EuGH zum Vorsteuerabzug - Seite 4

Ausgangsrechtsstreit und Vorlage-Frage

 

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Die Tätigkeit von SGI und Valériane, Gesellschaften französischen Rechts mit Sitz in Réunion (Frankreich), besteht in der Durchführung von Investitionen, die von der Steuerermäßigung nach Art. 199j Teil B CGI erfasst werden. Im Rahmen der Regelung in diesem Artikel erwerben die Gesellschaften Ausrüstungsgegenstände, die zur Vermietung an in Réunion niedergelassene Betriebsinhaber bestimmt sind.

 

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Nach einer Prüfung der Buchhaltung stellte die französische Steuerverwaltung die Berechtigung von SGI und Valériane, die auf verschiedenen Rechnungen über den Kauf von Ausrüstungsgegenständen ausgewiesene Mehrwertsteuer abzuziehen, u. a. deswegen in Frage, weil diese Rechnungen keinen tatsächlichen Lieferungen entsprochen hätten. Infolgedessen erließ sie Mehrwertsteuernachforderungsbescheide an SGI für die Zeiträume viertes Quartal 2004 sowie erstes und zweites Quartal 2005, und an Valériane für den Zeitraum drittes Quartal 2004.

 

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SGI und Valériane fochten diese Bescheide vor dem Tribunal administratif de la Réunion (Verwaltungsgericht Réunion, Frankreich) an, das ihre Rechtsbehelfe mit zwei Urteilen vom 28. Februar 2013 zurückwies, die von der Cour administrative d’appel de Bordeaux (Verwaltungsberufungsgericht Bordeaux, Frankreich) bestätigt wurden.

 

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Zu SGI führte die Cour administrative d’appel de Bordeaux (Verwaltungsberufungsgericht Bordeaux) aus, dass SGI, die sich auf ihre Gutgläubigkeit berufen habe, weder bestritten habe, dass zahlreiche Umsätze keinen tatsächlichen Lieferungen entsprochen hätten, noch, dass Lieferungen verspätet gewesen seien, noch schließlich, dass bestimmte Transaktionen annulliert worden seien. So habe SGI nicht kontrolliert, ob diese wirtschaftlichen Vorgänge, bei denen es um erhebliche Beträge gegangen sei, tatsächlich stattgefunden hätten. Das Verwaltungsberufungsgericht leitete daraus ab, dass die Finanzverwaltung den Beweis dafür erbracht habe, dass SGI in ihrer Eigenschaft als »Professionelle[s Unternehmen auf dem Gebiet] der überseeischen Steuerbefreiung« über den fiktiven Charakter der betreffenden Umsätze oder die Überfakturierung einiger von ihnen nicht habe in Unkenntnis sein können.

 

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Im Hinblick auf Valériane stellte das Verwaltungsberufungsgericht fest, aufgrund der Ermittlungen der Steuerverwaltung sei erwiesen, dass zum einen die fraglichen Gegenstände nicht geliefert und installiert worden seien, und dass zum anderen Valériane mehrere Verstöße begangen habe wie die Nichtzahlung des Rechnungsbetrags, die Nichteinnahme der Sicherheitsleistung und der Miete, die im mit dem Mieter der Gegenstände geschlossenen Mietvertrag bestimmt waren, sowie das Fehlen einer Überprüfung, ob die Gegenstände tatsächlich vorhanden gewesen seien, obwohl der Mietvertrag noch vor der Rechnungsstellung und dem Erhalt der Gegenstände abgeschlossen worden sei.

 

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SGI und Valériane waren der Ansicht, die Cour administrative d’appel de Bor-deaux (Verwaltungsberufungsgericht Bordeaux) habe einen Rechtsfehler begangen, und erhoben beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) eine Kassationsbeschwerde auf Grundlage der Sechsten Richtlinie in der Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs.

 

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Zur Stützung ihres Rechtsmittels bringt SGI vor, dass es ihr, da keine ernsthaften Indizien dafür vorgelegen hätten, dass die streitigen wirtschaftlichen Tätigkeiten in eine Hinterziehung einbezogen gewesen seien, nicht oblegen habe, zu prüfen, ob diese Tätigkeiten tatsächlich stattgefunden hätten. Valériane trägt vor, die Cour administrative d’appel de Bordeaux (Verwaltungsberufungsgericht Bordeaux) habe nicht ermittelt, ob die Verwaltung den Beweis erbracht habe, dass Valériane gewusst habe oder hätte wissen müssen, dass bei dem fraglichen Umsatz ein Mehrwertsteuerbetrug vorliege.

 

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Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 31. Januar 2013, Stroy trans (C-642/11, EU:C: 2013:54) bzw. LVK (C-643/11, EU:C: 2013:55), entschieden hat, dass dann, wenn in Anbetracht von Steuerhinterziehungen oder Unregelmäßigkeiten, die der Aussteller der Rechnung begangen hat oder die dem Umsatz, auf den das Recht auf Vorsteuerabzug gestützt wird, vorausgegangen sind, davon ausgegangen wird, dass dieser Umsatz tatsächlich nicht bewirkt wurde, das Recht auf Vorsteuerabzug dem Rechnungsempfänger nur versagt werden darf, wenn anhand objektiver Gesichtspunkte und ohne dass vom Rechnungsempfänger Nachprüfungen verlangt werden, die ihm nicht obliegen, nachgewiesen ist, dass der Rechnungsempfänger wusste oder wissen musste, dass dieser Umsatz in eine Hinterziehung von Mehrwertsteuer einbezogen war, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 

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Jedoch führt das vorlegende Gericht aus, dass diese beiden Urteile zu Sachverhalten ergangen seien, die sich von denen in den vorliegenden Ausgangsverfahren unterschieden hätten und in denen sich die Steuerverwaltung auf Unregelmäßigkeiten gestützt habe, die der Rechnungsaussteller oder einer seiner Lieferanten begangen hatten. In den Vorlagefragen sei es darum gegangen, welche Konsequenzen für die Ausübung des Rechts zum Vorsteuerabzug durch den Rechnungsempfänger daraus zu ziehen sind, dass die Steuerverwaltung nicht durch einen Steuerberichtigungsbescheid an den Aussteller der Rechnung die von diesem erklärte Mehrwertsteuer berichtigt habe.

 

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In den Ausgangsverfahren sei das Recht auf Vorsteuerabzug hingegen verweigert worden, da die betreffenden Gegenstände den im Ausgangsverfahren fraglichen Gesellschaften tatsächlich nicht geliefert worden seien. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob, wenn einem Steuerpflichtigen das Recht auf den Vorsteuerabzug verweigert werden soll, in einer solchen Situation der Nachweis ausreicht, dass die Waren oder Dienstleistungen tatsächlich nicht an ihn geliefert bzw. erbracht wurden, oder ob auch nachzuweisen ist, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass der betreffende Umsatz in eine Hinterziehung der Mehrwertsteuer einbezogen war.

 

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Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die Bestimmungen von Art. 17 der Sechsten Richtlinie, die im Wesentlichen in Art. 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) übernommen wurden, dahin auszulegen, dass dann, wenn einem Steuerpflichtigen das Recht auf Abzug der ausgewiesenen Steuer auf Rechnungen über Gegenstände oder Dienstleistungen, bei denen die Steuerverwaltung feststellt, dass sie nicht tatsächlich an ihn geliefert bzw. erbracht wurden, von der von ihm für seine eigenen Umsätze geschuldeten Mehrwertsteuer versagt werden soll, in jedem Fall zu prüfen ist, ob nachgewiesen ist, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass dieser Umsatz in eine Hinterziehung von Mehrwertsteuer einbezogen war, sei es, dass diese Hinterziehung auf Initiative des Rechnungsausstellers, des Rechnungsempfängers oder eines Dritten erfolgte?

 

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Durch Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. August 2017 sind die Rechtssachen C-459/17 und C-460/17 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

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