertragungsnetzbetreiber Amprion (Deutschland) und Swissgrid (Schweiz) sind verantwortlich für die Beobachtung und das Krisenmanagement bei Frequenzstörungen. Als „Frequenzkoordinatoren“ (Synchronous Area Monitor, SAM) für Europa informieren sie im Falle einer deutlichen Frequenzabweichung alle europäischen Übertragungsnetzbetreiber über das Warnsystem EAS und leiten die entsprechenden Prozesse ein. Sie koordinieren die Gegenmaßnahmen und stellen sicher, dass das System schnellstmöglich stabilisiert wird. Teil dieser Maßnahmen war am 08.01.2021 eine Telefonkonferenz zwischen den größten europäischen Netzbetreibern Amprion, Swissgrid, RTE (Frankreich), Terna (Italien) und REE (Spanien) um 14:09 Uhr. In dieser Konferenz erörterten die Teilnehmer den Zustand des Netzes und Maßnahmen, die bereits eingeleitet waren.
Durch die hohe Widerstandskraft des Verbundnetzes und die schnelle Reaktion der Netzbetreiber waren die Versorgungssicherheit und die Systemstabilität nach Aussage der Übertragungsnetzbetreiber nicht in Gefahr [3]. Einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Systems leisteten die Industrieanlagen in Italien und Frankreich, die entsprechend ihrer vertraglichen Verpflichtungen vom Netz gingen.
Genügend Momentanreserve- und Primärregelleistung im europäischen Stromnetz?
Der aktuelle Störfall wirft auch die Frage nach ausreichender Momentanreserve- und Primärregelleistung im europäischen Stromnetz auf. Durch die rotierenden Massen von Generatoren und Dampfturbinen besitzt das System eine gewisse Trägheit. Kurzfristig erzeugt dies – ohne gezielte Eingriffe – eine gewisse Stabilisierung der Frequenz. Primärregelung (auch Sekundenreserve genannt) muss spätestens eingreifen, wenn eine Frequenzabweichung von mindestens 0,02 Hertz auftritt.
Die Primärregelung erfordert keine überregionale Koordination, da in jedem Kraftwerk die Netzfrequenz gemessen und entsprechend darauf reagiert werden kann. Dies erfolgt bislang größtenteils in Großkraftwerken, teilweise auch in kleineren Wasserkraftwerken. Insgesamt werden im kontinentaleuropäischen Stromnetz mehrere Tausend Megawatt Regelleistung bereitgehalten. Technisch erfolgt die Primärregelung in einem Kraftwerk mit Dampfturbinen indem den Turbinen zeitweilig mehr oder weniger Dampf zugeführt wird. Hierfür kann der Dampferzeuger als Reservoir dienen, da eine Anpassung der Feuerungsleistung meist zu träge wäre. Bei einer laufenden Gasturbine wirkt sich eine Änderung der Brennstoffzufuhr innerhalb weniger Sekunden auf die produzierte Leistung aus, so dass auf diesem Wege geregelt werden kann.
Neubau von netzrelevanten Kraftwerken
Insbesondere die für die Momentanreserve sorgenden Trägheitseffekte großer Massen werden durch die Abschaltung großer Kraftwerksblöcke im Zuge des Ausstiegs aus der Kernenergie sowie der Kohle tendenziell knapper. Einen gewissen Ausgleich könnten der Bau und die Inbetriebnahme neuer Gasturbinenkraftwerke in Deutschland bringen. Zur Sicherstellung einer zuverlässigen Energieversorgung in Süddeutschland haben die Übertragungsnetzbetreiber in Südhessen, Bayern und Baden-Württemberg sog. Netzstabilitätsanlagen mit einer Leistung von je 300 MW ausgeschrieben, die im Jahr 2022 in Betrieb gehen sollen. Die Anlagen sollen vornehmlich die Netzstabilität im Süden bei fluktuierender Netzeinspeisung aus Wind- und PV-Anlagen sichern.
Es handelt sich um Gasturbinen-Anlagen, die auf schnelle Erreichung des Volllastbetriebs ausgelegt sind und bis zu 1.500 Vollbenutzungsstunden im Jahr aufweisen. Am 13.11.2020 erhielt RWE vom Übertragungsnetzbetreiber Amprion im Rahmen der Ausschreibung „besonderer netztechnischer Betriebsmittel“ den Zuschlag für den Bau und den Betrieb einer solchen Anlage am Standort Biblis in Nordrhein-Westfalen. Die Anlage wird eine gesicherte elektrische Leistung von 300 MW bereitstellen und soll bis Oktober 2022 den Betrieb aufnehmen. Weitere Anlagen errichten die LEAG im bayerischen Leipheim [4] sowie Uniper am Standort Irsching.
Warnsystem „European Awareness System“ (EAS)
Das synchron mit derselben Frequenz von 50 Hertz betriebene europäische Stromsystem ist eines der größten Stromsysteme der Welt – sowohl bezogen auf seine räumliche Ausdehnung als auch auf die Zahl der belieferten Verbraucher. Eine Auftrennung des Netzgebietes fand in Kontinentaleuropa zuletzt am 04.11.2006 statt. Als Reaktion darauf entstanden neue Sicherungssysteme wie das Warnsystem „European Awareness System“ (EAS) [5], das es den europäischen Übertragungsnetzbetreibern ermöglicht, sich gegenseitig über Beobachtungen und Vorfälle im Netzbetrieb zu informieren. Das EAS begrenzt die Auswirkungen von Netzstörungen und machte es am 08.01.2021 möglich, die beiden Teilnetze nach rund einer Stunde wieder zusammenzuführen.
Entsprechend Artikel 15 der EU-Regulierung 2017/1485 [6] wird bei einem Vorfall wie am 08.01.2021 eine Expertenkommission einberufen. Sie erstellt einen Bericht über die Vorkommnisse und leitet daraus – sofern notwendig – weitere Schritte ab, die dazu beitragen können, ein vergleichbares Ereignis in Zukunft zu vermeiden. Die Kommission besteht aus Fachleuten der Übertragungsnetzbetreiber sowie Experten der nationalen Regulierungsbehörden und der europäischen Regulierungsbehörde ACER.
Fazit
Die Versorgungssicherheit der Stromversorgung ist in Deutschland und Mitteleuropa davon abhängig, ob der Wind weht und die Sonne scheint, das Stromnetz hinreichend ausgebaut und robust ist, ausreichend regelbare Kraftwerksleistung verfügbar ist, die Netzbetriebsmittel im gesamten Verbundnetz funktionieren und die Mitarbeiter der Netzbetreiber bei Problemen die richtigen Maßnahmen ergreifen.
Quellen
[3] Vgl. Hans-Jürgen Brick, Vorsitzender der Geschäftsführung von Amprion, in der ZfK - Zeitschrift für kommunale Wirtschaft, Ausgabe 2, Februar 2021, S. 8.
[4] https://www.leag.de/de/news/details/leag-investiert-in-gaskraftwerk-leipheim/
[5] Janicek, F.; Jedinak, M.; Sulc, I.: Awareness System implemented in the European Network. In: Journal of Electrical Engineering, Vol. 65, Nr. 5, 2014, S. 320-324.
[6] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32017R1485&from=LT
„et”-Redaktion