Flexibilitätsoptionen

Mögliche Veränderungen im Strommarkt durch den Kohleausstieg

Bild 1. Mögliche Lastverläufe in der ersten Januarwoche 2039

Flexibilitätsoptionen sind zunehmend gefragt, um Stromüberschüsse an windreichen Sonnentagen zu nutzen und um Stromlücken in Dunkelflauten zu decken. Wie die Einspeisung aus Windenergie- und Photovoltaikanlagen im Jahr 2039 innerhalb einer Woche schwanken könnte, zeigt exemplarisch Bild 1. Dabei handelt es sich um eine grobe Hochrechnung auf Basis der Stromeinspeisungen aus erneuerbaren Energien im Jahr 2018 bei mehr als Verdoppelung der Kapazität von Windenergie- und Photovoltaikanlagen. Im Jahresverlauf können Stromüberschüsse aus Windenergie- und Photovoltaikanlagen von mehr als 50 GW, aber auch Stromlücken von mehr als 70 GW entstehen, die nicht durch Wasserkraft-, Windenergie- oder Photovoltaikanlagen gedeckt werden können. Doch wie müssen die Rahmenbedingungen weiterentwickelt werden, damit die Flexibilitätsoptionen wirtschaftlich in einem marktkonformen Rahmen möglichst kostengünstig genutzt werden können? Oder wird auch dies künftig von den Übertragungsnetzbetreibern organisiert und über den Strompreis umgelegt? Was bleibt dann vom Energiemarkt noch übrig? Besteht hier nicht die Gefahr, dass die Energiewende zur Verdrängung sämtlicher wettbewerblicher Strukturen durch planwirtschaftliche Entscheidungsstrukturen führt?

Strompreise

Während die erneuerbaren Energien zu einem tendenziellen Sinken der Stromgroßhandelspreise führen, werden die Ablösung der Kohlekraftwerke durch Erdgaskraftwerke als Grenzkraftwerke sowie die höheren Volatilitäten, Flexibilisierungs- und Systemstabilisierungserfordernisse im Endeffekt zu deutlichen Strompreiserhöhungen für Haushalte, Gewerbe- und Industriebetriebe führen. Entsprechende Abschätzungen zusätzlicher Systemkosten sind auch in [9 – 11] enthalten. Dies gilt vor allem dann, wenn ausschließlich auf klassische angebotsorientierte Lösungen gesetzt wird, die von den Übertragungsnetzbetreibern im natürlichen Monopol organisiert werden, anstatt innovative digitale Lösungen auch auf der Nachfrageseite zu erschließen. Wenn gleichzeitig die energieintensive Industrie – wie von der Kohlekommission empfohlen – weiter entlastet wird, werden vor allem die Stromkosten für die privaten Haushalte und kleinen Gewerbekunden steigen.

Stromaustausch mit dem Ausland

Der Stromaustausch mit dem Ausland wird zunehmen (vgl. auch [9]). Dies gilt weniger an windreichen Sonnentagen, wenn Strom zu Grenzkosten nahe Null exportiert wird, jedoch umso mehr für Zeiten, in denen die erneuerbaren Energien nicht ausreichen, um die Nachfrage zu decken, und Deutschland verstärkt Strom aus Kernenergie aus dem Ausland beziehen wird. Die Kernkraftwerksbetreiber in Tschechien und Frankreich könnten sowohl von den höheren Strompreisen als auch vom Importbedarf Deutschlands in Zeiten der Unterdeckung profitieren.

Stabilität des Stromsystems

Wie auch die Kommission verdeutlicht, leisten Kohlekraftwerke durch die Bereitstellung von Kurzschlussleistung und Momentanreserve einen großen Beitrag zur Stabilität des Stromsystems. Hier stellt sich die Frage, welche Akteure hierzu Alternativen entwickeln und betreiben werden, welche Anreize sie dafür erhalten und vor allem welche Rolle die Netzbetreiber dabei spielen sollen. Werden künftig zum Beispiel Kühl- und Gefriergeräte sowie ähnliche Technologien dazu beitragen, automatisch die Netzfrequenz zu stabilisieren, und wird ein privater Haushalt mit dem Kauf eines Kühlgeräts dafür eine pauschale Prämie erhalten [12]? Oder werden dafür zum Beispiel Generatoren in stillgelegten Großkraftwerken wie im Kernkraftwerk Biblis A genutzt? Vor allem muss entschieden werden, ob dies künftig alles von den Übertragungsnetzbetreibern organisiert werden soll.

Diskussion um Strommarktregime muss wieder intensiviert werden

Welche Rahmenbedingungen geeignet sind, den notwendigen Ausbau der erneuerbaren Energien und der Flexibilitäts- und Systemstabilisierungsoptionen wirtschaftlich vertretbar und marktlich organisiert sicherzustellen, muss genauer analysiert werden. Die Diskussion um die Weiterentwicklung des Strommarktregimes ist im Zuge des Kohleausstiegs wieder intensiver zu führen.

Fazit

Der Abschlussbericht der Kohlekommission wirft hinsichtlich der ökologischen Effektivität, der wirtschaftlichen Effizienz und Belastung für die öffentlichen und privaten Haushalte, der Weiterentwicklung des Strommarktregimes sowie der nationalen und europäischen Industriepolitik viele Fragen auf. Sie müssen analysiert und beantwortet werden, um belastbare politische Entscheidungen treffen zu können. Nutznießer eines Kohleausstiegs wie ihn die Kohlekommission skizziert hat, sind die Kohlekraftwerksbetreiber, die Akteure in den Tagebaugebieten, die Strukturhilfen erhalten, die Übertragungsnetzbetreiber, die ausländischen Kernkraftwerksbetreiber, die Erdgaslieferanten und die weiterhin begünstigte energieintensive Industrie. Der Energiemarkt und die privaten Haushalte scheinen die großen Verlierer zu werden.

Literatur

[1] Kommission »Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung«: Abschlussbericht gemäß Beschluss vom 26.01.2019.

[2] Flauger, J.; Stratmann, K.: Jetzt beginnt das Geschacher um die Kohle. Handelsblatt, 29.01.2019, S. 20-21.

[3] BMWi: Sechster Monitoring-Bericht zur Energiewende, Die Energie der Zukunft, Berichtsjahr 2016, Berlin, 2018.

[4] Aktuelle Angaben der Übertragungsnetzbetreiber zu den Einnahmen- und Ausgabenpositionen nach §3 (1) EEAV. www.netztransparenz.de, Abrufdatum: 15.02.2019

[5] Eigene Darstellung auf Basis von [1, 3, 6, 7, 8]

[6] BNetzA: Bericht, Feststellung des Bedarfs an Netzreserve für den Winter 2018/2019 sowie das Jahr 2020/2021 und zugleich Bericht über die Ergebnisse der Prüfung der Systemanalysen. 27.04.2018, Bonn.

[7] BNetzA: Strommarktdaten. www.smard.de Abrufdatum 30.01.2019

[8] Nobis, P.; Fischhaber, S.: Belastung der Stromnetze durch Elektromobilität, Ergebnisse eines Projekts der Forschungsstelle für Energiewirtschaft e.V., München, 2016.

[9] Frontier Economics: Strompreiseffekte eines Kohleausstiegs, Kurzstudie im Auftrag der RWE AG. 16.08.2018.

[10] Kopiske, J.; Gerhardt, N.: 2030 kohlefrei, Wie eine beschleunigte Energiewende Deutschlands Beitrag zum Pariser Klimaschutzabkommen sicherstellt. Studie des Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik (FhG-IEE), Hrsg.: Greenpeace e. V., Hamburg, 2018.

[11] Matthes, F. C., et al.: Zukunft Stromsystem, Kohleausstieg 2035, Vom Ziel herdenken. Studie von Öko-Institut e. V. und Prognos AG, Hrsg.: WWF Deutschland, Berlin, 2017.

[12] Benysek, G., et al.: Decentralized Active Demand Response (DADR) System for Improvement of Frequency stability in Distribution Network. Electric Power Systems Research 134, 80–87, 2016.

Prof. Dr. Wolfgang Irrek und Prof. Dr. Michael Römmich
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