Zur Rolle quantitativer Ziele in der Energiepolitik

Für ein grundsätzliches „Weiter so“ sprechen interessanterweise auch die Vereinbarungen des Koalitionsvertrages, auf den sich CDU/CSU und SPD am 7.2.2018 verständigt haben [7]. Dort wird angekündigt, den am 14.11.2016 verabschiedeten Klimaschutzplan umzusetzen [8]. Nun greift der Klimaschutzplan auf die gleiche „Grundmelodie“ zurück, die schon beim Energiekonzept zum Einsatz kam, nämlich eine Steuerung der Energieversorgung durch politisch gesetzte quantitative Vorgaben und durch Gesetze. So findet man im Klimaschutzplan neue quantitative Ziele (Treibhausgasobergrenzen für die Sektoren Energiewirtschaft, Gebäude, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft) und es wird angekündigt, dem bereits bestehenden Gesetzeswerk ein weiteres Gesetz hinzuzufügen. Damit soll sichergestellt werden, dass die Klimaziele 2030 eingehalten werden.

Das sind die Planungen. Allerdings kann man Zweifel an diesem Kurs bekommen, wenn man sich die Ergebnisse der Politik in den letzten Jahren noch einmal vor Augen führt und prüft, ob der alte programmatische Ansatz wirklich noch zu den gesamtwirtschaftlichen, energiewirtschaftlichen und technologischen Perspektiven Deutschlands im Jahr 2018 passt. Dazu möchte ich dem Leser drei Überlegungen anbieten:

1. Wer quantitative Ziele für ein geniales Instrument in der Politik hält, sei an die Ermahnung von Winston Churchill erinnert „However beautiful the strategy, you should occasionnaly look at the results“. Die Ergebnisse belegen, dass wichtige Ziele des Energiekonzepts für 2020 verfehlt werden (siehe dazu exemplarisch die Angaben in Tab. 2). Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel für eine Fehleinschätzung im Energiekonzept ist die Vorgabe von 1 Mio. Elektrofahrzeugen in 2020. Fachleute haben dieses Ziel schon damals mit einer Mischung von Schmunzeln und Kopfschütteln zur Kenntnis genommen. Aber erst heute kann man das ganze Ausmaß des Irrtums erkennen [9].

Ganz offensichtlich ist die Bundesregierung – auch mit dem in den letzten Jahren stark ausgebauten „Apparat“ – nicht in der Lage, ihre Versprechungen auch nur halbwegs zu erfüllen. Lediglich bei den erneuerbaren Energien, die in den Genuss einer finanziellen Förderung durch das EEG kommen, deuten die aktuellen Daten darauf hin, dass die gesteckten Ziele für 2020 erreicht werden.

2. Die ambitionierten energiepolitischen Ziele des Energiekonzepts mögen zur Inszenierung der Laufzeitverlängerung der Kernenergie in 2010 opportun und hilfreich gewesen sein.  Heute sind viele dieser Ziele entbehrlich. Genau genommen stellt sich sogar die Grundsatzfrage, ob quantitative Vorgaben der Politik zur künftigen Struktur der Energieversorgung in Zeiten des sich gewaltig beschleunigenden Wandels überhaupt sinnvoll sind. Allzu visionäre energiewirtschaftliche Vorstellungen führen immer wieder zu Enttäuschungen. Das Ergebnis sind ständige Glaubwürdigkeitsdebatten und in deren Folge ein Zwang, die Ziele früher oder später zu justieren. Politiker lieben solche Anpassungen nicht. Sie fürchten, dass sie als eine Art Schummelei aufgefasst werden und gehen auf Distanz. So kann man durchaus bezweifeln, ob man noch einmal Verantwortliche findet, die bereit sind, ihren Kopf für offensichtliche „Mondziele“ herzuhalten. Das hin und her bei den politischen Vorgaben führt natürlich auch zu Irritationen, wie die mehrfach veränderten Ziele der Bundesregierung zur Entwicklung des Stromverbrauchs beispielhaft belegen [10]. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen kann es durchaus sein, dass man in Zukunft doch noch einmal zu dem Verständnis kommt, dass ein flexibler Ansatz in der Politik einem Konzept überlegen ist, dass vor allem darauf setzt, eine einmal beschlossene Wende auf Biegen und Brechen durchzusetzen [11].

3. Schließlich ist zu beachten, dass eine Politik, die mit quantitativen Vorgaben für einzelne Teilbereiche des Energiesystems arbeitet, dazu neigt, den Blick auf das Ganze und die naturgemäß komplexen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Teilsystemen zu verlieren. Kenneth E. Boulding, ein bekannter US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, hat diesen Aspekt einmal mit den warnenden Worten beschrieben: „The name of the devil is suboptimization“. Was gesamtwirtschaftlich zweifelhaft ist, wird selten lange Bestand haben.

Tab. 2: Quantitative Ziele des Energiekonzepts 2010

 Vorgabe 2020Zwischenstand 2017
Treibhausgasemissionen- 40 %- 28 %
Primärenergieverbrauch- 20 %- 6 %
Stromverbrauch- 10 %- 3 %
Endenergieverbrauch Verkehr- 10 %+ 7 %

Die nächste Etappe der Energiewende: Bestandsaufnahme 

Man macht vermutlich keinen großen Fehler, wenn man davon ausgeht, dass die politische Debatte der kommenden Monate von den Beratungen der Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ bestimmt wird [12]. Die Bundesregierung hat diese Kommission am 6.6.2018 eingesetzt und mit der Aufgabe betraut, einen Plan zur schrittweisen Reduzierung und Beendigung der Kohleverstromung zu erarbeiten, übrigens – im Sinne von Kenneth E. Boulding – ganz offensichtlich ein Auftrag zur Lösung eines Teilproblems für die künftige Energieversorgung. Vielleicht sind die Mitglieder der Kommission aber auch so souverän, sich einmal zusammenfassend zum heutigen Stand der Energiepolitik in Deutschland zu äußern. Damit könnte sie den Weg zu einer kritischen Bestandsaufnahme öffnen, vielleicht auch mit ersten Überlegungen zur Vereinfachung der Politik, einer stärkeren europäischen Ausrichtung (mit weniger Zielen und einer besseren Verständigung auf gemeinsame Maßnahmen), einer Rückbesinnung auf marktwirtschaftliche Elemente, neuen Akzenten auf dem Feld der Energieeinsparung [13] und vor allem Maßnahmen zu einer stärkeren Verantwortung der Zivilgesellschaft.

Eine solche Bestandsaufnahme könnte vor allem für jüngere Politiker, die bisher wenig mit dem Energiekonzept und seinen vollmundigen Versprechungen zu tun gehabt haben, ein Anreiz sein, Verantwortung zu übernehmen und sich für eine Neuausrichtung der Energiepolitik in Deutschland und Europa einzusetzen. Die Hoffnung auf einen Generationenwechsel ist heute der vielleicht aussichtsreichste Weg, den begonnen Umbau der Energieversorgung zum Erfolg zu führen. Eine Neuausrichtung würde sich übrigens gut in die bisherige Energiegeschichte Deutschlands einfügen.

Ein Rückblick zeigt, dass die Bundesregierung im Schnitt alle zehn Jahre ihre Energiepolitik grundlegend verändert hat [14]. Das Jahr 2020 wäre insofern der richtige Meilenstein für ein neues energiepolitisches Gesamtkonzept. Damit bliebe ausreichend Zeit, aus dem „langen Schatten des Energiekonzepts 2010“ mit seiner unseligen Verbindung zur Kernenergie herauszutreten und entsprechende Vorarbeiten für einen Neuanfang auf den Weg zu bringen. Deutschland sieht sich in der Welt gerne als Vorbild für eine zukunftsfähige Energiepolitik und so kann man fragen: Wenn Deutschland es nicht schafft, Fehleinschätzungen einzugestehen, daraus zu lernen und seine Politik an die neuen Daten und Fakten anzupassen, wer dann?

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