Prüfpunkt Versorgungssicherheit

Abb 2 Entwicklung der Stromerzeugung in Deutschland nach Energieträgern 1991-2021 in Mrd. kWh

Abb 2 Entwicklung der Stromerzeugung in Deutschland nach Energieträgern 1991-2021 in Mrd. kWh (Quelle: BDEW – Stand 12/21)

Abb. 3 Stromgroßhandelspreise Deutschland/Luxemburg 07.02.-04.04.2022 in €/MWh

Abb. 3 Stromgroßhandelspreise Deutschland/Luxemburg 07.02.-04.04.2022 in €/MWh (Quelle: smard)

Kann eine Gefährdung oder Störung der Sicherheit und Zuverlässigkeit des Elektrizitätsversorgungssystems durch die Maßnahmen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz nicht oder nicht rechtzeitig beseitigt werden, setzt die Bundesnetzagentur die Ausschreibung für die Stilllegung weiterer Steinkohleanlagen aus oder reduziert das Ausschreibungsvolumen (§ 55, Satz 4 KVBG). Dies gilt auch, wenn die Bundesregierung feststellt, dass die Indikatoren für die Entwicklung der Strompreise überschritten werden.

Allerdings wurden bereits fünf von sieben Ausschreibungsrunden durchgeführt und etwa 8.600 Megawatt (MW) Erzeugungsleistung auf Basis von Steinkohle stillgelegt [5]. Zu einer Aussetzung oder Verschiebung der Stilllegungsauktionen ist es bisher nicht gekommen. Weitere Ausschreibungen sind für den 01.08.2022 sowie für den 01.06.2023 geplant. Derzeit liegt die Erzeugungsleistung der inländischen Steinkohlenkraftwerke bei 18.830 MW – ein Drittel weniger als 2017 und noch knapp 4.000 MW vom Zielwert des KVBG für 2022 entfernt.

Die Brennstoffversorgung der inländischen Steinkohle-Stromerzeugungsanlagen war 2021 geprägt durch einen hohen Anteil von Lieferungen aus Russland. Mit insgesamt 18,3 Mio. t stammten 2021 knapp 57 % der deutschen Kohleeinfuhren aus Ländern der russischen Föderation. Die Lieferungen bewegten sich damit auf einem Fünf-Jahreshoch und lagen knapp 50 % über dem Vorjahr [6]. Der Beschluss der EU, Kohleimporte aus Russland zu beenden und die Ankündigung der Bundesregierung, die Einfuhren von Steinkohle aus der russischen Föderation bis zum Sommer 2022 einzustellen und durch Lieferungen aus anderen Ländern zu ersetzen, erfordert erhebliche Anstrengungen. Derzeit bezieht Deutschland noch nennenswerte Mengen an Steinkohle aus den USA, Kolumbien und Australien sowie geringe Mengen aus EU-Ländern. Die Inlandsgewinnung wurde bereits 2018 beendet.

Die im KVBG vorgesehene Maßnahme, durch den Einsatz von Steinkohleanlagen eine Störung der Sicherheit und Zuverlässigkeit der Elektrizitätsversorgung zu vermeiden oder die Entwicklung der Strompreise zu beeinflussen, erscheint vor dem Hintergrund der verbliebenen Erzeugungskapazitäten und der nur wenig diversifizierten Brennstoffquellen allenfalls eingeschränkt realisierbar. Auch wenn es mittelfristig möglich ist, auf Importe aus Russland zu verzichten und ausreichend Steinkohle auf dem Weltmarkt zu beschaffen, so könnte es dennoch sinnvoll sein, verpflichtende Vorräte an den inländischen Kraftwerksstandorten anzulegen. Bei Braunkohle wäre dies nicht erforderlich, da die Tagebaue praktisch die Vorratslager vor Ort sind.

Die aktuelle Entwicklung der inländischen Stromerzeugungskapazitäten auf der Basis von Braunkohle ist geprägt durch das Erreichen des Zielniveaus von 15 GW bis zum Jahresende 2022. Zum 01.04.2022 erfolgte die Außerbetriebnahme eines Blocks im Kraftwerk Neurath mit einer Leistung von knapp 300 MW. Zum Jahresende kommt die Abschaltung von weiteren 1.300 MW im rheinischen Kraftwerkspark hinzu. Weitere Abschaltungen erfolgen planmäßig erst Anfang und Ende 2027, so dass die Braunkohle bis Ende 2027 zunächst einen stabilen Beitrag von rund 14 GW gesicherter und regelbarer Erzeugung leisten kann.

Die Überprüfung des Kohleausstiegs muss darüber hinaus berücksichtigen, dass zum Jahresende 2022 die letzten verbliebenen Kernkraftwerke in Deutschland vom Netz gehen. Gegenüber 2021 bedeutet dies einen Abbau von gesicherter Stromerzeugungskapazität in Höhe von 8,1 GW oder knapp 12 % der Bruttostromerzeugung in Deutschland.

Die bereits seit 2012 und verstärkt seit 2016 rückläufigen Beiträge der Kernkraft und der Kohle zur Bruttostromerzeugung in Deutschland (siehe Abb. 2) werden seit 2017 durch einen spürbaren Rückgang beim Stromverbrauch überdeckt: Während der Bruttostromverbrauch 2017 knapp über der Marke von 600 Mrd. kWh lag, sank er 2020 auf einen Wert von 555 Mrd. kWh und erholte sich 2021 leicht auf 569 Mrd. kWh. Diese Entwicklung entspricht aber nicht den Prognosen. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz rechnet in seiner jüngsten Abschätzung bis 2030 mit einem Anstieg des Verbrauchs auf bis zu 665 Mrd. kWh pro Jahr [7]. Die Prognos AG geht von einem Wert von 658 Mrd. kWh im Jahre 2030 aus [8]. Damit dürfte der Strombedarf bis 2030 um mindestens 10 % wachsen und sich auch die abzudeckende Netzlast weiter erhöhen.

Auswirkungen des Kohleausstiegs auf die Netzstabilität werden durch eine Reihe von Maßnahmen begrenzt. Die Übertragungsnetzbetreiber haben die Möglichkeit, die Vorhaltung von Reservekraftwerken durch Anordnung der Bundesnetzagentur zu sichern. Der Bau von mehreren neuen Gaskraftwerken zur Bereitstellung von Reserveleistung sowie die Errichtung großer Batteriespeicher tragen maßgeblich zur Versorgungssicherheit bei. Die auf vier Jahre begrenzte Sicherheitsbereitschaft sowie die Überführung von mindestens drei Braunkohlekraftwerksblöcken in die zeitlich gestreckte Stilllegung sind weitere Bausteine für einen sicheren Netzbetrieb.

Andererseits haben die Systemauftrennung im europäischen Stromnetz am 08.01.2021 sowie die Abtrennung der Iberischen Halbinsel vom europäischen Stromnetz am 17.03.2022 gezeigt, dass Netzstabilität eine europäische Aufgabe ist, für die die Übertragungsnetzbetreiber in den einzelnen Regionen verantwortlich sind. Die kürzlich erfolgte Verbindung der Stromnetze der Ukraine und der Republik Moldau mit dem kontinentaleuropäischen Stromnetz erhöht die Anforderungen an den störungsfreien Netzbetrieb in Europa weiter.

Das Zwischenfazit zum Prüfpunkt Versorgungssicherheit ergibt eine Reihe offener Fragen zur verlässlichen Deckung des steigenden Strombedarfs in Deutschland bis 2030 und darüber hinaus zur Netzstabilität im europäischen Verbundnetz.

Prüfpunkt Gaskraftwerke und Umrüstung von Kohleanlagen

Das KVBG sieht die Prüfung der vorhandenen Gasnetze vor, um sicherzustellen, dass bestehende Kohleanlagen auf Erdgasbetrieb umgestellt werden können. Damit beschränkt sich die Bundesregierung allein auf Fragen zur hinreichenden Infrastruktur. Von größerer Bedeutung ist die Frage, wie hoch die Bereitschaft von Investoren ist, bestehende Anlagen umzurüsten oder neue Gaskraftwerke zur Bereitstellung von Reserve und/oder Wirkleistung bereitzustellen und wie die Versorgung der Anlagen mit ausreichenden Mengen an Brennstoff zu auskömmlichen Preisen sicherzustellen wäre.

Durch die Aussage der Bundesregierung, „die Nutzung von Erdgas (ist) langfristig nicht nachhaltig“ [9], wird ein investitionshemmender Rahmen für Investitionen in neue Gaskraftwerke gesetzt, auch wenn die Bundesregierung einschränkt, dass neue Gaskraftwerke die schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien und die Reduktion der Emissionen im Energiesektor insgesamt unterstützten, insbesondere dann, wenn sie wasserstofffähig („H2-ready“) sind.

Derzeit sind im Marktstammdatenregister der Bundesnetzagentur [10] rund 31,2 GW Nettonennleistung an Gaskraftwerken registriert. Etwa 28 GW davon sind am Strommarkt aktiv. Den größten Anteil stellen derzeit Gasturbinen mit nachgeschalteter Dampfturbine (GuD-Technik) mit 10,6 GW dar. In Bau oder Planung befinden sich derzeit Anlagen mit einer Nettoleistung von etwa 3.600 MW. Für diese Anlagen liegen bewilligte Investitionsplanungen vor, die eine Inbetriebnahme als sehr wahrscheinlich erscheinen lassen. Hinzu kommen nach Auskunft der Bundesregierung 4.380 MW (Stand 2021), „die in Zukunft zugebaut werden könnten“ [11]. Von den geplanten Anlagen wurden knapp 3.000 MW als „Kraft-Wärme-Kopplungs-(KWK-)fähig“ gemeldet. Konkret im Bau oder bereits im Probebetrieb befinden sich derzeit nach Angaben der Bundesregierung Anlagen mit einer Gesamtleistung von 3.483 MW.

Zwischenfazit zum Prüfpunkt Umrüstung von Kohle- auf Gasanlagen: Bau und Planung von neuen Gaskraftwerken für den Strommarkt oder zur Sicherung der Netzstabilität erfolgen derzeit im Vergleich zum Abbau der Erzeugungskapazitäten auf der Grundlage von Kohle und Kernkraft nicht ausgewogen. Die Investitionen in neue Gasanlagen werden durch die längerfristigen klimapolitischen Perspektiven und Zielsetzungen sowie durch unsichere Preis- und Lieferentwicklungen geprägt.

Prüfpunkt Aufrechterhaltung der Wärmeversorgung

In der leitungsgebundenen Wärmeversorgung (Fernwärme) spielt der Energieträger Kohle nach wie vor eine bedeutende und vielfach unterschätzte Rolle. An der Nettowärmeerzeugung im Bereich der Fernwärme in Höhe von 128 Mrd. kWh (2021) haben Stein- und Braunkohle zusammen mit 18,6 % einen etwa gleich hohen Anteil wie erneuerbare Energieträger. Auf Erdgas entfällt ein Anteil von knapp 50 %. Über Fernwärmesysteme werden derzeit 6,1 Mio. Haushalte versorgt. 44 % des Aufkommens leitungsgebundener Nutzwärme entfallen allerdings auf die Industrie. Vor allem die Grundstoffindustrie sowie die Sektoren Papier, Fahrzeugbau und Ernährung sind bedeutende Abnehmer von Nutzwärme. Die Substitution von Kohle in diesem Bereich betrifft die Wärme-Auskopplung aus Großkraftwerken sowie den Betrieb von Heizwerken.

Besondere Bedeutung hat die leitungsgebundene Wärmeversorgung in Städten und Ballungsräumen. So liegt der Fernwärmeanteil an der Wärmeversorgung in Hamburg und Berlin bei über 36 %, in der Fläche liegen die Anteile bei durchschnittlich 6 %. In Leipzig wird Ende 2022 ein neues Heizkraftwerk in Betrieb gehen, dessen zwei Gasturbinen zusammen 125 MW elektrischer Leistung sowie 163 MW thermische Leistung für die Fernwärmeversorgung bereitstellen werden. Als Besonderheit weist die Anlage einen Wärmespeicher mit einer Kapazität von 1.500 MWh zur Flexibilisierung des Anlagenbetriebs auf. 2019 hatte sich Leipzig entschieden, auf Wärmelieferungen aus dem Braunkohlekraftwerk Lippendorf zu verzichten und den Bau des Heizkraftwerks sowie weiterer eigener Anlagen zur Strom- und Wärmeerzeugung vorzunehmen. Das Kraftwerk Lippendorf gehört mit zwei 1999 ans Netz gegangenen Blöcken zu den modernsten Braunkohleanlagen in Deutschland und soll gemäß KVBG bis Ende 2035 am Netz bleiben. Die Anlage stellt eine Fernwärmeleistung von 330 MW zur Verfügung.

Zwischenfazit zum Prüfpunkt Aufrechterhaltung der Wärmeversorgung: Kohle spielt für leitungsgebundene Wärmeversorgung in Deutschland eine erhebliche Rolle. Der Ersatz vorhandener Anlagen oder die Beendigung der Wärmeauskopplung aus Großkraftwerken greift in das Gefüge einer besonders wirtschaftlichen und effizienten Art der Wärmeversorgung ein. Für die Umstellung auf erneuerbare Energien ist ein hinreichender Zeithorizont einzuplanen, die weitere Erhöhung des Erdgasanteils widerspricht dem Ziel, die Importabhängigkeit drastisch zu minimieren. In die Prüfung einzubeziehen ist auch der industrielle und gewerbliche Wärmebedarf.

Prüfpunkt Strompreise

Ab Mitte des Jahres 2021 verzeichneten die Stromgroßhandelspreise einen kontinuierlichen Anstieg und erreichten am 21.12.2021 ein Jahres-Rekordhoch von 431,97 €/MWh (gewichteter Stromgroßhandelspreis/Day-Ahead-Börsenstrompreis je Stunde). Am 08.03.2022 wurde mit 487,57 €/MWh der bisher höchste Wert des laufenden Jahres verbucht.

Nach Meinung führender Forschungsinstitute sind stark gestiegene Gaspreise Haupttreiber für den Strompreisanstieg [12]. Zeitweise notierte Erdgas am Ende eines Börsentages (Settlementpreis) bei mehr als 200 €/MWh. Verantwortlich für die Preisentwicklung beim Erdgas sind die anhaltende Unsicherheit im Hinblick auf künftige Erdgaslieferungen aus Russland, unterdurchschnittliche Füllstände der Gasspeicher sowie eine global anziehende Nachfrage im Zuge der wirtschaftlichen Erholung.

Die Unsicherheiten über die zukünftige Rolle Russlands als bedeutendster Erdgaslieferant West- und Zentraleuropas sowie die diskutierte Substitution der Pipeline-Bezüge aus Russland durch global handelbare LNG-Lieferungen aus anderen Regionen dürften auch in Zukunft erheblichen Einfluss auf die Erdgaspreise haben. Neben der starken Position von Erdgas in der Industrie und im Wärmemarkt werden in Deutschland pro Jahr knapp 90 Mrd. kWh Strom aus Erdgas erzeugt, das entsprach 2021 einem Anteil von gut 15 % an der Bruttostromerzeugung. Damit ist Erdgas derzeit nach den erneuerbaren Energien sowie der Braunkohle der drittwichtigste Energieträger in der Stromerzeugung.

Neben dem absoluten Anstieg sind die Stromgroßhandelspreise im deutschen Marktgebiet seit Mitte 2021 von einer deutlich stärkeren Volatilität geprägt als in der Vergangenheit. So folgen den Höchstwerten immer wieder deutlich Abschwünge bis auf Werte um 20,00 €/MWh (beispielsweise am 05.04.2022, 6.00 Uhr: 23,53 €/MWh). Auch bei dieser Entwicklung spielt Erdgas eine Rolle (siehe Abb. 3).

Durch die Abschaltung von Kernkraftwerken sowie die vorzeitigen Stilllegungen von Stein- und Braunkohlekraftwerken hat sich die Merit Order – die der Netzlast folgende, zeitlich gestaffelte Inbetriebnahme von Stromerzeugungsanlagen – erheblich verkürzt und dynamisiert. Die noch am Netz befindlichen Kern- und Kohlekraftwerkendecken im Wesentlichen die Residuallast ab, die sich bestimmt als Differenz zwischen der prognostizierten Netzlast und der erwarteten Stromeinspeisung aus erneuerbaren Energiequellen. Bei stark fluktuierenden Stromeinspeisungen aus erneuerbaren Energiequellen führt eine verkürzte Merit Order verstärkt zum Einsatz von Stromerzeugungsanlagen mit hohen flexiblen Kosten, zumeist von Erdgaskraftwerken. Weitere Verkürzungen der Merit Order verstärken den Trend zu einem kurzfristigen und häufigen Wechsel zwischen Netzeinspeisungen aus erneuerbaren Energieträgern zu geringen flexiblen Kosten (Absinken der Strompreise) und dem Einsatz von Erdgaskraftwerken mit hohen flexiblen Kosten für Brennstoff und CO2-Emissionszertifikate (Anstieg der Strompreise). Die zum Teil extremen Preisausschläge haben Rückwirkungen auf die Bildung von Durchschnittspreisen am Kurz- und Langfristhandel an den Strombörsen.

Zwischenfazit zum Prüfpunkt Strompreise: Der Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energieträgern und der Zubau von Gaskraftwerken zum CO2-armen Ausgleich fluktuierender Netzeinspeisungen muss zeitlich abgestimmt mit der Abschaltung von Kohlekraftwerken erfolgen, um starke Ausschläge an den Strombörsen und ein langfristig steigendes Preisniveau zu verhindern.

Prüfpunkt: Klimaziele

Die Erreichung der europäischen Klimaziele bei den energiebedingten Treibhausgasemissionen ist durch das europäische Emissionshandelssystem gewährleistet. Die jährlich reduzierte Höchstmenge an Emissionszertifikaten (Cap) und der Investitionen in den Klimaschutz fördernde Handel (Trade) mit Emissionszertifikaten steuern die Emissionsentwicklung zielgenau.

Die über die europäischen Vorgaben hinausgehenden, verschärften nationalen Klimaschutzziele sorgen dafür, dass die Emissionen der inländischen Energiewirtschaft bis 2030 auf höchstens 108 Mio. t CO2 sinken müssen, davon verbleiben nach Abzug von Mengen für andere Zweige der Energiewirtschaft noch 85 Mio. t für die Stromerzeugung aus den 2030 noch am Netz befindlichen Kohle- und Gaskraftwerken. Wenn wie geplant im Jahre 2030 noch Braunkohlekraftwerke mit einer Stromerzeugungskapazität von 9 GW am Netz sind und die Auslastung der Anlagen auf bis zu 5.000 Vollaststunden reduziert würde, würde der Betrieb dieser Anlagen zu einem CO2-Ausstoß von 45 Mio. t pro Jahr führen. Damit hätten sich die CO2-Emissionen der Braunkohle seit 1990 um 87 % vermindert. Der Einsatz von Braunkohle wäre damit im Rahmen des Ausstiegsplan gemäß KVBG mit den nationalen Klimazielen vereinbar.

Die jetzt geplanten verstärkten Importe von LNG sowie von Erdgas aus Fracking-Produktionen führen dagegen zu zusätzlichen Emissionen, die nicht vom europäischen Emissionshandelssystem erfasst werden und deshalb auf anderem Wege bilanziert werden.

Zwischenfazit zum Prüfpunkt Klimaziele: Unklar ist aufgrund der aktuellen Lage auf den Märkten für Energierohstoffe sowie als Konsequenz nationaler und europäischer Maßnahmen zur Diversifizierung der Energiebezüge, in welchem Umfang Gas- und Steinkohlenimporte für die Stromerzeugung zur Verfügung stehen und wie sich das Verhältnis zwischen importierten und heimischen fossilen Brennstoffen für die Stromerzeugung entwickelt.  

Prüfpunkt Rohstoffe

Die Energiewirtschaft verbraucht nicht nur Rohstoffe, sie erzeugt auch welche. Aus der Rauchgasentschwefelung (REA) der inländischen Stein- und Braunkohlekraftwerke entstammten 2020 insgesamt etwa 6,3 Mio. t sog. technischer Gips, davon 4,8 Mio. t aus Braunkohle- sowie 1,5 Mio. t aus Steinkohlekraftwerken. Die Gesamtmenge reicht aus, um derzeit etwa 55 % des inländischen Gipsbedarfs zu decken, der Rest wird überwiegend aus heimischen Naturgipsvorkommen zugeführt.

Zwischenfazit zum Prüfpunkt Rohstoffe: Im Zuge des Kohleausstiegs wird die Menge des REA-Gipses deutlich sinken und den Bedarf an Naturgips erhöhen oder zu mehr Recyclinganstrengungen führen. Beides erfordert Zeit für Planungen, Genehmigungen und Entwicklungen. Eine Beschleunigung des Kohleausstiegs führt damit zu Versorgungsrisiken bei einem wichtigen Baustoff durch steigende Importabhängigkeiten sowie zu Risiken für die Energieeffizienz im Gebäudebereich.

Prüfpunkt Sozialverträglichkeit

Zur sozialverträglichen schrittweisen Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung kann aus Mitteln des Bundeshaushalts für mindestens 58 Jahre alte Arbeitnehmer in Kraftwerken und Tagebauen vom Tag nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses für längstens fünf Jahre Anpassungsgeld (APG) als Überbrückungshilfe bis zur Anspruchsberechtigung auf eine Rente gewährt werden. Das Anpassungsgeld ist ein zentrales Instrument der individuellen Anpassung an den durch den Kohleausstieg ausgelösten Strukturwandel in den Kohlerevieren. Bei einem weiter vorgezogenen Datum für den Kohleausstieg müssten bis zu acht weitere Jahrgänge in die APG-Regelung aufgenommen werden.

Zwischenfazit zum Prüfpunkt Sozialverträglichkeit: Ein vorgezogener Kohleausstieg führt zu einer Überprüfung der Ziele für die Schaffung neuer Arbeitsplätze in den Kohleregionen, da ein vorgezogener Ausstieg verstärkt jüngere Beschäftigte treffen würde, die berechtigte Ansprüche auf perspektivische Beschäftigungschancen in ihren jeweiligen Regionen beanspruchen dürfen.

Fazit

Der für die zweite Jahreshälfte 2022 anstehende, durch das KVBG vorgeschriebene Überprüfungstermin zu den Auswirkungen des Kohleausstiegs bis 2038 sowie zur aktuellen Diskussion über das Vorziehen des Enddatums der Kohlenutzung in Deutschland sind streng und umfassend nach den Vorgaben des KVBG zu bearbeiten.

Die gesetzlich fixierten Prüfpunkte können allerdings nicht ohne Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie sowie der aktuellen und längerfristigen Konsequenzen der Ukraine-Krise bewertet werden. Insbesondere sind Entscheidungen für eine weitere Beschleunigung des Kohleausstiegs dürften aus Gründen der unsicheren Preis- und Versorgungslage derzeit weder seriös noch verantwortungsvoll zu treffen sein.

Anmerkungen

[1] Die Bundesnetzagentur hat die Ergebnisse der Ausschreibungen online veröffentlicht unter https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Fachthemen/ElektrizitaetundGas/Kohleausstieg/start.html
[2] Bundesgesetzblatt Jahrgang 2020 Teil I Nr. 3, Anlage 2 https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&start=//*%5b@attr_id=%27bgbl120s1818.pdf%27%5d
[3] Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat den Vertrag online veröffentlicht unter https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/M-O/oeffentlich-rechtlicher-vertrag-zur-reduzierung-und-beendigung-der-braunkohleverstromung-entwurf.pdf?__blob=publicationFile&v=
[4] Staatliche Beihilfe SA.53625 (2020/M) – Ausstieg. Aus der Braunkohleverstromung. (2021/C 177/03). Online: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:C:2021:177:FULL&from=PT2021/C 177/03
[5] Eine Übersicht über die bisherigen Zuschläge bei der Bundesnetzagentur gibt es online unter https://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/KarteAnlagen.html
[6] Statistisches Bundesamt. Einfuhr von Steinkohle für die Jahre 2017 bis 2021. Online https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Energie/Verwendung/Tabellen/einfuhr-steinkohle-zeitreihe.html
[7] Einordnung der Studie „Monitoring der Angemessenheit der Ressourcen an den europäischen Strommärkten“ im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie vom 29.07.2021. https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downloads/G/gutachten-angemessenheit-der-ressourcen-begleitdokument.html
[8] Prognos AG: Entwicklung des Bruttostromverbrauchs bis 2030. Online unter: https://www.prognos.com/de/projekt/entwicklung-des-bruttostromverbrauches-bis-2030
[9] Bundestagsdrucksache 20/924 vom 09.03.2022 auf die „Kleine Anfrage Gaskraftwerke in Deutschland – Status quo und geplanter Zubau“ (Drucksache 20/633).
[10] https://www.marktstammdatenregister.de/MaStR/Einheit/Einheiten/OeffentlicheEinheitenuebersicht#gasverbrauch
[11] Bundestagsdrucksache 20/924, Antwort zu Frage 5.
[12] EWI-Kurzanalyse „Strompreise 2021 auf Rekordniveau – Haupttreiber Gaspreise“. Online: https://www.ewi.uni-koeln.de/de/publikationen/strompreise-im-jahr-2021-auf-rekordniveau/

W. Kramer, Journalist, Wuppertal, wieland.kramer@kramer-kommunikation.de

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