Energie- und Strombedarf Deutschlands: Aktuelle und künftige Trends

Deutschlands Stromversorgungssystem steht aktuell vor großen Herausforderungen. Erstens: Mit dem bis Ende des Jahres 2022 zu vollziehenden Kernenergieausstieg gehen Kapazitäten im Umfang von rund 8,5 GW Nettoleistung vom Netz. Daher müssen rund 75 Mrd. kWh [1] Atomstrom entweder eingespart oder durch andere Energieträger bzw. -technologien ersetzt werden. Zur Einordnung: 75 Mrd. kWh entsprechen laut der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen [1] knapp 13 % des Stromverbrauchs bzw. rund 6 % des Primärenergieverbrauchs. Infolge des Kernenergieausstiegs wird der CO2-Ausstoß Deutschlands höher ausfallen, als wenn darauf verzichtet worden wäre. Zudem fallen dadurch die Strompreise höher aus als andernfalls.

Zweitens: Die Umsetzung des bis zum Jahr 2038 von der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ (kurz: „Kohlekommission“) vorgeschlagenen Ausstiegs aus der Kohleverstromung in Deutschland bedeutet, dass 42,6 GW Kohlekraftwerkskapazitäten (Tab. 1), die im Jahr 2018 rund 228 Mrd. kWh Strom produzierten und knapp 36 % zur Stromerzeugung in Deutschland beitrugen [1], abgeschaltet würden und knapp 22 % des Primärenergieverbrauchs auf andere Art und Weise gedeckt werden müssen.

Nach dem Abschlussbericht der Kohlekommission [8] soll bereits bis Ende des Jahres 2022 die Leistung von Braun- und Steinkohlekraftwerken auf jeweils rund 15 GW zurückgeführt werden (Tab. 1). Das entspricht gegenüber Ende 2017 einem Rückgang von 4,9 GW bei der Braunkohle und von 7,7 GW bei der Steinkohle und damit einem Rückgang von 25 % bzw. 34 %. Bis 2030 soll die Leistung der im Markt befindlichen Kohlekraftwerke auf maximal 9 GW Braun- und 8 GW Steinkohlekapazitäten verringert werden. Das entspricht im Vergleich zu 2017 einem Rückgang von 10,9 GW bei der Braunkohle und 14,7 GW bei der Steinkohle und damit einem Rückgang von 55 % bzw. 65 %. Folglich soll bis zum Jahr 2030 Kohlekraftwerksleistung in Höhe von 25,6 GW abgeschaltet werden. Dies ist mehr als ein Viertel der derzeit vorhandenen Kapazitäten an konventionellen Kraftwerken, zu denen Anlagen auf Basis von Kernenergie, Braunkohle, Steinkohle und Erdgas gerechnet werden und die eine Leistung von insgesamt rund 90 GW aufweisen [9].

Tab. 1: Kapazitäten and Stein- und Braunkohlekraftwerken in Deutschland in Gigawatt (GW) und Kohleausstiegsplan (Quelle: [8, 9])
  2017 2022 Abbau gegen-
über 2017
2030 Abbau gegen-
über 2017
Braunkohle 19,9 GW 15 GW -4,9 GW 9 GW -10,9 GW
Steinkohle 22,7 GW 15 GW -7,7 GW 8 GW 14,7 GW
Summe 42,6 GW 30 GW -12,6 GW 17 GW -25,5 GW

Allerdings ist der Ausstiegsplan für die Kohleverstromung an eine Reihe von energie- und sozialpolitischen Bedingungen geknüpft und soll in den Jahren 2023, 2026 und 2029 überprüft werden [10]. Unter Versorgungssicherheitsgesichtspunkten betrachtet könnte die erste Überprüfung im Jahr 2023 jedoch zu spät erfolgen, denn bis Ende 2022 werden neben der vorgesehenen Abschaltung von 12,6 GW an Kohlekraftwerksleistung zusätzlich rund 8,5 GW an Kernkraftkapazitäten vom Netz gehen.

Somit könnten die konventionellen Kapazitäten bei fehlendem Zubau neuer Kraftwerke bis Ende 2022 auf rund 70 GW schrumpfen. Dann würden zur Deckung der Spitzenlast, die im Winter in Deutschland bei über 80 GW liegt, nicht mehr ausreichend konventionelle Kapazitäten zur Verfügung stehen und man wäre auf Stromimporte, Pumpspeicher, Maßnahmen zur temporären Nachfragereduktion und die in der Netzreserve befindlichen Kraftwerke in stärkerem Maße angewiesen als heute.

Die erneuerbaren Technologien sind in Engpasssituationen hingegen wenig hilfreich: Während der Anteil der gesicherten an der installierten Leistung bei konventionellen Kraftwerken bei rund 90 % liegt, tragen Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen nur in geringem Umfang zur gesicherten Leistung bei [11]. Deren Beiträge zur gesicherten Leistung liegen zwischen 0 % (Photovoltaik) und 5 % (Wind). Da die höchste Last bei der Stromnachfrage typischerweise im Herbst und Winter auftritt, wenn es dunkel ist und die Photovoltaik keinen Beitrag mehr leisten kann, müsste zu solchen Zeiten bei einer Windflaute nahezu die gesamte Last durch Importe und vor allem durch heimische konventionelle Kraftwerke gedeckt werden. Dies trifft nicht selten sogar für ganze Wintertage zu: Beispielsweise mussten konventionelle Kraftwerke am 14.12.2018 über den ganzen Tag gemittelt mehr als 80% der Last decken, Wind und Sonne lieferten nur einen geringen Beitrag zur Lastabdeckung [12].

Vor diesem Hintergrund wird der Bau neuer Gaskraftwerke eine wichtige Option zur Stromerzeugung darstellen. Angesichts eines Realisierungszeitraums neuer Kraftwerke zwischen vier und sieben Jahren ist es jedoch höchst unwahrscheinlich, dass in Planung oder im Genehmigungsverfahren befindliche Projekte bis zum Ausstieg aus der Kernenergienutzung Ende 2022 realisiert werden können. In einer Studie für Greenpeace schätzt Energy Brainpool ([13], S. 1), dass bei einem bereits zum Jahr 2030 erfolgenden Kohleausstieg neue Erdgaskraftwerke mit einer Leistung von über 28 GW gebaut werden müssten, um die Versorgungsicherheit mit Strom nicht zu gefährden, vorausgesetzt die Kapazitäten von Windkraft- und Photovoltaik-Anlagen würden in massiver Weise erhöht. Nach dieser Studie müssten dazu bis zum Jahr 2030 neue Windkraftanlagen mit einer Leistung von 116,7 GW und neue Photovoltaik-Kapazitäten im Umfang von 115,0 GW zugebaut werden. Zum Vergleich: Anfang April 2020 waren insgesamt 59,3 GW Windkraftleistung installiert, davon 6,6 GW Windparks vor den Küsten, und 47,3 GW Photovoltaik-Kapazitäten [9]. In einem Zeitraum von zehn Jahren müssten folglich jeweils mehr als doppelt so viel Windkraft- bzw. Photovoltaikleistungals derzeit installiert, zusätzlich errichtet werden.

Während ein solcher Zubau eine immense Herausforderung darstellen würde, bedeutet dies eine Vervielfachung der Stromerzeugungskapazitäten gegenüber dem Jahr 2000, als das EEG eingeführt wurde und die gesamten Kapazitäten zur Stromerzeugung in Deutschland bei rund 120 GW lagen ([14] S. 29). Die Stromerzeugungskapazitäten könnten nach der Studie von Energy Brainpool im Jahr 2030 bei weit über 300 GW liegen, nach anderen Studien sogar noch deutlich darüber [15]. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 betrug die Stromerzeugungsleistung rund 206,5 GW, davon rund 118,6 GW an regenerative Kapazitäten [9].

Wie der Strommix in Deutschland im Jahr 2050 aussehen könnte, ist in Tab. 2 dargestellt. Gemäß dem bis zum Jahr 2022 zu vollziehenden Kernenergie­ausstieg liegt der Anteil von Atomstrom im Strommix im Jahr 2050 bei null. Dies trifft auch für die Anteile an Kohlestrom zu. Selbst wenn der Kohleausstieg nicht bis zum Jahr 2038 vollzogen würde, ist davon auszugehen, dass aufgrund auslaufender Betriebsgenehmigungen für Braunkohletagebaue, etwa im Jahr 2045 in Nordrhein-Westfalen, sowie aufgrund vermutlich steigender Preise für CO2-Zertifikate die Kohleverstromung bis Mitte des Jahrhunderts aufgegeben wird.

Wenn andererseits die Kohlekapazitäten bis zum Jahr 2030 so verringert würden, wie es von der Kohlekommission vorgeschlagen wurde und in Tab. 1 dargestellt ist, würde dies lediglich zu einem unterproportionalen Rückgang der Stromproduktion aus Kohle führen, da die Produktion der abgeschalteten Kohlekraftwerke teilweise von den noch am Netz befindlichen Kohlekraftwerken übernommen würde. Es wäre folglich ein Irrtum, würde man glauben, dass mit dem Abschalten eines Kohlekraftwerks die zuvor ausgestoßenen Emissionen gänzlich eingespart würden. Vielmehr entstehen die Emissionen an anderer Stelle, etwa in jenen Kohle- und Erdgaskraftwerken, die zu großen Teilen die Stromproduktion des abgeschalteten Kraftwerkes übernehmen.

Damit ein Kohleausausstieg Deutschlands angesichts der Existenz des EU-weiten Emissionshandels überhaupt klimawirksam wird, müssen die durch die Kraftwerksstilllegungen freiwerdenden CO2-Zertifikate im Umfang der dadurch eingesparten Emissionen aus dem nationalen Versteigerungsbudget gelöscht werden. Gemäß der Reform des Europäischen Emissionshandels aus dem Jahr 2018 wird dies den Mitgliedstaaten zukünftig ab dem Jahr 2021 möglich sein. Hierauf weist die Kohlekommission ([8], S. 65) explizit hin. Andernfalls hätte der deutsche Kohleausstieg keinerlei Treibhausgasminderungseffekt.

In Ermangelung ausreichender wirtschaftlicher Speichermöglichkeiten für Strom, welche auch für die kommenden Jahrzehnte nicht in Sicht sind, ist davon auszugehen, dass Erdgaskraftwerke einen großen Teil der Stromnachfrage decken und die Aufgaben der Kohlekraftwerke übernehmen müssen. Daher ist zu erwarten, dass Erdgas neben den Erneuerbaren einen hohen Anteil im Strommix des Jahres 2050 haben wird. Dementsprechend wird der Erdgas-Anteil in Tab. 2 mit rund einem Viertel beziffert und die Stromproduktion auf Erdgasbasis könnte nahezu doppelt so hoch ausfallen wie im Jahr 2017.

Tab. 2: Bruttostromerzeugung in Deutschland in Mrd. kWh nach Energieträgern und Technologien im Jahre 2017 sowie Strommix für das Jahr 2050 Quellen: [1], eigene Schätzung
  Bruttostromerzeugug Anteile an der
Bruttostromerzeugung
2017 2050 2017 2050
Braunkohle 148,4 0,0 22,7 % 0,0 %
Steinkohle 92,9 0,0 14,2 % 0,0 %
Kernenergie 76,3 0,0 11,7% 0,0 %
Erdgas 86,7 178,3 13,3 % 25,5 %
Mineralöl 5,6 0,0 0,9 % 0,0 %
Erneuerbare 216,2 494,2 33,1 % 70,6 %
Sonstige 27,5 27,5 4,1 % 3,9 %
Bruttoerzeugung 653,5 700,0 100,0 % 100,0 %

Weiterhin wurde wie in der Studie von Energy Brainpool ([13], S. 1) unterstellt, dass der Stromverbrauch künftig steigt. Den wachsenden Stromverbrauch zu decken, könnte jedoch wegen der begrenzten Effektivität regenerativer Anlagen zunehmend problematisch werden. Die begrenzte Effektivität der Erneuerbaren ist leicht an ihrem relativ niedrigen Anteil von 33,1 % an der Bruttostromerzeugung im Jahr 2017 erkennbar (Tab. 2): Obwohl die Summe an regenerativen Kapazitäten im Jahr 2017 erstmals die konventionelle Leistung überstieg, trugen die Konventionellen zwei Drittel zur Stromerzeugung bei, die Erneuerbaren lediglich ein Drittel. Wegen der Ineffektivität der Erneuerbaren könnten die Erneuerbaren-Ziele mit Grünstromanteilen von 65 % und 80 % für die Jahre 2030 und 2050 verfehlt werden: Bei einem wie in Tab. 2 dargestellten Ausbau würde der Anteil der Erneuerbaren am Bruttostromverbrauch im Jahr 2050 bei lediglich ca. 70 % liegen, anstatt bei den angepeilten 80 %.

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