Umfassende Betrachtung notwendig

Wasserstoff: Abb. 2 Umwelt- und Klimaschutz, Wertung H1 2020 und H2 2020

Abb. 2 Umwelt- und Klimaschutz, Wertung H1 2020 und H2 2020 (Quelle: Agora Energiewende; AG Energiebilanzen; BMWi; Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW); Umweltbundesamt (UBA); Kraftfahrt-Bundesamt)

Was braucht es neben dem Infrastrukturausbau noch, um Wasserstoff breitflächig zum Durchbruch zu verhelfen? Welche EE-Erzeugungsmengen sind erforderlich, wie entwickelt sich der Verbrauch und mit welchen Kosten geht die Wasserstoffproduktion einher? Diese Fragen zu beantworten, erfordert eine ganzheitliche Betrachtung:

Die Kosten bilden eine der größten Hürden auf dem Erfolgsweg von grünem Wasserstoff als Energieträger. Aktuell ist Wasserstoff aus Erneuerbaren noch nicht wettbewerbsfähig gegenüber solchem aus fossiler Produktion: Die Kosten für grünen Wasserstoff liegen drei- bis viermal höher als etwa für grauen Wasserstoff, der mithilfe von Erdgas hergestellt wird. Ohne weitere Kostensenkung wäre ein CO2-Preis von über 200 €/t erforderlich, um das derzeitige Kostengefälle zwischen beiden Wasserstofferzeugungen zu egalisieren. Derzeit steht der CO2-Preis bei rund 33 €/t.

Das heißt konkret: Der Stoff, aus dem die Energieträume sind, muss wesentlich günstiger werden. Und das kann er auch. McKinsey-Analysen ergeben, dass sich die Herstellungskosten von grünem Wasserstoff noch in diesem Jahrzehnt um 60 % reduzieren lassen – hauptsächlich durch sinkende Investitionskosten für Elektrolyseanlagen (infolge von Skaleneffekten bei der Herstellung und voranschreitender Kommerzialisierung) bei gleichzeitiger Steigerung der Effizienz sowie durch weiter verringerte Stromerzeugungskosten im EE-Bereich. Sollte sich allerdings der Elektrolyseanlagen-Ausbau nicht wie erwartet beschleunigen, stehen auch die Kostendegressionen in Frage.

Weitere zwingende Voraussetzung, um grünen Wasserstoff auf breiter Ebene marktfähig zu machen, ist ein signifikanter Ausbau der erneuerbaren Erzeugungskapazität. Denn Wasserstoffproduktion ist äußerst energieintensiv – neben den (noch) hohen Kosten die zweite große Herausforderung beim Ausbau dieser Technologie. Dadurch könnte die Stromnachfrage, einhergehend mit dem steigenden Bedarf in der E-Mobilität und weiterer Elektrifizierung, in den nächsten Jahren wesentlich höher ausfallen als bislang erwartet.

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die EE-Ausbaupfade der Bundesregierung zu wenig ambitioniert sind: Der für 2030 geschätzte jährliche Bruttostromverbrauch liegt bei 580 TWh und damit exakt auf dem Niveau von 2019. Tatsächlich wird nach Schätzungen des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln allein die Herstellung von Wasserstoff sowie die Elektrifizierung des Verkehrssektors in zehn Jahren zusätzlich ca. 120 TWh pro Jahr verschlingen – das entspricht einer Steigerung um mehr als 21 %.

Nach McKinsey-Schätzungen könnte der Bruttostromverbrauch im Jahr 2030 (getrieben durch die Elektrifizierung im Verkehr und bei der Wärmeversorgung) 677 TWh betragen – ohne Berücksichtigung der zusätzlichen Wasserstoffnachfrage. Der Bundesverband Erneuerbare Energie e.V. beziffert den Strombedarf für 2030 auf 740 TWh (plus 28 % gegenüber 2019), wobei Wasserstoffproduktion und Elektromobilität mit 105 bzw. 68 TWh den größten Anteil am zusätzlichen Verbrauch haben. Um diesen Bedarf zu decken und gleichzeitig einen EE-Anteil von 65 % zu erreichen, müssten Wind- und Solaranlagen 240 TWh mehr erzeugen als heute – fast doppelt so viel wie von der Bundesregierung aktuell geschätzt.

Eine derart rapide Beschleunigung des EE-Ausbaus erscheint jedoch unrealistisch. Allein der jährliche Zubau von Windkraftanlagen an Land müsste auf über 5 GW gesteigert werden – eine Illusion, wenn man auf die jüngere Vergangenheit blickt: 2020 wurden Onshore-Anlagen mit einer Leistung von annähernd 1,5 GW installiert. Die Erzeugungskapazität von Solar- und Offshore-Windanlagen müsste in gleichem Maße aufgestockt werden. Schon die Bereitstellung der hierfür notwendigen Flächen dürfte Deutschland vor massive Herausforderungen stellen, wie bereits die Diskussion um die Abstandsregeln für Windkraftanlagen gezeigt hat.

Hinzu kommt, dass mit steigender Erzeugung auch die Netzausbaupläne nach oben korrigiert werden müssten (oder alternativ die dezentrale Wasserstoffproduktion mit entsprechendem Ausbau der Gasinfrastruktur zu forcieren wäre). Dabei ist Deutschland schon bei den aktuellen Netzausbauzielen massiv im Verzug: Von den bis Mitte 2020 geplanten 3.657 km sind erst 1.505 km fertiggestellt.

Konzept aus einem Guss gefragt

Die beschriebenen Herausforderungen machen deutlich: Die Umsetzung der deutschen Wasserstoffstrategie gerät zum Kraftakt. Denn noch fehlt es an wichtigen Weichenstellungen, wie die unterschiedlichen Vorstellungen von Energieversorgern, Strom- und Gasnetzbetreibern, Automobilkonzernen und Schwerindustrie belegen. Ein Konzept aus einem Guss, das die Industrie- und Energiestrategie eng verzahnt und die Handlungsfelder Erzeugung, Transport und Abnahme zusammenführt, würde die Wasserstoffpläne aus der Traumwelt in die Realität führen.

Eine gesamthafte Wasserstoffstrategie sollte Antworten auf folgende Kernfragen geben – jeweils unterlegt mit einem quantitativen Mengengerüst, auch wenn es sich dabei natürlich um Schätzungen handelt:

  • In welcher Sequenz werden Industrien auf Wasserstoff umstellen und welche regulatorischen Maßnahmen müssen diese Umstellung flankieren, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und bestenfalls zu stärken?
  • Wann ist mit welchem Wasserstoffbedarf zu rechnen?
  • Wie viel Elektrolyse- und EE-Kapazität ist erforderlich? Welche Wasserstoffmengen können in Deutschland produziert werden und wie viel Importe sind nötig?
  • Welche Wasserstoff- und Stromnetzinfrastruktur ist aufzubauen?
  • Inwieweit müssen die EE- und Netzausbauziele angepasst werden?
  • Wie lässt sich das deutsche Wasserstoffkonzept europäisch einbetten?

Bei der Beantwortung dieser Fragen wäre es ratsam, die Betrachtung nicht nur auf grünen Wasserstoff zu begrenzen, sondern auch blauen einzubeziehen. Während die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung als klares Bekenntnis zu grünem Wasserstoff gelesen werden kann, werben manche Wissenschaftler und Industrievertreter für die blaue Variante. Das Oxford Institute for Energy Studies zum Beispiel argumentiert, dass grüner Strom erst einmal den Stromsektor vollständig dekarbonisieren sollte, bevor Strommengen für die Produktion von grünem Wasserstoff genutzt werden.

Sicher ist: Bis Wasserstoff sich als Energieträger der Zukunft sektorübergreifend durchsetzen wird, sind noch viele Hürden zu überwinden. Und es ist nicht auszuschließen, dass so mancher Versuch, der Technologie zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen, erneut hinter den Erwartungen zurückbleibt. Aber auf Dauer führt kein Weg am Wasserstoff vorbei, wenn die Energiewende vollständig gelingen soll.

Energiewende-Index: Die Indikatoren im Überblick

Die neuesten Ergebnisse im Energiewende-Index warten zunächst mit einer handfesten Überraschung auf: Zehn der insgesamt 15 Indikatoren sind in ihrer Zielerreichung „realistisch“, zwei mehr als bei der letzten Erhebung. Eine so positive Bilanz konnte der Index seit seinem Bestehen nicht verzeichnen. Doch der erste Blick trügt. Tatsächlich stehen sechs aktuell als realistisch eingestufte Indikatoren auf der Kippe – in der vergangenen Erhebung waren es nur drei.

Wesentliche Ursache für das temporäre Hoch einiger Indikatoren ist das Coronajahr 2020 – das gilt insbesondere für den CO2-Ausstoß und den Primärenergieverbrauch. Haupttreiber der Verbesserung im vergangenen Halbjahr waren nicht echte Fortschritte bei der Umsetzung der Energiewende, sondern die Effekte der Maßnahmen zur Bekämpfung von COVID-19. Es ist davon auszugehen, dass diese Erfolge mit dem Ende der Pandemie und dem erneuten Hochfahren der Wirtschaft teilweise oder vollständig wieder zurückgedreht werden.

Vier Indikatoren mit stabil realistischer Zielerreichung

Der EE-Anteil am Bruttostromverbrauch lag im zweiten Halbjahr 2020 nach vorläufigen Schätzungen des Umweltbundesamts bei 46 % und damit deutlich über dem Zielwert von 35 % (Abb. 2). Allerdings liegt die Zielerreichung aufgrund der weniger günstigen Witterungsverhältnisse mit 161 % niedriger als noch in der ersten Jahreshälfte 2020 (191 %).

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